Rudolf von Beckerath: Max Bruch (1870)

musikalisches_wochenblatt

Unter den hervorragenden schaffenden Künstlern der heutigen Zeit gibt es nur wenige, welchen das Glück zu Theil geworden, vom Beginn ihrer Laufbahn an durch die Sympathien des kunstliebenden Publicums und der Kunstkenner getragen zu werden und bei steter, inniger Verbindung mit beiden Theilen, verschont von äusseren Widerwärtigkeiten, in dem warmen, belebenden Elemente der Anerkennung ihre Künstlerschaft zur Blüthe entfalten und zur Reife gedeihen lassen zu können. Zu diesen wenigen, von• einem günstigen Geschick, wie von den Genien der Kunst gleich bevorzugten Erscheinungen im Gebiete des musikalischen Lebens unserer Tage gehört Max Bruch. Er wurde am 6. Januar 1838 zu Cöln am Rhein geboren. Sein Vater gehörte dem höheren Beamtenstande an, seine Mutter stammte aus der am Rhein bekannten musikalischen Familie Almenräder und steht bei den Besuchern der niederrheinischen Musikfeste aus dem Ende der zwanziger und dem Anfang der dreissiger Jahre als Solosängerin wegen ihres feurig belebten Vortrages in gutem Andenken. Die schon früh bei dem aufgeweckten Knaben hervortretenden ausserordentlichen musikalischen Anlagen wurden mit Sorgfalt zunächst von der im Unterricht wohl erfahrenen Mutter gepflegt und ausgebildet, auch für theoretisches Studium trug man bei der überaus reichen Productivität des Knaben Sorge, der schon mit seinem 11. Jahre grössere Orchestersachen schuf, überhaupt bis zu seinem 14. Jahre nach einer Angabe der „Rheinischen Musikzeitung“ aus damaliger Zeit an 70 Compositionen verschiedener Art geschrieben hatte, darunter eine Symphonie, welche die Philharmonische Gesellschaft in Cöln 1852 zur Aufführung brachte. In demselben Jahre wurde dem jungen Componisten von der Mozart-Stiftung zu Frankfurt a. M. das Stipendium als Preis für seine zur Concurrenz eingereichten Arbeiten zuerkannt. Statutgemäss designirte der Vorstand dieser Stiftung dem Stipendiaten für die vier Jahre, während welcher er die Subvention der Stiftung genoss, seinen Lehrer und zwar in der Person des Capellmeisters Ferd. Hiller. Unter dessen aufmerksamer Leitung setzte daher Bruch von 1853-1857 seine ernsten Studien fleissig fort. Es fanden in dieser Zeit von seinen veröffentlichten Werken die folgenden ihre Entstehung: „Scherz, List und Rache“, komische Oper in einem Aufzuge, Text nach Goethe, Op. 1; Capriccio für Pianoforte zu 4 Händen, Op. 2; „Jubilate amen“, für Sopransolo, Chor und Orchester, Op. 3; Trio für Pianoforte, Violine und, Violoncell, Op. 5. Den Winter von 1857 auf 1858 brachte Bruch in Leipzig zu, dessen reges musikalisches Leben auf den jungen Künstler einen nachhaltigen Eindruck hervorrief und auch in späteren Jahren vielfach Veranlassung zu wiederholten Besuchen bot.

Von Leipzig kehrte Bruch wieder in seine Heimath zurück, in der er bis 1861 verblieb. Seine während dieser Zeit entstandenen Werke: sieben zwei- und dreistimmige Gesänge, Op. 6; sechs Lieder, Op. 7 ; „Die Birken und die Erlen“, für Sopransolo , Chor und Orchester, Op. 8; die beiden Streichquartette, Op. 9 und Op. 10; Phantasie für 2 Claviere, Op. 11; 6 kleine Clavierstücke, Op. 12; Hymnus für Sopran, Op. 13 (auch für Alt herausgegeben); zwei Clavierstücke, Op. 14; vier Lieder, Op. 15, hatten seinen Namen unterdessen in immer weiteren Kreisen bekannt gemacht. Das „Jubilate amen“, mehr noch die frische, wirkungsvolle Composition „Die Birken und die Erlen“ wurden in verschiedenen Städten am Rhein mit Vorliebe zur Aufführung gebracht und gaben dem Componisten manche Gelegenheit, auch sein Directions-Talent zur Geltung zu bringen. In das Ende des Aufenthaltes in Cöln (1860 und 1861) fällt auch die Entstehung der Oper „Loreley.“

