Wegweiser durchs wichtige Werk

Siegmund von Hausegger selbst hat den programmatischen Inhalt des Barbarossa 1905 in eine erheblich gedrängtere Form gebracht, die nachfolgend – im ersten Satz um einige Zeitmarken vermehrt – wiedergegeben sei:
 

 

»I. Die Not des Volkes. – Einleitung: das deutsche Volk. – Schneller Satz: Hauptthema, dessen erster Teil ([1] 5’14) die Bedrängnis durch den Feind, und dessen zweiter Teil (5’37) kraftbewußten Trotz ausdrückt. – Zarter Seitensatz: Sehnsucht nach Befreiung und Frieden (6’49). – Durchführungssatz (9’08): Verzweifeltes Ringen um die Freiheit; im Höhepunkte, nach großer Steigerung, pp das Barbarossa-Thema (11’05). – Reprise (12’07): Erneuter Ansturm des Feindes; Seitensatz mit dem Ausdruck wildester Verzweiflung (13’10); Zusammenbruch.

II. Der Zauberberg. – Einleitung: im Scherzo-Charakter: Gespenstisches Nebeltreiben um die Abhänge des Untersberges – phantastischer Spuk geleitet in das Innere des Berges. – Langsamer Satz: Hauptteil: Es zeigt sich dem Wanderer ein wundersames Bild von alter deutscher Herrlichkeit; Barbarossa und seine Getreuen, in tiefem Schlafe versunken. – Seitensatz: Zurückversetzt in die Märchenwelt seiner Kindertage, beginnt ihm vor diesem Anblicke die Erkenntnis Dessen zu dämmern, der allein dem Volke zu helfen vermag. Aber der Sehnsuchtruf nach Befreiung durch den schlafenden Kaiser verhallt ungehört – noch fliegen die Raben um den Berg. – Wiederholung des Scherzo’s; wieder auftauchende Nebel verhüllen allmählich das Bild.

III. Das Erwachen. – Einleitung: Wiederkehr in die düstere Wirklichkeit; ein Aufschrei grimmigster Empörung. Die Erkenntnis deutschen Wesens, wie sie der Anblick des Heldenkaisers offenbarte, macht nun das Volk der Befreiung wert. Aus der Tiefe des Berges ertönen geheimnisvolle Trompetentöne, die immer mächtiger anwachsen. Donnernd bersten die Felsen. Barbarossa ist erwacht, und zieht mit den Seinen in den Kampf. – Schneller Satz: Die Schlacht; Marschthema, das Schlachtengetümmel charakterisierend; endlicher Sieg, als Thema des deutschen Volkes. – Mittelsatz: Barbarossa durchzieht als Friedensfürst die Lande. – Reprise: Das Marschthema als Ausdruck der Siegesfreude. – Abschluß: Wiederholung des ganzen ersten Teiles der Einleitung des ersten Satzes.«

Wenn wir Siegmund von Hauseggers Barbarossa durch die drei geschickt miteinander verknüpften Tableaux begleiten, werden wir bemerken, daß die Menge bildhafter und musikalischer Assoziationen desto vergnüglicher wird, je weiter wir das Handlungsgerüst seiner – nun ja, sag ich’s mal: »völkischen« Ornamente entkleiden. Dann können wir unsern Blick frei über die Partitur hinaus ins Weite schweifen lassen und entdecken viele gute Bekannte, die, traulich versammelt, vom Wegesrand herüber grüßen. Aus dem Urnebel lugt nicht nur Anton Bruckners Romantische hervor, sondern auch der Anfang der Karelia-Suite; der große Bogen bis zum ersten fortissimo (1’23) wird mit Zarathustras Zirkel geschlagen; zwischendurch mengen sich Franz Liszts Ideale und Mazeppa ins Geschehen; die geisterhaften Raben – sie umkreisen bei Hausegger übrigens nicht den thüringischen Kyffhäuser, sondern den salzburgischen Untersberg – könnten von der Walpurgisnacht aus Raffs Frühlingssymphonie herbeigeflattert, wenn nicht gar unter Nikolaj Rimskij-Korssakoffs Vollbart ausgebrütet worden sein; und die Musik, zu der der Retter im Finale ausreitet wie der junge Roger Moore einst in der Rolle des Ivanhoe, führt uns aus ritterlichen Vergangenheiten in die unmittelbare Gegenwart: Einerseits sind ungezählte Bataillone unter ganz ähnlichen Klängen über Opernbühnen und Konzertpodien defiliert (ich erinnere nur an Raffs Lenore), andererseits rührt sich in mir der begründete Verdacht, es könnten sich im Laufe der tönenden Scharmützel einige Partikel des Barbarossa in Gustav Mahlers sechste Symphonie verloren haben – genauer gesagt, ins Finale des kolossalen Werkes, wo’s genauso marschiert wie in der Not des Volkes (4’35 und 12’07) und im Erwachen, das zudem mit seinen grellen Flötentrillerketten und grotesken Einwürfen dem Meister des motivischen Zettelkastens [9] etwas Stoff geliefert haben könnte, wobei sich vice versa bei Hausegger durchaus einige frühere »Mahleriana« aufspüren lassen – die nostalgische Pendelfigur in der Einleitung des ersten Satzes etwa ([1] 3’00), aus der sich nach zwölf Takten (3’34) die »notleidenden« Terzen der zwei Fagotte herauslösen, oder die schön blasenden Klarinetten und Oboen im Finale ([3] 9’50) …

Wir sehen, daß die allmähliche Reduktion der Bedeutungen sogar in einem Kunstwerke, das so »bedeutend« sein wollte wie Hauseggers Barbarossa, die kompositorische Substanz – denn diese ist zweifellos vorhanden – immer freier zur Geltung kommen ließe, gäbe es da nicht in diesem Universum den generellen Drang, das Einfache oder Naive nach und nach so sehr zu überfrachten, bis es schließlich unter unentwirrbaren Komplexitäten zusammenbricht. Einige Jahre nach der umjubelten Premiere und nach mannigfachen in- und ausländischen Aufführungen mehren sich die ablehnenden Kritikerstimmen. In den Signalen für die musikalische Welt lästert Siegmund Pisling, als Richard Strauss das Werk seines Kollegen in Berlin dirigiert hat, es erwarte wohl niemand »von unversippschafteten, halbwegs modern gerichteten Berufsbeurteilern, von Männern also, die selbst in Wagner’s unsterblichem Genius nicht mehr den Künder der modernen Seele mit ihrer unsäglichen Verwickeltheit und Vieldeutigkeit erblicken […], dass sie im Jahre des Heils 1916 verstehende Wärme für eine Musik aufbringen, die im Kielwasser der Wagnerarmada einhersegelt«.

Ein Jahr danach mault jemand im selben Blatte nach einer Kieler Aufführung: In Hausegger »gärt und tobt es – vor 17 Jahre wenigstens, als er noch nach neuen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten suchte. Das Werk ist seinerzeit sehr gelobt worden, heute ist es fast vergessen, und Hausegger selbst wird wohl nicht mehr glauben, dass er damals auf dem richtigen Wege gewesen ist. – Die Welt, müde von Sturm und Drang, will wieder Zuckerbrot, und Peitschenhiebe lässt es sich nur von einem ganz Grossen gefallen«. zurück voran