Die Majestät zieht ihre Kreise

Das Resultat läßt sich hören. Am 21. März 1900 wird die neue »Symphonie« mit den Sätzen Die Not des Volkes, Der Zauberberg und Das Erwachen in München aus der Taufe gehoben. Es spielt das Münchner Kaim-Orchester unter der Leitung des Komponisten. Die Resonanz ist über die Maßen beeindruckend, denn Hausegger ist, wie die Münchner Neuesten Nachrichten befinden, »ein Musiker, bei dem ein überaus reiches Phantasieleben stets auf dem Untergrunde starken und wahren Empfindens sich entfaltet. Dabei hat sein Schaffen einen Zug ins Große; in ihm lebt und webt ein gewaltiges, innerliches Singen und ein nach Freiheit dürstender Sinn. Dies verleiht seinen sich meist in weitem Bogen schwingenden Themen und Melodien einen dithyrambischen Charakter. Hausegger hat in seinem dreisätzigen Werke darnach gestrebt, das epische Element mit dem dramatischen zu verbinden. Seine Tonsätze wollen beides sein: Zustandsschilderungen und Glieder einer sich steigernden Entwicklung. Im wesentlichen ist ihm dies gelungen. Der Hauptvorwurf, der seinem Werke gemacht werden muß, ist der, daß es einen Ueberreichthum an Gestaltungen bringt. Durch das Wirken der letzten großen Meister ist der Musik gleichsam die Zunge gelöst worden; es ist in ihr ein lyrisch-hymnisches Element zum Durchbruche gekommen, das jüngere Tonsetzer oft nur allzu verführerisch umfängt. Dem gegenüber kann nur die bestimmt erschaute dichterische Gestalt ein Gegengewicht bieten. Wo dies nun bei Hausegger ersichtlich der Fall ist, wie in dem orchestral berauschend wirkenden Tonbilde des ›Zauberberges‹, ist auch die Plastik der Themen von besonderer Geschlossenheit. Erstaunliches bietet Hausegger in seiner nie gekünstelten, sondern organisch sich erhebenden Orchesterpolyphonie und einem nahezu unerschöpflichen Reichthume an eigenthümlichen Instrumentationseffecten. In Summa: er hat wiederum gezeigt, daß er in der ersten Reihe der jüngeren Componisten steht und man von ihm Leistungen von bleibender Bedeutung erwarten darf. Von den Hörern wurde er durch reichen Beifall ausgezeichnet.«

Das Grazer Tagblatt läßt seine Leser in gewohnter Weise an diesem Erfolg teilhaben und berichtet am Jahresende ebenso getreulich von dem Sieg, den Barbarossa und sein Schöpfer am 3. Dezember in der Berliner Philharmonie erringen: »Hausegger besitzt eine musikalisch-dichterische Anschauung von bedeutender Kraft, er weiß ausdrucksvolle Melodien mit langem Athem zu spinnen, er weiß Stimmungen der verschiedensten Art zu erzeugen, kurzum er ist ein ganzer Künstler, der etwas zu sagen hat und der viel kann. Manchmal geht er, wenn sich seine Begeisterung in edlem Pathos entlädt, ein wenig zu sehr in die Breite. Das ist das übervolle Herz der Jugend, er sei drum nicht gescholten! Mit seinem Ruck hat Hausegger sich durch dieses Werk in die vorderste Reihe derjenigen Orchestercomponisten gestellt, die aufmerksamstes Interesse verdienen. Hoffentlich hören wir bald wieder von ihm,« zitiert man an der Mur den Local-Anzeiger von der Spree.


In Windeseile zieht Barbarossa, flankiert von einer ausführlichen Deutung aus der Feder Oscar Noës, seine Kreise. Dillinger’s Reisezeitung vom 10. November 1901 meldet, daß das Werk während der aktuellen Saison »in Berlin, Hamburg und Leipzig unter Arthur Nikisch’ Leitung, in Frankfurt unter der Direction des Componisten, in Hamburg in den Concerten der Gesellschaft der Musikfreunde unter Max Fiedler’s Leitung und außerdem in Wiesbaden, Magdeburg, Köln, Düsseldorf, Stuttgart und New-York zur Aufführung kommen« wird. Zwei Wochen drauf erfahren wir (im Grazer Tagblatt natürlich) von dem »gewaltigen Eindruck« der Mannheimer Premiere, und bei dem »Novitätenconcert« des Wiener Concertvereins vom 25. Jänner 1902 gelingt Hausegger auch in der Donaumetropole ein spektakulärer Coup: Nachdem Franz Schmidt zunächst seine (mit dem Beethovenpreis ausgezeichnete) erste Symphonie und Ferdinand Loewe mit dem Solisten Arrigo Serato das Violinkonzert A-dur von Leone Sinigaglia uraufgeführt hat, stürmt Barbarossa seinem nächsten Triumph entgegen. Die Presse reagiert vorwiegend anerkennend. Reichspost, Neue Freie Presse und Das Vaterland sind sich prinzipiell einig über die bedeutende Leistung des Komponisten und Dirigenten, preisen das »mit dem üblichen modernen Orchester-Aufwande herrlich gearbeitete dramatische Tongemälde«, die »Kühnheit des Zugreifens« und die »Idealität des Zieles«, wohingegen der Mitarbeiter des Neuen Wiener Tagblattes sein persönliches Mißbehagen hinter dem generalisierenden »man« versteckt und mit erheblichem Zynismus garniert: »Herr Oscar Noë, der Commentator des jungen Componisten, belehrt uns darüber, daß der erste Satz […] ein Bild der Noth und des Kampfes gibt, in dem das deutsche Volk zur Zeit des Interregnum sich befand, daß der zweite Satz […] von der in das Zauberreich flüchtenden gequälten Seele handelt, die vor dem hehren Bilde des Erretters einen seligen Traum träumt, und daß der letzte Satz […] die Befreiung des deutschen Volkes aus dumpfer Bedrückung bedeutet. Mit dem letzten Accord der wunderlichen Tondichtung waren auch wir befreit von einem alle Nerven erschütternden Getöse, das der begeisterte Herr Noë einen ›Hochgesang auf das deutsche Volk‹ nennt. Gut, daß ›Barbarossa‹ zum Schluß erst seine Heldenthaten verübte. Man wäre sonst auf die übrigen Novitäten nicht mehr neugierig gewesen.«

Gewisse Naturen schurren sich nun mal gern am Enthusiasten, vor allem, wenn der’s einem so leicht macht wie Noë, der weit über die gefährliche Grenze hinausschießt, vor deren Überschreitung Vater Hausegger noch wenige Jahre früher so dringlich gewarnt hatte: »Tönen die Bedeutung von Sprachzeichen zu verleihen« und dadurch die Aufnahmefähigkeit des Publikums von vornherein in Ketten zu legen, mit anderen Worten, den Hörenden vorzuschreiben, was sie wo, wie und warum zu empfinden haben – das zieht die ästhetischen Wellen herunter ins Gedankenfach, nimmt ihnen ihre wesensmäßige Wirksamkeit und vermindert so die Erlebnismöglichkeiten in ganz derselben Weise, wie die leidig-unausrottbare Disziplin der Gedichtinterpretation jede echte poetische Begegnung erledigt. zurück voran