Mit diesem Werke schliesst im musikalischen Leben Bruch’s eine Periode ab und eröffnet sich zugleich eine neue Phase seines künstlerischen Schaffens. Auch äusserlich tritt um diese Zeit ein Abschnitt ein. Die Composition der Oper, in dem schon von der ersten Jugendperiode an sich Bahn brechenden Drang nach grossen musikalischen Formen, namentlich nach musikalisch-dramatischer Gestaltung, und im Feuer einer ganz ungewöhnlichen Begeisterung schnell concipirt und ausgeführt, hatte die Thätigkeit des Künstlers in fast übergrossem Maasse in Bewegung gesetzt, und naturgemäss musste bei dieser Art des Schaffens in dem Künstler das Bedürfniss nach einem Gegensatz, nach einem geistigen Ausruhen entstehen. An grössere Compositionen war aber auch ohnedies zunächst nicht zu denken, denn die Aufführung des neuen Werkes auf der Bühne, um die es doch dem Componisten vor allen Dingen zu thun sein musste, stiess auf anscheinend fast unbesiegbare formelle Schwierigkeiten. Der Dichter des bekanntlich ursprünglich für Mendelssohn bestimmten Textbuches, Emanuel Geibel, der sich seine Rechte bei dem späteren Veröffentlichen seines Werkes den Componisten und Bühnen gegenüber ausdrücklich vorbehielt, hatte seit Mendelssohn’s Tode unzählige Anfragen von Componisten erhalten und mochte wohl dadurch in eine, auch für Bruch ungünstige Lage gedrängt worden sein. Kurz, die Erlaubniss, das Werk über die Bühne gehen zu lassen, war, brieflich wenigstens, nicht zu erlangen. Es blieb dem Componisten daher nur noch die Hoffnung, durch das Werk selbst einen Einfluss nach dieser Richtung hin auszuüben. Da es nun ohnehin schon im Plane lag, theils, wie wir sahen, zur Erholung, theils aber auch zum Ansammeln von neuen Kenntnissen eine grössere Reise durch Deutschland zu machen, so konnte dies jetzt um so freudiger unternommen werden, als auch München, wo Geibel damals lebte, in den Kreis der zu besuchenden grossen Städte gezogen wurde.

Zunächst führte nun der Weg nach Berlin, dann wieder nach Leipzig und von dort über München nach Wien. Ueberall trat Bruch mit den bedeutendsten Künstlern und Dirigenten in mehr oder weniger lebhaften Verkehr und lernte die Kunstzustände der verschiedenen Hauptstädte und Hoftheater kennen. Das Hauptresultat der Reise aber war, dass durch das persönliche Bekanntwerden des Dichters mit dem Componisten und seiner Oper die „Loreley“ aus ihren literarischen Banden erlöst wurde. – Die Oper erlebte dann ihre erste Aufführung am 14. Juni 1863 in Mannheim unter Vincenz Lachner’s trefflicher Leitung, sie wurde mit Sorgfalt und schöner äusserer Ausstattung in Scene gesetzt, von den Mitwirkenden begeistert executirt und erregte bei den Zuhörern stürmischen Beifall. Von Mannheim aus fand die „Loreley“ den Weg zu vielen anderen deutschen Bühnen, sie wurde wiederholt aufgeführt in Hamburg, Leipzig, Cöln, Prag, Weimar, Gotha und Mainz. Die Mannheimer Bühne bot wegen ihres damals ausgezeichneten Repertoires und der dadurch eröffneten günstigen Gelegenheit zu eingehenden Theater- und Orchesterstudien, dann aber auch in Hinsicht auf den bewährten Capellmeister Vincenz Lachner für den strebsamen Operncomponisten ganz besondere Anziehungspuncte, und so wurde die Zeit von 1862 bis 1864 dort mit fleissigen Studien, namentlich für die Bühne, zugebracht. Ausserdem beschäftigte Bruch sich während seines Mannheimer Aufenthaltes in eingehender Weise mit dem Volksliede, dem er eine längere Zeit fast ausschliesslich widmete. Eine Folge hiervon war zunächst die Herausgabe der zwölf schottischen Volkslieder (ohne Opuszahl bei Leuckart erschienen); ferner entstanden während des Mannheimer Aufenthaltes: zehn Lieder (3 Hefte), Op. 17; vier Lieder, für Bariton, Op. 18; zwei Hefte Männerchöre, Op. 19 (darunter Heft I „Römischer Triumphgesang“); „Die Flucht der, heiligen Familie“ (Gedicht v. Eichendorff), für gem. Chor und Orchester Op. 20; „Gesang der heiligen drei Könige“, für 3 Männerstimmen und Orchester, Op. 21, und vor allen Dingen der Entwurf zu derjenigen Composition, welche als eigentliche Frucht der Studien der letzten Jahre seit der Entstehung der „Loreley“ bezeichnet werden muss, zum „Frithjof“. Mit diesem, im Jahre 1864 componirten grösseren Werk (Op. 23) für Männerchor, Solostimmen und Orchester führte der Componist seine Muse im Triumph durch die Welt, denn in kurzer Zeit erlebte „Frithjof“ in allen, nur einigermaassen namhaften Städten. Deutschlands, selbst in. England,. Russland und Amerika. von grossem Erfolge begleitete Aufführungen Die erste fand in Aachen im Novbr. 1864 unter des Componisten Leitung bei Gelegenheit der Stiftungsfeier der „Concordia“ statt und zündete gleichauf das Entschiedenste bei Chor und Publicum. Dasselbe Resultat bei den während der Reisen Bruch’s von 1864 auf 1865 im Pauliner Concert und im Gewandhause in Leipzig. sowie in Wien unter seiner Direction stattgehabten Aufführungen.

