Hermann Deiters: Max Bruch (1869)
Die letzten unter den Tonsetzern der Gegenwart, deren Schaffen an dieser Stelle betrachtet und beurtheilt wurde, gehörten im Großen und Ganzen einer Richtung an, und zwar derjenigen, welche wir als die neuromantische zu bezeichnen pflegen. Sind auch gleich der Vorbilder aus der Vergangenheit, und der Wege, die der Gegenwart einzuschlagen möglich ist, gar manche, so ist es doch unsere Ueberzeugung, daß in der bezeichneten Schule, in ihrem Zusammenhange betrachtet, die entschiedenste und erkennbarste Eigenthümlichkeit hervortritt, und daß sie am meisten, wenn man das von einer der gegenwärtigen Richtungen überhaupt sagen kann, einen Fortschritt bezeichnet. Daher ist es auch zu erklären, daß sich unter den gegenwärtig schreibenden Komponisten, mögen sie auch noch so sehr nach ganz eigenartiger Weise streben oder sich auch andrerseits noch so streng den klassischen Mustern anschließen, sehr wenige von dem Einflusse der Romantik losmachen können. Sie wollen doch alle die Musik zu immer tieferer und verständlicherer Seelensprache machen helfen; sie können sich daher auch nicht der Wahrnehmung verschließen, daß die feiner und reicher durchgebildete Harmonik und Melodik Schumanns und seiner Schule in ihrem letzten Ziele einer feineren und reicheren Sprache der Empfindungen durch die Töne den Weg geebnet hat. Mögen denn die Einen, von dem Einflusse der Schumannschen Muse lebhaft berührt, doch der objektiven Klarheit und Rundung der Kunstform, wie sie uns bei Mendelssohn und den älteren Meistern entgegentritt, einen gleich großen Einfluß auf ihre Bestrebungen einräumen; mögen Andere in ihrer schwärmerischen Begeisterung für den verehrten Meister in Gefahr gerathen, den Weg der Subjektivität auch in bedenkliche Irrpfade zu verfolgen , vor denen Schumann sein Geschmack und seine künstlerische Bildung bewahrte; mag Diesem Bach, Jenem Beethoven das unmittelbare Vorbild sein, mögen Manche auch dem Tagesgeschmack in mehr wie erwünschter Weise huldigen, man wird bei näherem Zusehen den Einfluß der neueren Weise sehr bald in Zügen aller Art gewahren und sich überzeugen, wie das von dorther ausströmende Licht nach allen Seiten seine erwärmenden und belebenden Strahlen ausgesendet hat.
Sind die obigen Betrachtungen richtig, so wird man zugeben, daß die der neuromantischen Richtung angehörigen Komponisten den übrigen gegenüber in einem entschiedenen Vortheile sich befinden; denn wenn sie auch mehrfach, mit einander verglichen, der charakteristischen Unterschiede nicht gar viele oder nur schwer definirbare zeigen, so erscheinen sie doch anderen gegenüber als Vertreter eines bestimmten deutlich charakterisirten Stiles, als erkennbare Theilnehmer an dem stetigen Fortbau der Kunst noch ein bestimmten Richtung hin. Die anderen, welche ihre eigenen Wege gehen, nicht nach eines Meisters Weise ihr ganzes Schaffen gestalten, gerathen viel eher in Gefahr, stillos und des bestimmten Charakters entbehrend zu erscheinen, wenn nicht ein ganz besonders kräftige und individuelle Begabung sie auch in den mannichfaltigsten Bestrebungen und unter den verschiedenartigsten Einflüssen als klar umgrenzte Persönlichkeiten kennzeichnet und sie über das bloße Nachahmen hinaushebt.
