Englische Affekte und teuflische Triller

Wenn mich eins noch mehr ergötzt als eine wohlgeratene Vorstellung künstlerischer Werke, so ist es dies: daß mich das aktuelle Erlebnis gewissermaßen über sich selbst hinaus in seinen historischen Kon- oder Hypertext hineinzieht, mich mit andern Worten derart zu interessieren und motivieren weiß, daß ich meine Tentakel geradezu octopussierlich in alle Richtungen ausstrecke und versuche, so viel wie nur möglich über den Gegenstand zu erfahren, mit dem ich es gerade zu tun habe.

Das hat diese Produktion wieder einmal geschafft. Sicher, man hat schon (von) Signore Locatelli und Monsieur Leclair gehört, ist in einige nette Sachen von Herrn Forqueray gelaufen und kennt die phantasmagorische Erscheinung des trillernden Teufels, der Giuseppe Tartini zu seiner berühmtesten Sonate angestachelt hat. Manches hat mich mehr, anderes weniger unmittelbar angesprochen, und letzten Endes blieb alles in der Grauzone zwischen »Nun ja« und «Je nun«. Ich gestatte mir eben den Luxus, mehr für direkte Kommunikation als für Gebrauchsanweisungen übrig zu haben, die mir lang und breit erklären, warum ich, wofern mir was angeblich Bedeutendes nicht gefällt, kategorisch im Unrecht zu sein habe – und weil daß so ist, kann ich bestimmten Aufführungen und Aufnahmen aus kontrolliert-biologischem Anbau nun mal nichts abgewinnen, sie mögen den Buchstaben authentischer Anleitungen, Versuche und Vademecümmer auch bis ins letzte i-Tüpfelchen entsprechen.

Dann lieber so, wie’s Chouchane Siranossian im Zusammenspiel mit Jos van Immerseel gemacht hat. Als »Engel und Teufel« sind die beiden angetreten, und schnell zeigt sich, daß das Motto weit mehr ist als ein Destillat der Worte, mit denen die französisch-armenische Geigerin und Reinhard Goebel-Schülerin ihren kleinen Begleittext beginnt: »Leclair spielte wie ein Engel, Locatelli wie der Teufel«, zitiert sie den deutsch-niederländischen Organisten Jacob Wilhelm Lustig (1706-1796), der die beiden herausragenden Repräsentanten des französischen und italienischen Saitenspiels im Dezember 1728 am Hofe des Hessischen Landgrafen Carl zu Kassel hatte hören können. Doch das ist nur ein Aspekt der Produktion, in dem zwei Charaktere mit komplementärer Wucht aufeinanderprallen: Wenn die »anima eterna« des Cembalisten und Dirigenten mit der provokanten, bis zum Bersten expressiven Auffassung der Geigerin reagiert, kommt es zu einer musikalische Verpuffung, die zwischen Himmel und Hölle die verschiedensten Geister und Emotionen in Bewegung versetzt und somit das Spektrum der Affetti musicali in einer Manier sprechen läßt, von der keine noch so fein gedruckte Schulweisheit was weiß.

Gleich das Adagio, mit dem Locatelli seine d-moll-Sonate eröffnet, ist in seiner Sprachgewalt atemberaubend und bereitet uns mit zahllosen kleinen Drückern, Schnörkeln, ausgekostetem Zierrat darauf vor, daß wir uns auf einiges gefaßt manchen sollten. Auf die schlangenartig sich windende Chromatik des nachfolgenden Allegro etwa, auf die arkadische Pastorale des Andante und die leichtfüßig dahintrippelnden Figürchen des vierten Satzes. Unvorbereitet trifft uns indes das abschließende Capriccio, worin die Solistin den ganzen Weg zwischen unter- und überirdischen Regionen, von derb-satanischen Kapriolen bis zu einem Wispern durchmißt, bei dem sich die Griffhand verdächtig der wohlgeformten Kinnpartie nähert: So etwa muß es reinen Sensorien klingen, wenn Moleküle aneinander stoßen …

Locatelli habe, so konnte ich inzwischen von Lustig lesen, »große Schwierigkeiten krächzend« aus der Geige herausgeholt, um die »Zuhörer zum Verwundern zu bringen«, und »er spielte ehedem die Violin sehr harmonieux, und ließ fast keine Räume unberührt, aber zugleich so rüde, daß es zarten Ohren unerträglich fiel« – quod erat demonstrandum, oder: Wer’s nicht glauben will, der höre!

Als Antithese dann der »engelhafte« Jean-Marie Leclair, in dem das weit gespannte Wechselspiel der beiden Musiker genauso deutlich zu Tage tritt: Das delikate, zart besaitete Akkompagnement hält die eloquenten Extravaganzen der Geige stets auf Kurs, erzeugt ein feingliedriges Gegengewicht und dient als Orientierungspunkt, zu dem auch die spektakulärsten Höhenflüge und radikalsten Psychogramme wieder und wieder heil zurückfinden.

Diese Funktion erfüllen im Gesamtgefüge des Recitals auch die vier Sätze aus der Antoine Forquerays c-moll-Suite: Immerseel taucht die vier Portraits in einen verhaltenen, gewissermaßen »bodenständigen« Ton, ein geradezu erdiges Licht, das mich insgesamt (und sehr privat) an meinen niederländischen Favoriten Meindert Hobbema erinnert, an die lauschig idyllischen, nach Herbstlaub duftenden Plätze bei der leise klappernden Waldmühle … und dann kommt Tartini. Hier will uns Chouchane Siranossian förmlich in den Gehörgang kriechen wie der Stehgeiger in jedem besseren Caféhaus oder die unvergeßliche Frau Blücher im Kellergewölbe ihres geliebten Viktor von Frankenstein. Zigeunerisch, pardon: sinti-romanisch gewürzte Linien, prickelnde Akzente und der trillernde Tanzrefrain des Schlußsatzes von Mal zu Mal intensiver, beschwörender, zupackender – da stehen nicht nur die Bogenhaare zu Berge. Und genau das ist ja Sinn und Zweck der Veranstaltung: nicht die neuesten Erkenntnisse über »Die Verwendung des vierten Fingers unter besonderer Berücksichtigung der Violinschule von Leoopold Mozart« in einem hypothetischen Tondokument zu fixieren, sondern zarten Ohren von heute einige der Schrecken einzuflößen, die das Publikum vor bald dreihundert Jahren erfaßten. Das kann man übertreiben, keine Frage. Man kann es aber auch in einem so gelungenen Geschmacksrahmen tun wie Chouchane Siranossian und Jos van Immerseel – mit dem Ergebnis, daß Locatelli, Leclair & Co. nicht mehr nur Lustig, sondern außergewöhnlich faszinierend sind.
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