Das Frühjahr 1865 führte Bruch nach Paris, und auch hier erregte sein „Frithjof“ unter den namhaftesten Künstlern, mit denen der Componist in Verkehr stand (u. A. Berlioz, Rossini), das lebhafteste Interesse. Namentlich der Letztere liess sich wiederholt vom Componisten die „Frithjof“-Scenen vorspielen und äusserte in liebenswürdigster Weise seine warme Theilnahme an der gelungenen Schöpfung. Auf den Künstler selbst konnten die ausserordentlichen Erfolge des „Frithjof“ eine nachhaltige Rückwirkung nicht verfehlen. Er durfte sich sagen, dass er nach jahrelangem Streben und ernsthaftem Nachdenken nicht nur das Richtige getroffen, sondern auch in einer Weise getroffen hatte, welche seinen Beruf zum schaffenden Künstler unzweifelhaft feststellte. Das Bedürfniss nach einem gesicherten Wirkungskreise veranlasste indessen fürs Erste seine Mitbewerbung um die zu jener Zeit freigewordene Musikdirectorstelle in Coblenz. Im Herbst 1865 wurde Bruch daselbst als Musikdirector eingesetzt und wirkte in seiner neuen Stellung his zum Frühjahr 1867. Er trug viel zur Hebung der vorgefundenen musikalischen Verhältnisse bei, die Concerte gewannen ein glänzenderes Ansehen, Künstlerinnen wie Frau Schumann, Frau Szarvady wurden durch ihn hingezogen, und die Programme brachten manche interessante Novität. Die Königin Augusta von Preussen, welche damals ihren Hof in Coblenz hatte, zeichnete den Künstler mehrfach in huldvollster Weine aus und zollte seinen Bestrebungen die lebhafteste Anerkennung.

Ob der landschaftliche Charakter der Umgebung von Coblenz mit der majestätischen Veste von Ehrenbreitstein und die kriegerischen Ereignisse des Jahres 1866 befruchtend auf die Phantasie des Componisten eingewirkt und einen Antheil an den um diese Zeit entstandenen Werken gehabt haben, wollen wir unentschieden lassen; doch ist es wohl mehr als ein blosser Zufall, dass gerade während des Coblenzer Aufenthaltes 1866 „Schön Ellen“, für Solo, Chor und Orchester, Op. 24, und „Salamis“, Siegesgesang der Griechen, für Männerchor und Orchester, Op. 25, das Licht der Welt erblickten. Zugleich konnte Bruch kaum einen schöneren Beweis der Vielseitigkeit seines Schaffens liefern, als durch die Composition des Violinconcertes, Op. 26, welches ebenfalls dieser Periode seine Entstehung verdankt. Ferner verzeichnen wir noch, als dem Jahre 1867 angehörig, „Frithjof auf seines Vaters Grabhügel“, Concertscene für Baritonsolo, Frauenchor und Orchester, Op. 27.

Von Coblenz aus folgte Bruch einem ehrenvollen Rufe als Hofcapellmeister nach Sondershausen. In der Umgebung eines kunstfreundlichen Hofes, begleitet in seinem Schaffen von dem warmen Antheil der durch feines künstlerisches Verständniss, wie durch seltene Begabung der musikalischen Reproduction gleich ausgezeichneten Prinzessin Elisabeth von Schwarzburg-Sondershausen, im täglichen Verkehr mit der unter seiner Leitung stehenden, ganz vortrefflichem, Capelle verlebte Bruch hier seit 1867 bis vor Kurzem, wo er die Stellung aufgab, eine für die musikalische Literatur segensreiche Zeit, der wir die erste Symphonie, Es dur, Op. 28; „Rorate coeli“ für gemischten Chor und Orchester, Op. 29; „Die Priesterin der Isis in Rom“, für Alt und Orchester, Op. 30; „Die Flucht nach Egypten“ und „Morgenstunde“, für Sopransolo, Frauenchor und Orchester, Op. 31: „Normannenzug“, für Männerchor und Orchester, Op. 32; vier Lieder für Bariton, Op. 33; „Römische Leichenfeier“, für Männerchor und Orchester, Op. 34; „Kyrie, Sanctus und Benedictus“, für gemischten Chor und Orchester, Op. 35, und die zweite Symphonie., F-moll, Op. 36, verdanken, eine stattliche Reihe bester Zeugnisse der nunmehr zur vollen Meisterhaftigkeit gediehenen Künstlerschaft Bruchs.