Wir haben in der Ueberschrift den Namen eines gegenwärtig vielfach und mit Ehren genannten jüngeren Komponisten aufgeführt, zu dessen Charakteristik, soweit eine solche überhaupt schon gegeben werden kann, die vorausgeschickten Bemerkungen gleichsam einen Boden bereiten mögen. Max Bruch ist in Köln am 6. Januar 1838 geboren; sein Vater war ein daselbst angesehener Beamter, seine Mutter, aus der in Köln hochgeschätzten musikalischen Familie Almenröder [sic!], eine lange Jahre hindurch geschätzte Musiklehrerin. Früh trat das musikalische Talent bei ihm hervor, und der Drang eigenen Schaffens war auch bei ihm mit der Entwicklung des jugendlichen Lebens eng verflochten. Nachdem er zuerst von seiner Mutter in der Musik unterrichtet worden, und schon seit seinem 9. Jahre sich in eigenen Kompositionen versucht hatte, erhielt er den ersten theoretischen Unterricht von Professor Breidenstein in Bonn; hierauf, als Stipendiat der frankfurter Mozartstiftung, 1853-57 von Ferd. Hiller in Köln. Seine Kompositionen machten ihn in seiner Vaterstadt früh bekannt; mit 11 Jahren schrieb er bereits eine Ouvertüre für Orchester; 1852 wurde in der dortigen philharmonischen Gesellschaft eine Symphonie des Knaben aufgeführt; nach einer Notiz der rheinischen Musikzeitung zählte man damals schon 70 Nummern seiner Werke. In der folgenden Zeit war er in mannichfacher Weise für vielseitige künstlerische Ausbildung thätig, und lernte auf längeren Reisen nach den Hauptorten des deutschen Musiklebens (Berlin, Dresden, Leipzig, Wien, München &c.) die bedeutendsten Künstler und Dirigenten kennen, namentlich war sein zweijähriger Aufenthalt in Mannheim und sein Umgang mit V. Lachner von dem größten Einflusse auf seine Fortbildung, vorzüglich hinsichtlich der Erwerbung einer genaueren Kenntniß des Orchester= und Bühnenwesens. Nach einer weiteren großen Kunstreise, die ihn auch nach Paris führte, wurde er im Jahre 1865 städtischer Musikdirektor in Koblenz, welche Stellung er 1867 mit der eines Hofkapellmeisters zu Sondershausen vertauschte.
Seine gedruckten Kompositionen gehören den verschiedenartigsten Gattungen an. Soweit sie der Instrumentalmusik angehören, finden sich darunter Klavierkompositionen in kleinerer Form (Op. 2, Capriccio zu 4 Händen; Op. 12, 6 Klavierstücke; Op. 13, 2 Klavierstücke), ein Klaviertrio (Op. 5), 2 Quartette (Op. 9, 10), sein in neuerer Zeit vielgenanntes Violinkonzert (Op. 26); eine Symphonie von ihm ist in letzter Zeit mehrfach aufgeführt und ebenfalls ganz kürzlich als Op. 28 im Druck erschienen. Die weitaus größere Zahl seiner Kompositionen gehört der Vokalmusik an; wir nennen verschiedene Sammlungen von Liedern mit Klavierbegleitung (6 Gesänge, Op. 7, 4 Lieder Op. 15. 10 Lieder Op. 17, 4 Lieder op. 18), dann verschiedene Kompositionen für Chor, oder für Soli und Chor, so Gesänge für Frauenchor Op. 6, Jubilate, Amen Op. 3 Birken und Erlen von Pfarrius Op. 8, Männerchöre mit Orchester Op. 19 (darunter ein römischer Triumphgesang und das Wessobrunner Gebet), die Flucht der heiligen Familie für Chor und Orchester (Op. 20), Gesang der heiligen drei Könige, für drei Männerstimmen und Orchester (Op. 21), Schön Ellen für Soli, Chor und Orchester (Op. 24), Salamis von Lingg (Op. 25), Scenen aus der Frithjofsage (Op. 23), endlich sein an Umfang größtes Werk, welches ihn in den weitesten Kreisen bekannt gemacht, die Oper Loreley (Op. 16).
