Grandioser Jón Leifs: Der Edda zweiter Teil
Nachdem Hermann Bäumer, die Schola Cantorum aus Reykjavik und das Isländische Symphonieorchester vor dreizehn Jahren den ersten Teil der Edda für das schwedische Label BIS aufgenommen hatten, ist jetzt die Fortsetzung des riesigen Projektes zu hören, mit dem sich Jón Leifs bis zu seinem Tode (am 30. Juli 1968) beschäftigt hat. Und wie schon bei der Erschaffung der Welt ist auch im Leben der Götter das ungeheure Engagement und Stehvermögen zu bewundern, mit dem alle Beteiligten ans Werk gegangen sind. Die Wucht der orchestralen und vokalen Eruptionen, die wie glühende Lavaströme hervorbrechenden Accelerandi, die in ihrer innigen Konzentration so anrührenden lyrischen Einschlüsse und die fantasievollen, oft genug »unerhörten« Instrumental- und Vokalkombinationen erzeugen dieselbe Anziehungskraft, die die großen Werke des wahrhaft eigentümlichen Komponisten – von den Liedern und den intimen Streichquartetten bis zu dem choreographischen Drama Baldr – grundsätzlich auszeichnet.
Angesichts solch vorzüglicher Leistungen, von denen auch die drei brillanten Solisten Hanna Dóra Sturludóttir (Mezzosopran), Elmar Gilbertsson (Tenor) und Kristinn Sigmundsson (Baß) nicht auszunehmen sind, ist es ein wahres Vergnügen, sich auf diese Musik einzulassen, ihre trotz aller vermeintlichen »Primitivität« höchst kunstvollen, subtilen Nuancen aufzuspüren und die ganze Vielfalt des äußerlich begrenzten Zeichenvorrates zu entdecken. Wir nähern uns mit Leifs eben dem »Urgrund« der Töne, des Melos und des Rhythmus, dessen Existenz von approbierten Kosmikern postuliert wird, wir geraten in die Nähe jenes geistigen Zentrums, in dem Sprache und Musik eins werden – eine Region, in der die pure Essenz der Schöpfungsenergie wirkt und das Wort, das immer auch Klang sein muß, um nicht bloße Chiffre zu sein, seine unablässige Wirkung tut.
Wie sehr sich Jón Leifs dieser weithin verlorenen Mitte genähert hat, läßt sich aus der Mauer des Unverstands ablesen, die ihn zeitlebens zur künstlerischen Umkehr hat bewegen wollen. Daß er sich trotz aller Selbstzweifel treu geblieben ist, verdient unsere höchste Anerkennung und Dankbarkeit ebenso wie der Einsatz des Labels, das mit seinen bisherigen Veröffentlichungen ein fürwahr ansehn- und anhörliches Plädoyer gehalten hat. Bleibt nur zu hoffen, daß wir auf den zwar unvollendeten, gleichwohl aufführbaren dritten Teil der Edda nicht noch einmal dreizehn Jahre warten müssen …