Ausser diesen genannten Compositionen erwuchsen dem Sondershausener Aufenthalte noch mehrere, bis jetzt nicht an die Oeffentlichkeit gelangte Werke von grösserem Umfange, darunter eine neue Oper „Hermione“ (nach Shakespeare’s „Wintermärchen“), welche im nächsten Frühjahr ihre erste Aufführung, und zwar in Leipzig, erleben wird.

Aus diesen biographischen Umrissen können wir uns wohl mit Recht das Bild eines für den 32jährigen Künstler äusserst reichen und blühenden Schaffens entwerfen. Gleichwohl finden wir bei näherer Betrachtung der Compositionen, dass wir es hier nicht mit einer tropischen Fruchtbarkeit, mit einem übersprudelnden Bronnen, wie etwa bei Schubert, zu thun haben, der sich seiner musikalischen Gedanken kaum zu wehren wusste, sondern Alles ist mehr mit Wahl aus dem Schacht des musikalischen Gemüths hervorgehoben und sorgsam geläutert ans Licht gebracht. Wenn auch die Bruch’schen Compositionen, bei der überaus gewandten Behandlung alles Formellen, nicht auf den ersten Blick die Verstandesthätigkeit des Künstlers verrathen, so beruht ihre Wirkung doch zum Theil auf einem stets mit Bewusstsein auf das Ideale gerichteten Streben. Es ist ein Merkzeichen des Bruch’schen Schaffens, dass der Künstler sich stets wirklich als Künstler zeigen will, d. h. dass er die Kunst um ihrer selbst willen ausübt, dass bei seinen Werken die erste und letzte Absicht die Schönheit ist. Wiewohl sich dies bei jedem Künstler von selbst verstehen sollte, so glauben wir diese Seite der Bruch :sehen Art doch besonders hervorheben zu müssen, namentlich da sie im Gegensatze zu so mannichfach ausgearteten Bestrebungen unserer Zeit nach vorwiegender Charakteristik steht. Nicht dass wir Bruch das charakteristische Element in seinen Tonschöpfungen absprechen wollten, – er weiss mit Meisterhand zu charakterisiren, und warum sollte das Charakteristische nicht auch zugleich schön sein können –, aber das Wohlgefallen, welches seine Werke in dem Zuhörer hervorbringen, beruht zunächt auf der gesetzmässigen Uebereinstimmung, dem logischen Zusammenhang und dem ungestörtem Gleichgewicht aller einzelnen Glieder, welche sich wie absichtslos und naturgemäss zu einem organischen Ganzen fügen. Es ist das feine Ohr für den schönen Klang, für den Wohllaut in Hinsicht auf das harmonische wie instrumentale Element, das sichere Gefühl für die symmetrische Anordnung in der Gliederung und die Abrundung der grossen äusseren Form, welche den Bruch’schen Compositionen einen jener Mozart’schen und Mendelssohn’schen Schönheit verwandten Charakter verleiht. Dabei ist aber die Vertiefung in das Seelische, wenn er aus seinem eigenen Innern schöpft oder Situationen Anderer schildert, nicht minder ein bezeichnendes Moment in seinen Tonschöpfungen. Die Wahrheit des Ausdrucks, welche Bruch in hohem Maasse eigen, ist, reisst den Zuhörer unwiderstehlich fort und versetzt ihn in Stimmungen von ganz eigenartiger, charakteristischer Färbung. So versteht es der Componist namentlich, ausser den psychologischen Schilderungen, den Ton anzuschlagen, der die Empfindungen von grossen Massen, die durch ein gewaltiges Ereigniss in Bewegung gesetzt werden, in objectiv klarer, plastisch hervortretender Gestalt abspiegelt. Auch landschaftliche Stimmungen weiss er oft als trefflichen Localton oder Hintergrund in seinen Gesangwerken wiederzugeben und zu verwerthen, wie Jeder zugeben wird, der z. B. den nordischen „Frithjof“ mit dem griechischen „Salamis“ vergleicht. Ueberhaupt neigt Bruch’s Naturell mehr zur Darstellung in grossen Zügen, als zur Detailmalerei, und im Zusammenhang damit steht seine Vorliebe für das Orchester und die grosse Gesangmusik, namentlich die dramatische, während die Kammermusik und das Clavier ihn weniger zu künstlerischen Aeusserungen einladen: Damit aufs innigste verbunden ist ferner der ganze Charakter seiner Melodik.