Die Aufzählung der Hauptwerke Bruchs läßt die Vielseitigkeit und die Kraft seines künstlerischen Strebens erkennen; und eine nähere Kenntnißnahme rechtfertigt die Erwartung, die man sich von dem Talente des Komponisten von vorn herein gemacht hat. Man gewahrt ein entschiedenes und reiches Erfindungstalent, eine durch Schule und Studium erworbene Sicherheit der Gestaltungskraft und volle Herrschaft über die technischen Mittel seiner Kunst; man erkennt ferner eine glückliche Gabe, sich in den gewählten Stoff mit seinem ganzen Geiste zu versetzen und ihm nach den inneren Voraussetzungen desselben gerecht zu werden, sowie endlich einen glücklichen Blick für das Wirkungsvolle, einen glücklichen Takt in Vermeidung des Unklaren und Subjektiven. Unter diesen Eigenschaften ist es nun besonders seine Erfindung, an welcher man die allmähliche Entwicklung zur Selbstständigkeit verfolgen kann. Leicht ansprechend, geschmackvoll und empfunden, wohlgebildet und von dem Gewöhnlichen sich fernhaltend erscheinen seine Melodien von Anfang seiner produktiven Thätigkeit an; eine Freude des Schaffens und Könnens, ein unmittelbares inneres Bedürfniß spricht sich von früh an in dem, was er sinnt und schafft, aus; aber in den meisten seiner früheren Arbeiten würde es schwer fallen, den unterscheidenden Zug zu bezeichnen, der uns auch neben jenen entschiedenen Vorzügen eine klar umgrenzte Individualität ankündigte. Seine Lieder und seine Klavierkompositionen , soweit sie uns bekannt geworden, zeigen alle einen sicheren Geschmack für das Edle, einen sicheren Sinn für das Eindrucksvolle; erstere namentlich lassen ein glückliches Geschick der Charakterisirung und poetisches Gefühl erkennen, zeichnen sich aber nur vereinzelt durch neue und individuelle Züge aus; wo er in seinen Instrumentalkompositionen früherer Zeit mitunter neue Wege versucht, hat man zuweilen die rechte innere Motivirung vermißt. Aber mit seiner ganzen Entwicklung und mit der Wahl bedeutender Stoffe ist seine produktive Kraft zusehends erstarkt und es konnte sich nunmehr die selbstständige künstlerische Natur deutlicher zu erkennen geben. Seine Oper Loreley, welche 1860-61 komponirt und seitdem über die deutschen Bühnen gegangen ist, bezeichnet in dieser Hinsicht entschieden einen Markstein in seiner Entwicklung. Dieser Text, über dessen große dramatische Mängel wohl kein Zweifel besteht, hat doch durch das Fragment der Mendelssohnschen Komposition eine gewisse Weihe erhalten, und es mußte für jeden jüngeren Künstler, der Vertrauen in seine Kraft besaß, eine ehrenvolle Aufgabe scheinen, sie demselben von Neuem zu widmen. Daß Bruch sich dieser Aufgabe unterzog und sie trotz ihrer großen Schwierigkeit mit rüstigem Muthe zu Ende führte, war für die Kraft seines produktiven Triebes das beste Zeichen, und ohne Zweifel ist für ihn diese Arbeit eine Schule seiner Entwicklung geworden, die für sein späteres Schaffen ihre Bedeutung behalten wird, mag nun das Interesse des Publikums das Werk auf der Bühne erhalten oder nicht. Betrachtet man dasselbe unbefangen, so fallen eine Menge hervorstechender Charakterzüge des Komponisten sofort in die Augen. Unverkennbar ist das Geschick in Erfassung der gegebenen