Glühende Nach(t)gedanken

»Deutsch sein« heißt längst nicht mehr: »eine Sache um ihrer selbst willen tun«. Es heißt, wie das Otto Ernst 1921 in seinem Hermannsland den Hamburgischen Senator Dr. Hachmeister sagen läßt, »der geraden Linie zu mißtrauen und den Abweg zu suchen; deutsch ist es, das Einfache zu beargwöhnen und das Verwickelte und Verworrene zu bestaunen. Der Deutsche will von jedem Ding die Kehrseite sehen; das ist hübsch von ihm; aber dann vergafft er sich so gründlich in die Kehrseite, daß er sie für die allein richtige hält, und wär’s auch die Kehrseite eines Rembrandtschen Gemäldes. Es ist gut und recht, im Walde auch die Abwege aufzusuchen; aber der Deutsche ist in seinem Gewissen nicht eher befriedigt, als er bis zum Halse in jedem Sumpf gesteckt hat«.

Da hat Siegmund von Hausegger die großen Formate längst aufgegeben. Das hoffnungsvolle Bekenntnis der Natursymphonie ist zehn, die nostalgisch beglückenden Aufklänge über »Schlaf, Kindchen, schlaf« sind vier Jahre alt. Gerade werden Drei Lieder nach altdeutschen Dichtungen fertig: Mit Reisesegen, Bienensegen und Tanzliedchen träumt sich der einstige Himmelstürmer weit ins verklärte Reich der alten Kaiser zurück, in den Drei Gesängen nach mittelhochdeutschen Dichtungen für eine Frauenstimme, Bratsche und Klavier wird er zwischen 1923 und 1927 als Minnesänger gegen das völlige Verstummen anschreiben. Auch der Morgensegen für Chor, Tenor, Orchester und Orgel, mit dem er sich 1925 noch einmal zu großer Besetzung aufrafft, verwandelt einen mittelalterlichen Text in Musik: Träume sind das von lichterfüllten Vergangenheiten, die es so zwar nie gegeben hat, die aber doch wirklicher sind als die Gegenwart, in der man alles begründen, zergliedern, vor der Kritik rechtfertigen muß; in der es wahren Enthusiasmus nicht mehr gibt, weil man auf dem Wege, die Götter abzuschaffen, mittlerweile erhebliche Fortschritt gemacht hat; und in der sich der Lächerlichkeit preisgibt, wer dennoch das sturmzerschlissene Fähnlein alter Ideale aufzuziehen wagt …

Karikatur von Eduard Grützner


Man habe Hausegger einmal, schreibt Heinrich Kaminskis Schüler Heinz Schubert 1930 in Die Musik, als den »Dirigenten mit der rechteckigen Seele« bezeichnet, »ohne ihm damit irgendwie Unrecht tun zu wollen; vielmehr soll mit diesem Bild die starke Bewußtseinsbetonung seines Schöpfertums ausgedruckt werden. Das tiefste seelische Ausschwingen ist bei Hausegger stets von einem höheren, ordnenden Prinzip bewußt geleitet; es wird in Bahnen gehalten, die ihm eine prägnant-scharfe, eben fast ›eckige‹ Formung geben, ohne es sklavisch zu hemmen«. Das entspricht, was den Mann am Pulte angeht, durchaus den Beschreibungen der Zeitgenossen, und gilt auch insofern für den Komponisten, als noch jede Inspiration der intellektuellen Nachbearbeitung bedarf, wenn sie sich in einem dauerhaften Kunstwerk niederschlagen will. Nicht zu leugnen ist schließlich, daß es im Barbarossa und mehr noch im weitaus kompakteren Wieland einige Passagen gibt, in denen das außermusikalische Vorhaben die klingenden Geschehnisse überlagert. Doch diese sind kurz und können nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir es mit einem ungemein wahrnehmungsfähigen, sensiblen und verletzlichen Wesen zu tun haben, das sich durch Selbstdisziplin nicht allein vor kreativen Ausschweifungen bewahrt, sondern damit zugleich auch versucht, sich vor den Anwürfen der Kritik zu schützen.

Womöglich läßt sich damit auch begründen, warum Siegmund von Hausegger in praktisch all seinen Kreationen des (disziplinierenden) Wortes bedurfte – ob es sich dabei um ein Libretto, einen programmatischen Leitfaden oder den Text für Lieder und Gesänge handelte. Viel Schmeichelhaftes hat man seinerzeit über die symphonischen Chorwerke von Schmied Schmerz und dem Neuweinlied (1897/98) nach Otto Julius Bierbaum bis zum Sonnenaufgang nach Gottfried Keller und die Weihe der Nacht (1908) nach Friedrich Hebbel gesagt, und die Drei Hymnen an die Nacht für Bariton und Orchester gehörten für manche Beobachter zum Besten, was der Komponist bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr geschrieben hatte. Begreiflicherweise, denn gerade in diesen drei Gesängen auf Gedichte von Gottfried Keller fügen sich die Tugenden und Eigenarten ihres Schöpfers zu einem Gesamtbild, in dem die vertikalen Schichten und horizontalen Abfolgen ein harmonisches Ganzes bilden: eine Tondichtung in drei Sätzen von der eher träumerischen Einleitung (»Stille der Nacht«) über die dramatisch aufschäumende, komplexe Szene »Unruhe der Nacht« bis zum feierlich-versöhnlichen Finale »Unter Sternen«.

Die Mittel, die er zu diesem Ende verwendet, sind typischer Hausegger. Eigenwillige melodische Flexionen (die man mitunter eher von Ferruccio Busoni erwarten würde), sehr besondere Modulationen und Tonartenbeziehungen sowie die gekonnte, stimmungsvolle orchestrale Kolorierung sind Emanationen eines Charakters von höchstem Begeisterungsvermögen: Die musikalische Wölbung des Firmaments von H-dur zu Beginn der »Stille« bis zum H-dur am Ende der ersten Strophe (»die spielend sich im Weltraum wiegt«) ist ein einziger großer Atemzug andächtigen Staunens; die fff-Detonationen beim »klingenden Spiel« des Gewitters inmitten der unruhigen Nacht könnten selbst den rasenden King Lear von seinem Wahnsinn kurieren; und wenn sich am Ende des Zyklus die hymnischen Blechbläser nach »jubelnden Gebeten« in der Sternennacht auflösen, ist das Etappenziel einer »kosmischen« Wanderung erreicht. Danach mußte die Natursymphonie kommen.

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Siegmund von Hausegger hat die beiden ersten Gottfried Keller-Gedichte 1901 vertont. Im nächsten Jahr hat Felix von Weingartner, sein Chef beim Kaim-Orchester, genau dasselbe getan. Sein zweiteiliges Opus 35 kam schon 1904 bei Breitkopf & Härtel heraus. Hauseggers dritter Hymnus datiert von 1902. Das komplette Werk erschien 1905 beim Nachfolger von C.F. Kahnt. Ob es der Edle von Münzberg am Ende wieder einmal schneller und besser hat machen wollen? Zuzutrauen wäre es ihm: Immerhin taucht der Name seines »Zweiten« in den Lebenserinnerungen nicht ein einziges Mal auf … zurück zum Anfang