Es kann, meinen wir, kaum geleugnet werden, dass das heutige Modeinstrument, das Clavier, einen entschiedenen Einfluss auf die Art der musikalischen Ausdrucksweise unserer Zeit, namentlich seit Schumann, ausgeübt hat. Bei weitem die meisten Tonwerke der letzten Jahrzehnte sind unwillkürlich aus dem Clavier heraus componirt, auch wenn sie nicht für dieses Instrument bestimmt waren. Vielleicht ist es diesem Umstande vorzugsweise zuzuschreiben, dass so manche grössere neuere Werke, trotz vieler schöner Einzelheiten, im Ganzen doch an einer gewissen Engbrüstigkeit und, namentlich in ihrem melodischen Theil, an einer Kurzathmigkeit leiden, welche wir bei den Compositionen aus den Tagen vor der Clavierperiode bei weitem nicht in so auffallendem Maasse aufzufinden vermögen. Nicht so bei Bruch; die Rahmen seiner grösseren Werke sind weitgespannt, und man freut sich, bei ihm einmal wieder langathmigen, schwungvollen Melodien zu begegnen, welche den grossen Formen und der Ausführung durch Massen, wie sie Orchester und Chor bieten, in• gleich richtiger Weise entsprechen, Seinen Gesangcompositionen wohnt eine melodische Kraft inne, welche von echt deutscher Art ist und deutlich auf das Volkslied hinweist. Ihr verdanken die meisten seiner Gesangwerke, namentlich „Frithjof“ und „Schön Ellen“, zum nicht geringen Theil ihre zündende Wirkung und schnelle Verbreitung.

Wir wollen aber hier nicht unerwähnt lassen, dass neben dieser entschiedenen Lichtseite in dem Charakter der Bruch’schen Compositionen während einer längeren Periode seines Schaffens die Befürchtung aufkommen durfte, es möge sich ihr gegenüber auch eine Schattenseite ausbilden. Von der Entstehung der Streichquartette an bis zu der Herausgabe der ersten Symphonie finden wir nämlich unter den verschiedenen Werken, etwa mit Ausnahme des „Gesanges der heiligen drei Könige“, keines, welches sich durch eine wesentlich polyphone Behandlung der Stimmen oder eine contrapunctische Bearbeitung seiner Motive auszeichnet, wenn schon die Stimmführung stets eine feine und gewandte genannt werden muss.

Man durfte, wie gesagt, während dieser beinahe achtjährigen Periode die Befürchtung hegen, der Componist setze sich der Gefahr aus, einer exclusiv melodischen Richtung zuzuneigen, aber das Erscheinen der Esdur-Symphonie und des „Rorate coeli“ waren eine sichere Bürgschaft dafür, dass die Erkenntniss, dass nur aus der ehelichen Vereinigung des Melodischen mit dem Contrapunctischen das Heil der musikalischen Kunst zu erwarten ist, dem Componisten über seinen letzten, vorzugsweise melodisch ausgearbeiteten Werken keineswegs abhanden gekommen war. Seit dieses Zeit können wir nun in allen grösseren Werken Bruch’s mit Bestimmtheit das Durchdrungensein des Künstlers von jener Wahrheit verfolgen, und somit dürfen wir uns auch nach dieser Richtung hin den höchsten Erwartungen für noch Bevorstehendes hingeben.

(Fortsetzung folgt.)