Situation und der Erfindung von Motiven und Sätzen, die dem Gesammtcharakter derselben angepaßt sind, ihre Bühnenwirkung beleben oder hervorrufen, und dabei musikalisch sicher und fest geformt sind. An neuen und eindrucksvollen Melodien ist die Oper nicht gerade reich – es kommt das zum Theil daher, weil zum Nachtheil der musikalischen Wirkung das recitativisch=deklamatorische Element einen sehr ausgedehnten Spielraum in der Oper einnimmt – , doch interessieren die vorhanden durch treffenden und lebendigen Ausdruck, wie in de munteren Chören, durch seelenvolle Wärme, wie in den mehrfach vorhandenen klagenden Gesängen, durch ein deutliches und mehrfach glückliches Streben zu fesseln und zu rühren. Zu größeren Ensembles, in welchen bei ruhiger Entwicklung die Hauptcharaktere sich musikalisch darstellen und die gestaltende Kunst des Komponisten ihren Triumph hätte feiern können, hat die ganze Anlage wenig Gelegenheit geboten. Von der großen Sicherheit der äußeren Faktur, der Behandlung des Orchesters, der Geschicklichkeit in Modulation und Stimmenführung sprechen wir nicht besonders, da dies Dinge sind, die Bruch gleich vielen anderen unserer Meister und mehr wie manche beherrscht, die seiner Individualität die kräftigen Grundlage geben müssen, ihn aber nicht charakteristisch von anderen unterscheiden. Auch der sichere Wurf im Ausdruck der Situation, der glückliche Takt für das jedesmal Erforderliche und die Fähigkeit, dasselbe musikalisch zu gestalten un in objektiver Klarheit hinzustellen, die sorgsame Ueberlegung der Deklamation und ihrer Begleitung sind nothwendige und nicht häufige Requisite des dramatischen Komponisten, aber sie werden allein immer nur eine glückliche Dekorationsmusik schaffen, wenn nicht die Kraft einer Charakteristik von innen heraus, der Reichthum in dieser begründeter, aus der Tiefe geschöpfter Motive, endlich die Kunst der dramatischen Gestaltung in der von Mozart für alle Zeiten festgestellten Weise hinzukommen. Und was diese Vorzüge betrifft, so zeigen sie sich in der Bruchschen Loreley zwar vorgebildet, aber nicht erreicht, und so meinen wir es, wenn wir die Oper für einen gewichtigen Markstein in seiner Entwicklung erklärten, eine großartige Studie, die ihn in der Anschauung von de Erfordernissen der dramatischen Kunst und in der Erkenntniß und Uebung der eigenen Kraft um ein Bedeutendes gefördert, seine Erfindungskraft befreit und gestärkt, seinen Blick geläutert und geklärt hat, während wir die Höhe der Entwicklung hier noch lange nicht erreicht sehen.
In dem großen Umfang der Oper hat sich Bruch seitdem nicht wieder versucht; in allen den Stoffen aber, denen er seither sich zugewendet, zeigt sich derselbe Zug zum Großen und Charakteristischen; in der Mannichfaltigkeit derselben erkennt sich das Streben, seine Erfindungskraft nach verschiedenen Richtungen zu üben und namentlich ihr kräftige Anregungen zu Theil werden zu lassen, in der musikalischen Behandlung endlich das gleiche Streben nach Wahrheit des Ausdrucks und nach objektiver Klarheit der Gestaltung, womit denn jene große Herrschaft über die Mittel und jene Sicherheit in dem Ergreifen des Wirksamen als ein besonders charakteristischer Zug hinzukommt.
