Geistreich gelungenes Gesamtkunstwerk
»Von denen würde ich gern mal Johannes oder Matthäus hören,« ging es mir durch den Kopf, als mir neulich die Bachschen Markuspassion-Fragmente mit Michael Schönheit, dem Collegium Vocale Leipzig und der Merseburger Hofmusik begegneten. Nun war es zwar keine der beiden großen Karfreitags-Musiken, die mir wenige Tage später aus dem Rundschreiben des Kasseler Klassik-Center ins Auge sprang, sondern die soeben bei dem Label Querstand erschienene Produktion der h-moll-Messe. Die aber hat meine Ahnung schon im ersten Kyrie nicht nur bestätigt, sondern so weit übertroffen, daß ich mir die gut einhundertminütige Vorstellung binnen kürzester Frist gleich dreimal mit größtem Ergötzen zu »Gemüthe« geführt und dabei Einsichten gewonnen habe, die ich selbst hier, wo ich ganz der Herr meines eigenen Raumes bin, nicht vollen Endes werde ausbreiten können.
Ich will mich daher auf einige mir besonders hervorstechende Eigenschaften beschränken, die diese Darbietung nach meinem Empfinden von anderen, durchaus respektablen Lesarten unterscheidet und für mich zu einer geradezu idealen Aufnahme machen. Da wäre zunächst jeder Verzicht auf gelehrte Experimente und Theorien: Der Chor geht mit 5.5.4.4.4 der anämisch-interessanten Reduktion auf die (hypothetischen) Leipziger Verhältnisse der Bachzeit aus dem Wege und verbindet sich mit einem ausgewogenen Orchester, dessen Streicher (4.4.3.2.2) genau die richtigen Klangverhältnisse zum vokalen Tutti und den ein- bis dreifach besetzten Bläsern sowie der (herzhaften) Pauke und dem Continuo aus Laute und Orgel herstellen. Diese versammelten Kräfte, denen fünf vorzügliche Solist(inn)en beigegeben sind, musizieren nun die »hohe Messe« mit einem unforcierten Schwung und einer natürlichen Lebendigkeit, die sich, jedenfalls für den Hörer, über alle Spekulationen und Zelebrationen hinwegzusetzen scheint – und just dieses vermeintliche Fehlen jeglicher BeDeutung in des Wortes gewichtigstem Sinne erschließt uns des Werkes universelle Dimensionen. Will sagen: All die verschiedenen Ebenen, auf denen sich diese Musik abspielt, öffnen sich wie die Blüten einer facettenreichen Blume, die wir ja auch als das Gesamte und das Einzelne, das Allgemeine und das Besondere zugleich erleben.
Diese Betrachtung der h-moll-Messe zeigt uns in der Tat ein vollendetes Bewerbungsschreiben. Hier fallen nicht nur Kirchenmusik und instrumentales Konzert, orchestrale Prachtentfaltung und kammermusikalische Delikatesse ineins, hier werden auch subtile tonmalerische Momente (»Agnus Dei«) und großer szenischer Prunk als Demonstration eines wahrhaft weltumspannenden künstlerischen Vermögens zu einer Synthese geführt, die nicht einmal vor der dramatischen Andeutung halt macht: »Sollten Ew. Hochfürstliche Gnaden geruhen / des Endes unterfertigenden Supplicanten demüthiges Gesuch um den Titul alß Compositeur von der Königlichen Hoff-Capelle mit unverdientem Wolwollen zu entsprechen / machet selbiger Supplicant sich anheischig / Ew. Ew. Glorreiche Durchlauchtigste Hoheit inskünftig nicht blos mit Kirchensachen / sondern insgleichen mit solchen vors Theater zu delectiren,« scheint uns der Komponist in den strahlenden Barockgemälden des »Gloria«, des »Et resurrexit« und anderen festlichen Jubelsätzen, die mitunter regelrecht tänzerische Züge annehmen, sagen zu wollen.
Hätten wir’s hier demnach mit einer rein »weltlichen« Arbeit zu tun, der jedwede Weihe und Inbrunst abhanden gekommen, jede Religion und obendrein jede »historische Korrektheit« verloren wäre? Das hängt von den Erwartungen und dem Blickwinkel des Hörenden ab. Wer zur orthodoxen Andacht, sie sei geistlicher oder aufführungspraktischer Natur, den frommen Augenaufschlag oder die hohlwangige Entsagung braucht, wird mit andern Varianten vermutlich besser fahren und die rechte Lust empfinden, wenn pro Chorpartie ein einzig’ Stimmchen zirpt. Wem indes an einer Missa gelegen ist, die sich über jegliche confessio hinaus als ein Gesamtkunstwerk darstellt, das uns (angesichts der äußerlich disparaten Entstehung seiner Teile) ganz nebenbei etwas über die »Kugelgestalt der Zeit« verrät, ohne daß wir zu den Theoretikern des 20. Jahrhunderts flüchten müßten – der ist hier bestens beraten, und das desto mehr, als Michael Schönheit und seine Ensembles sich nicht aufs große, beschwingte Ganze verlegen, sondern auch um kostbarste Details nicht verlegen sind: Das fein sich ausspinnende Sopranduett des »Christe«, das erlesene kleine Konzert für Traversflöte, Sopran, Tenor, Streicher und B.c. mit der Überschrift »Domine Deus«, die Schwerelosigkeit der Baßstimme, auf der das »Credo in unum Deum« dahinfließt oder die freundlich knurrenden Fagotte, die mit dem Jagdhorn und dem Solobaß das »Tu solus sanctus« darbringen – das sind mehr oder minder spontan aufgegriffene Einzelheiten aus der Fülle dessen, was diese Aufnahme so über die Maßen erfreulich macht.