Unter den von uns namhaft gemachten, bis jetzt veröffentlichten Compositionen Bruch’s finden wir 5 Clavier-, 5 Instrumental- und 27 Gesangnummern. Die Compositionen für Clavier allein zeichnen sich, wie alle Bruch’schen Sachen, durch eine Noblesse in der Erfindung und durch fliessende Structur aus, ohne indessen in Hinsicht auf die eigentliche Claviertechnik wesentlich Neues zu bringen. Sie gehören auch ohne Ausnahme der ersten Periode seines Schaffens an und seit den beiden Clavierstücken Op. 14 („Romanze“ und „Phantasiestück“) hat Bruch sich gänzlich von diesem Gebiet abgewandt. Wir verweilen bei diesen Werken hier nicht, um dem Bedeutenderen unter seinen Schöpfungen zuzueilen, doch wollen wir nicht von ihnen scheiden, ohne auf das Phantasiestück in Op. 14 aufmerksam gemacht zu haben, das sich durch den poetisch empfundenen, fein behandelten Mittelsatz in F-moll, der wirkungsvoll gegen den übrigen, etwas brillanten Theil contrastirt, auszeichnet und auch zu öffentlichem Vortrage geeignet sein dürfte. Zu den Claviercompositionen zählten wir auch das Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell, Op. 5, welches, obschon es zu den frühesten Jugendwerken gehört, dennoch ein beredtes Zeugniss ablegt von ungewöhnlichem Erfindungstalent und überall den Ernst zu Schau trägt, dem der Künstler bei seinem Schaffen bis zu seinen letzten Werken unverbrüchlich treu geblieben ist. Der erste Satz des Trios ist ein Andante molto cantabile in C-moll, von etwas schwermüthiger Stimmung, dem sich ein, in mild-heitere, graziöse Töne getauchtes Allegro assai in G-dur als zweiter Satz anschliesst. Das Finale (Presto, C-moll) hat einen brausenden, stürmischen Charakter, wie ihn Bruch auch bei manchen seiner späteren letzten Sätze liebt. Im Finale des Trios steigert sich das Leidenschaftliche freilich bis zum Himmelstürmende der Jugend, das man sich aber gefallen lässt, weil man bereits durchfühlt, dass hier zum Verbessern weniger hinzu- als abgeschrieben werden braucht. Viel reifer spricht sich der Künstler schon in dem ersten Streichquartett, Op.9, aus. Wir merken zwar in Form und Inhalt das Studium der späteren Beethoven’schen Quartette durch, aber keineswegs fehlt es den vier Sätzen an Kraft der Erfindung und eigenem Gestaltungsvermögen. Auch sind dem Charakter der Instrumente schon die vortheilhaften Seiten abgelauscht, und die später bei Bruch hervortretende glänzende Instrumentalbehandlung lässt sich in ihren Anfängen bereits erkennen. Die quartettmässige Polyphonie der vier Stimmen ist in dem folgenden Quartett, Op. 10 (E-dur), bedeutend mannichfaltiger entwickelt und zu einer gewissen Reife gediehen, die Motive sind in ihrer Erfindung glücklich dem Quartettstil, wie er seit Beethoven feststeht, angepasst, an sich edel und eigenartig, und die Form erscheint abgerundeter und knapper. Jeder wird die Quartett mit Interesse anhören und dabei mit uns wünschen, dass der Componist sich nicht für immer dem Streichquartett möge abgewandt haben. Bei seiner jetzigen Meisterschaft dürfte auf diesem Gebiete Schönes und Bedeutendes von ihm mit Recht erwartet werden. – Nach einer längeren Pause, die freilich durch die gewichtigen Gesangwerke der mittleren Periode ausgefüllt wird, begrüssen wir im Bereiche der Instrumentalmusik das Violinconcert, welches im Frühjahr 1868 erschien, nachdem es vom Componisten mehrere Jahre hindurch bei Seite gelegt, ausgearbeitet und ausgefeilt worden war. Das Violinkonzert nimmt unter den Instrumentalcompositionen Bruch’s ungefähr dieselbe Stellung ein, welche unter den Gesangwerken dem „Frithjof“ zuerkannt werden muss. Durch Joachim eingeführt, hat es schnell die Runde durch Deutschland, England, Belgien, Russland und andere Länder gemacht, und kaum gibt es einen bedeutenden Violinspieler, der das Bruch’sche Concert nicht zu seinem Repertoire zählte. Dieses Werk zeichnet sich ebenso durch seinen musikalischen Gehalt, wie durch die wirkungsvolle Behandlung der Solostimme und die meisterhafte Bescheidenheit der Orchesterbegleitung aus, drei Eigenschaften, welche man so selten in einem Concert vereinigt findet. Das Adagio bildet den Schwerpunct der Composition und würde allein hinreichen, den Namen des Componisten der Nachwelt zu überliefern.

Dem Violinconcert folgen in der Reihe der Instrumentalwerke die beiden Symphonien in Es-dur und F-moll. Die Esdur-Symphonie hat ebenfalls schon die Runde durch die musikalische Welt gemacht und ist überall als ein Werk von ungewöhnlicher Bedeutung erkannt worden, was schon allein aus dem Kriege, den es unter den Kritikern heraufbeschworen, gefolgert werden darf. Es ist hier nicht unsere Aufgabe, auf die verschiedenen Beurtheilungsweisen, die nicht immer in loyalen Grenzen blieben, einzugehen. Was wir über die Symphonie früher an anderer Stelle gesagt, können wir hier nur wiederholen. Der erste Satz fliesst wie ein breiter, glatter Strom dahin; sein Charakter ist mehr der der ruhigen Beschaulichkeit, als der des bewegten Lebens, wenn auch im zweiten Theile eine feurige Passage der Geigen hereinbraust und die Wogen höher gehen macht. Die Motive sind einfach, aber innig und edel, die Gliederung derselben wie ein feines, kunstvolles, doch durchsichtig klares Gewebe. Ihm folgt das Scherzo, ein in glücklichster Stunde entstandenes Musikstück, voll Uebermuth und Humor, mit prägnanten, urwüchsigen Motiven. Es ist seiner Wirkung gewiss und musste bei den meisten Aufführungen wiederholt werden. Der dritte und vierte Satz hängen zusammen; das Grave, welches das Finale einleitet, hat etwas eigenthümlich Erregtes, der leise Klang der tiefen Posaunentöne verlieht dem Colorit einen düsteren, fast schauerlichen Charakter, und aus der ahnungsvollen Spannung, in welcher uns das Grave erhält, ringt sich das aufbrausende und leidenschaftlich fortstürmende Motiv des Allegro guerriero nach und nach los, bis es, immer mehr Instrumente mit sich überreissend, endlich sich in kriegerischer Pracht entfaltet. Mit diesem Motiv steht das zweite in starkem Gegensatze; während das erste in bewegtestem Rhythmus weiter und weiter stürmt, sucht das zweite diese Bewegung zu hemmen und mit magischer Gewalt in seinen Kreis zu ziehen. Durch das wechselseitige Anziehen und Abstossen der beiden Motive wird die technische Structur des Finales sowie sein Charakter wesentlich bedingt. Ob durch das zweite Hauptmotiv, das eine scharf ausgeprägte dramatische Physiognomie besitzt, dem streng symphonischen Charakter des Satzes Abbruch gethan wird oder nicht, wollen wir einstweilen noch als eine offene Frage hinstellen. Es kommt dabei wesentlich auf die Art der Ausführung an.