Unter den nun folgenden Arbeiten fallen vorzugsweise und wie als etwas Absichtliches die vielen verschiedenartigen, verschiedenen Völkern und Zeiten angehörigen Stoffe auf. Da begegnen, wenn auch in modernisirtem Gewande, Griechen und Römer, es begegnet das alte Germanenthum, Schotten und Nordländer; fast in jedem Stücke, das wir zur Hand nehmen, ist die Scenerie wieder eine ganz andere. Aus dem Streben nach Objektivität, welches wir bereits als dem Komponisten eigenthümlich bezeichneten, läßt sich diese Wahl mannifacher und fernabliegender Stoffe wohl erklären und es verdient Anerkennung, daß der Komponist sich von den so vielfach behandelten romantischen Stoffen, von denen man fast sagen möchte, daß sie die musikalischen Motive schon fertig mitbringen, einmal ganz losmacht und die Kraft seiner Erfindung zu erproben sucht an neuen, bisher nicht behandelten, die alle ihre eigene Art der Behandlung verlangen, und daß er Werke aufsucht, in denen die nationale Charakteristik noch unversuchte Erfolge zu verheißen scheint. So wie offenbar eine specielle Anlage zum Kräftigen und Plastisch=Klaren in der Natur des Komponisten vorhanden ist, welche ihn zu diesen Stoffen hingeführt hat, so ist eben diese Anlage auch durch die Verfolgung dieses Strebens in ersichtlichem Fortschritte ausgebildet worden.
Werfen wir auf einige der hauptsächlichsten hierher gehörigen Werke noch einen Blick, so begegnen uns hier zunächst die Männerchöre mit Orchester, Op. 19, und hier läßt an erster Stelle der römische Triumphgesang (Text von H. Lingg) ins Auge. Als Ausdruck der Freude über besiegte Feinde kann ein solcher Text immer Interesse erregen und behält allgemeine Gültigkeit für alle Zeiten; mit den specifisch römischen Benennungen und Ausrufungen vermischt, wie Jo triumphe, mit den Namen der unterjochten Völker, wie der Aetoler, der Parther &c., hat derselbe ein mehr antiquarisches Interesse, ist vom Standpunkte des Dichters eine wenn auch noch so individuell aufgefaßte Nachahmung, und das Gewand der modernen Tonkunst erscheint ihm nicht natürlich. Nichtsdestoweniger hat ihm Bruch die Mittel derselben in sehr geschickter Weise dienstbar zu machen gewußt; die kraftvollen, weit ausgespannten, Stolz athmenden Motive, die charakteristischen Tonfiguren bei dem wechselnden Ausdruck der Worte, Instrumentation und Harmonik, Alles bekundet das erfolgreiche Streben, aus der Begrenztheit des subjektiven Empfindens hinaus sich auf die Höhe eines großen Gegenstandes zu erheben und ihn deutlich und Allen verständlich und wirkungsvoll zu zeichnen. Noch weiter hat er diesen Drang zur objektiven Gestaltung, zu völliger Selbstentäußerung getrieben in dem „Wessobrunner Gebet“, in Bezug auf welches es die Literaturhistoriker interessiren wird, daß dieses kleine alte Denkmal (und zwar der erste Theil desselben) überhaupt einmal komponirt worden ist; freilich wird dasselbe trotz des Geschicks, mit welchem den Deklamationen der einzelnen Stimmen die volle Chormacht bei den Worten, die das ewige Sein Gottees aussprechen, gegenübertritt, ein tieferes Interesse als das der Studie schwerlich erregen. Ihm gegenüber hat das „Lied der Städte“ den charakteristischen Ton wilden Freiheitsdrangs sehr wohl getroffen und es muß trotz mancher Herbheit von entschiedener Wirkung sein. Den Schluß bildet ein schottisches Volkslied, welchem der Komponist nur Instrumente und Harmonik lieh; wie er auch selbstständig eine Sammlung schottischer Volkslieder mit Klavierbegleitung (bei Leuckart in Breslau) hat erscheinen lassen.
In zwei ferneren Werken sind es geistliche Stoffe, die den Künstler beschäftigt haben, aber wie schon in ihren Texten in modernem Gewande auftretend, so auch vom Komponisten diesmal mit größerer Selbstständigkeit, aber doch wieder mit völliger Hingabe an den poetischen Text behandelt. Die Flucht der heiligen Familie (Gedicht von Eichendorff) ist ein Stimmungsbild von großer Zartheit der Empfindung, von schöner Anmuth der Motive, von Feinheit und Takt in der künstlerischen Behandlung und Anordnung; es nimmt in der Reihe der Bruchschen Werke unbedingt einen hervorragenden Platz ein. Hier sind auch die Farben des neueren Stils mitunter verwendet, und hier mit großer Wirkung. Auch der Einzelausdruck zeigt die feine und sinnige Ueberlegung des Künstlers, einen Zug, den wir schon in seiner Oper zu bemerken Gelegenheit hatten. Weniger Einfachheit und Unmittelbarkeit der Stimmung, weniger melodischen Reize, doch gleich feine Kunst der Gestaltung und Charakteristik zeigt der Gesang der heiligen drei Könige (Gedicht von Schenkendorf), für drei Männerstimmen und Orchester komponirt.
Nach ganz anderer Richtung führt uns wieder sein Frithjof, den wir wohl von allen seinen bisherigen Kompositionen für die frischeste, originellste und bedeutendste erklären dürfen. Aus dem Gedichte Tegners hat er sich die Heimfahrt Frithjofs, den Brautzug der Ingeborg zu König Ring, die Rache Frithjofs und den Tempelbrand, den Abschied Frithjofs, die Klage der Ingeborg und Frithjof auf der See als selbstständige Scenen zur musikalischen Bearbeitung gewählt; und zwar sind dieselben als unter einander kontrastirend und einen glänzenden musikalischen Abschluß gestattend, wohl zusammengestellt, wenngleich die dichterische Einheit nun nicht mehr vorhanden ist. Wieder also hat er den kühnen Weg versucht, einen Gegenstand uns musikalisch nahe zu bringen, dessen Behandlung Früheren kaum in den Sinn gekommen war, und dessen Gestalten und Gehalt uns jedenfalls weit ferner stehen, wie irgend ein der griechischen oder römischen Sage entnommener Stoff. Denn interessirt uns wohl die nordische Götterwelt, der Wikingerbalk u. dgl. genügend, um uns in musikalischer Behandlung zu fesseln? Schon den fremden Klang so mancher Worte uns heimisch klingen zu machen, wird auch der wärmsten Tonbehandlung nicht gelingen. Beim Lesen eines Gedichtes verbindet sich mit unserer Bemühung des Gedankenverständnisses zugleich alles andere gelehrt=antiquarische Interesse, welches uns das Fremde nahe bringt und sein Aufnahme vermittelt; bei der unmittelbaren Weise aber, mit welcher die Werke der Tonkunst zu unserem Gemüthe sich wenden, tritt der Kontrast mit einem fernliegenden Gegenstande um so schärfer hervor. Doch so Manches wir auch, wenn der Raum es gestattete, gegen die Wahl dieses Textes einzuwenden hätten, Bruchs musikalischer Kunst ist es dennoch gelungen, das uns Widerstrebende soweit möglich zu überwinden. Mehrfach erhebt sich seine Musik in der That zu dem Ausdruck heldenmäßiger Kraft und frohen Siegesgefühls, und das in einfachen ungekünstelten Weisen, so daß die Vorstellung jener kräftigen Nordlandsrecken durch dieselben erheblich gestützt wird; auch die zartere Regung hat er intensiv und warm gezeichnet, und hat für den männlich ernsten Schmerz des Abschieds eine überraschend schöne, wahre und treffende Weise gefunden. Dabei wirkt auch hier immer Alles zur Wirkung einheitlich zusammen: die Instrumente und ihre Klangfarbe, die Gestaltung, die Charakteristik der Situation, Alles zeigt das entschiedene Geschick, mit eigener Hingabe in dem Gegenstande zu leben und mit seiner ganzen Kunst und seiner nicht geringen Fähigkeit, schlagende Wirkungen zu erzielen, dem Objekte nach dessen innerer Natur sich unterzuordnen. Und mit dieser Gabe ist hier ein selbst in dem fremdartigen Gewande der Dichtung hocherfreuliches Werk geliefert worden.
Aehnlich ist auch über die Ballade Schön Ellen (von Geibel) zu urtheilen. Auch hier wird dem Hörer zunächst wieder jene Entäußerung des individuellen Fühlens und der Hingabe an einen fremdartigen Stoff zugemuthet; haben wir aber diese Abstraktion vollzogen, so werden wir zugestehen, daß in dem Kontraste der Stimmungen, in der musikalischen Gestaltung und namentlich der gewaltigen Steigerung hier ein Musikstück geboten ist, dem an zündender Kraft und an charakteristischer Darstellung wenige neuere Kompositionen an die Seite gestellt werden können.
Das Letzte in der Reihe der uns vorliegenden Gesangskompositionen ist der griechische Siegesgesang Salamis, Text wieder von Lingg, für doppelten Männerchor mit Orchester. Unsere vorherigen Betrachtungen könnten wir hier nur wiederholen: die Wahl des Textes mit seinem Evoe, seinen jonischen Liedern, dem Päan, den Persertrophäen und der Niederlage des Xerxes erscheint in diesem Gewande moderner Musik als eine entschieden nicht glückliche, weder hat die antike Scenerie durch die Musik ein erhöhtes Interesse, noch letztere gerade durch jene Anlässe zu neuen und eigenthümlichen Wirkungen erhalten; und doch verdient das schöne Talent und die große Kunst der Gestaltung und Charakteristik auch hier wieder das vollste Lob. Es ist ein heller, kräftiger, mit vielfachem Reiz der Färbung und Instrumentation ausgestatteter Jubelgesang, der uns durch den kühnen Wurf seiner Motive und das kräftige Leben der Bewegung sofort fesselt und mit sich fortreißt. Allzu oft begegnet uns in diesen Werken Bruchs die Komposition für den bloßen Männerchor, dessen Beschränktheit und Einseitigkeit ihm doch für die Dauer nicht genügen kann. In dem Violinkonzert hat Bruch demselben Streben nach allgemeiner Verständlichkeit und wirkungsvoller Charakteristik Raum gegeben namentlich in dem volksmäßig=melodiösen letzten Satze, während das langsame Mittelstück ganz in romantische Farben getaucht ist. Die Symphonie, deren Aufführung an vielen Orten gemeldet wird, ist uns noch nicht bekannt geworden.
Ein Gesammtüberblick über Max Bruchs bisheriges Schaffen läßt ihn als eine der kräftigsten, begabtesten Naturen unter den lebenden Komponisten erkennen. Wenn ihm aus früher Gewohnheit und sorgfältiger Erziehung die Mittel seiner Kunst zu einem mit Sicherheit und Leichtigkeit beherrschten Materiale geworden sind, welches ihm seiner Intention nach dient, wie es der Augenblick gerade erheischt, so erscheint daneben sein Erfindungstalent als ein erstaunlich leichtes und glückliches. Da ist nichts Gesuchtes und unklar Verschwommenes, nichts bloß Nachgemachtes und Zusammengeflicktes: die Motive sind in fester Gestaltung und ihrem klar erkennbaren Empfindungsgehalte greifbar und bestimmt da; mögen sie nun mehr oder weniger originell sein und eine künstlerische Eigenthümlichkeit bezeichnen, sie lassen an sich selbst keine Unklarheit übrig und tragen dazu alle eine nicht erborgte Farbe der Frische, des lebendigen Zuges. Ebenso ist es mit allem, was zur Gestaltung, zur Instrumentirung und Ausschmückung gehört; auch hier nirgends ein Experimentiren, ein principloses Umhertappen im Unklaren: Alles steht mit bewußter Absicht als organisches Glied des Ganzen an seiner Stelle. Solche Eigenthümlichkeiten des Talentes werden sich bei jedem Künstler in der ersten Zeit vorwiegend in der virtuosen Ausübung künstlerischen Vermögens äußern und auch von Bruchs früheren Arbeiten wird man sagen dürfen, daß diese Tendenz zugleich mit zum Zwecke der eigenen Weiterbildung das wesentlich treibende Element gewesen ist. Seitdem wir ihn entschiedener die Bahn des selbstständigen Tondichters verfolgen sehen, gewahren wir zunächst ein deutlich hervortretendes Streben, sich von den Einflüssen, denen der heutige Tonsetzer gar leicht ausgesetzt ist, frei zu halten und eine selbstständige Eigenart zu erringen; von Nachahmungen, von Hingabe an einen bestimmten Stil, von Phrasen sehen wir ihn entschieden sich frei zu machen bemüht. Im Angesichte vielfältig wuchernder Subjektivität im heutigen Schaffen hat er das Streben nach objektiver Klarheit und Bestimmtheit auf seine Fahne geschrieben. Die Wahl seiner Stoffe zeigt ihn bemüht, aus der Begrenztheit des Blickes des eigenen Selbst herauszutreten und die Kraft seiner Erfindung an den verschiedensten und fremdartigsten Gegenständen zu erproben, die er schwerlich selbst alle als vorzugsweise geeignet zur Bearbeitung betrachtete, die ihm aber für seine Gestaltungskraft zum Prüfstein geworden sind. Gewisse besonders hervortretende Züge in der Erfindung Bruchs und ein entschiedenes Talent zum Ausdrucke des Kraftvollen, des männlichen Muthes und Ernstes, überhaupt einfacher und allgemeingültiger menschlicher Empfindungen in einer doch neuen und charakteristischen Weise würden ohne diese vielseitige Thätigkeit vielleicht nicht so entschieden hervorgetreten sein. Und die ganze Sicherheit der Auffassung und Gestaltung, das leichte Geschick in Erfindung plastischer, bestimmt charakterisirender Tonsätze, auch das sind ihm eigenthümliche Eigenschaften, die ihn von vielen anderen vortheilhaft unterscheiden. In dem musikalischen Gehalte der Sätze und Motive nun das Persönliche, Eigenartige zu erkennen, ist immer schwer, und das Gefühl vermag sich dem eher zu nahen, als der trennende Verstand es zu bezeichnen; bei einem Künstler wie Bruch, dessen Talent zunächst auf einer großen Leichtigkeit des Erfindens beruht und sich zu einer ebenso großen Leichtigkeit des Könnens und Gestaltens ausgebildet hat, und in dessen späterem Schaffen bewußte Wahl und Reflexion eine offenbar große Rolle spielt, zeigt sich das individuell charakteristische nicht so entschieden und rasch, wie bei andern nur dem unbewußten und dunkeln Drange folgenden. Es ist das der Punkt, der gleichsam als eine Frage am Schlusse dieses Versuchs einer Charakteristik des, noch im vollen Zuge seiner weiteren Ausbildung befindlichen Künstlers stehen mag; ob ihm neben allem, was ihn unter den jetztlebenden zu einer hervorragenden Erscheinung macht, dem Talente, der künstlerischen Durchbildung , dem Streben nach Objektivität, der Gabe der Charakteristik und des Ausdrucks, endlich der Verwendung seines künstlerischen Vermögens im Dienste höherer gestaltender Ideen – ob ihm daneben auch das zu Theil werden wird – ob es ihm schon zu Theil geworden ist –, was ihn dem Meistern der Vergangenheit ebenbürtig anreihen würde: die volle Selbstständigkeit einer in sich geschlossenen und aus eigenem tiefen Borne immer gleich und urkräftig schöpfenden Persönlichkeit. (Dr. H . Deiters)