Die zweite, soeben der Oeffentlichkeit übergebene Symphonie in F-moll führt uns in ganz andere Regionen, sie erschliesst uns noch weit mehr, als die erste, einen „Blick in die Geheimnisse der Geisterwelt“. Wir kennen kaum ein Werk Bruch’s, durch das trotz der klaren Objectivität, mit welcher die Gedanken ausgesprochen werden, ein so unverkennbarer Zug subjectiven Schaffens geht, wie durch diese Symphonie, namentlich durch den ersten Satz. Es ist das Gefühl der Leere wie nach einem grossen Seelenschmerz, ein Hinstarren und Versunkensein in Leide, das uns gleich im Anfang entgegentritt, die Fortissimo-Schläge, welche das Motiv unterbrechen, erscheinen wie Ausrufe der Verzweiflung, wie ein plötzliches Erwachen aus dem düsteren Hinbrüten, das wieder im nächsten Motiv einer wehmüthigen Erinnerung an verlorenes Glück weicht. Es ist mit jenen, also auf uns wirkenden Stimmungen noch das gewaltsame, aber vergebliche Ringen nach Fassung verbunden, welches sich in dem aus Theilen des ersten Motivs neugebildeten Gedanken, der den Rückgang zum Hauptthema einleitet ausspricht, und aus diesen seelischen Elementen, die sich bis zur schwärmerischen Erregtheit steigern, zum Schluss aber wieder bis zur Ermattung herabsinken, ist der erste Satz gebildet. Die Subjectivität drückt sich in diesem, der Form nach ebenso harmonischen, als der Harmonik, Instrumentation und Factur nach plastischen Orchestersatz keineswegs auf pathologische Weise aus, der Künstler steht nicht mehr unter dem fieberhaften Einfluss seiner Gefühle, sondern, indem er sein Werk schuf, klärt sich zugleich die Gemüthsstimmung bei ihm gänzlich ab, der Sturm hat sich gelegt, die schweren Wolken ziehen vorüber und die durchbrechende Sonne verwandelt durch ihre Strahlen Alles zu Schönheit. So manches herrliche Goethe’sche Gedicht, so manche unvergleichliche Composition Beethoven’s bildet auf diese Weise den Abschluss eines inneren Kampfes, einer gewaltigen Erregung in der Brust des Dichters; uns kam diese Art des Schaffens unwillkürlich in den Sinn nach dem Anhören des ersten Satzes der Fmoll-Symphonie, der als ein wahrer lyrischer Ausdruck des innerlich Erlebten dasteht, soweit dies der künstlerischen Gestaltungskraft unterliegt. Die Symphonie hat kein Scherzo, eine in unserer Zeit um so bemerkenswerthere Erscheinung, als gerade die seit Beethoven erweiterte und festgestellte und von Mendelssohn so sein benutzte Form des modernen Scherzos von den heutigen Componisten mit besonderer Vorliebe und mit dem meisten Erfolge ausgebeutet wird. Dem ersten Allegro folgt ein Adagio (C-moll). Man kann das Adagio, im Gegensatz zum Scherzo, wohl als diejenige Form bezeichnen, in welcher heutzutage die wenigsten Componisten Gelungenes zur Erscheinung zu bringen wissen. Bruch dagegen hat schon in dem Violinconcert gezeigt, dass er zu den Auserlesenen gehört, die noch ein Adagio schreiben können, und auch in dem der Symphonie erblicken wir wieder ein ebenso glänzendes Zeugniss für die echte, unversiegbare Erfindungskraft des Componisten. In der Form gross angelegt und weit ausgedehnt, schliesst sich das Adagio in der Stimmung dem ersten Satze eng an. Es ist die Klage, das Ringen nach Ergebung und Fassung, das Flehen um Trost, die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden, welche diesen Satz charakterisiren, und das Hauptmotiv des mit dem Adagio äusserlich in Verbindung stehenden Schlusssatzes (Allegro tranquillo), das nach einer kurzen Einleitung in F-dur eintritt, bringt den erflehten Trost und die ersehnte Ruhe. Es weht uns besänftigend daraus an, wie die Erfüllung der Bitte:

„Süsser Friede,
Kommm, ach komm in meine Brust.“

Die Klangfarbe, in der das ruhig getragene Motiv, eine ausgebildete Melodie von 15 Takten, auftritt, die tiefe Lage der beiden Geigen, welche die Melodie unisono vortragen, das Alles erhöht und vervollständigt den Eindruck der Milde und Innigkeit, von welchen der Gedanke selbst eingegeben ist. Das zweite Thema gleicht einem Wiederaufathmen in frischer Lebensluft, die Tonart modulirt nach dem sonnigen A-dur, – im Orchester wegen der Streichinstrumente stets von besonders klaren, durchsichtigen Colorit, – und neues Hoffen, verjüngte Kraft nach überwundenem Leid, männlicher Entschluss bekämpfen siegreich die wieder auftauchende Erinnerung an den Schmerz, der im ersten Satz unsere Theilnahme erregt hat. So sehen wir die drei Sätze in einem genauen inneren Zusammenhang mit einander stehen: das Düstere, Ungestüme des ersten Satzes zerfliesst in das Klagende des zweiten, welches sich in dem dritten zu einer Art von feierlicher Würde erhebt. Ein Tonkünstler, der „mit unserem Herzen sprechen und sympathische Regungen in ihm erregen will, muss ebensowohl Zusammenhang beobachten, als Jemand, der unseren Verstand zu unerhalten und zu belehren denkt. Ohne Zusammenhang, ohne die innigste Verbindung aller und jeder Theile ist die beste Musik ein eitler Sandhaufen, der keine dauerhaften Eindrucks fähig ist; nur der Zusammenhang macht sie zu einem festen Marmor, an dem sich die Hand des Künstlers verewigen kann.“ Also schrieb am 31. Juli anno 1767 der Hamburger Dramaturg über – die vorliegende Symphonie. Von den grossen technischen Schönheiten der Symphonie, der feinen inneren Organisation und Structur, der fliessenden, breiten Melodik, reichen Harmonie, interessanten Rhythmik sowie von den schönen Klangmischungen, an denen die, den Gedanken scharf umgrenzende Instrumentation so reich ist, wollen wir hier nicht eingehender sprechen. Es wäre dies mehr Sache eines besonderen Artikels. Wir haben aber geglaubt, durch Mittheilung der allerdings individuellen Eindrücke, welche diese schöne Orchestercomposition auf uns gemacht hat, am besten ein Gesammtbild des Kunstwerks skizziren zu können. Denn wie verschiedenartig auch im Einzelnen die Wirkung eines Instrumentalwerkes auf das Individuell sein möge, der Grundton, aus dem das Kunstwerk hervorgegangen, wird um so mehr bei Allen denselben Widerhall finden, jemehr der Künstler seine Absicht erreicht hat. „Die Absichten eines Tonkünstlers merken“, sagt Lessing, „heisst ihm zugestehen, dass er sie erreicht hat“. Möge daher das Publicum beurtheilen, ob wir so gehört haben, wie alle Anderen hören.

[Der originale Wortlaut bei Lessing: »Wer mit unserm Herzen sprechen, und sympathetische Regungen in ihm erwecken will, muß eben sowohl Zusammenhang beobachten, als wer unsern Verstand zu unterhalten und zu belehren denkt. Ohne Zusammenhang, ohne die innigste Verbindung aller und jeder Teile, ist die beste Musik ein eitler Sandhaufen, der keines dauerhaften Eindruckes fähig ist; nur der Zusammenhang macht sie zu einem festen Marmor, an dem sich die Hand des Künstlers verewigen kann«. – 27. Stück]

(Schluss folgt.)

Wir gehen nun zu den Gesangwerken Bruch’s über, welche ohne Frage den Ruf des Componisten in der musikalischen Welt am frühesten gegründet haben. Von welcher Art die Bruch’sche Melodik ist, suchten wir schon näher zu bezeichnen. Es ist, um es kurz zu wiederholen, die Einfachheit, Gesundheit, Wahrheit und Schönheit des Ausdrucks, wie sie das Volkslied kennzeichnet, welche bei Bruch’s Gesangwerken angestrebt und erreicht wird, namentlich seit der Herausgabe der schönen schottischen Volksmelodien, sodass die Veröffentlichung derselben gewissermaassen als ein musikalisches Glaubensbekenntniss betrachtet werden kann. Vor dieser Zeit entstanden ausser den beiden Opern, auf welche wir später zurückzukommen gedenken, das „Jubilate amen“, „Die Birken und die Erlen“, Duette, dreistimmige Gesänge und 3 Hefte Lieder. In den Liedern ist von den zuerst erschienenen, Op. 7, auf die dann folgenden Op. 15 und von diesen wieder auf die drei Hefte, Op. 17, jedesmal ein grosser Fortschritt in der Entfaltung der Eigenartigkeit zu bemerken. Während die ersteren im Ganzen der Mendelssohn’schen Weise nicht fern stehen, eigen die mittleren schon feinere, selbständigere Charakteristik, wenn auch nicht ohne Anklänge an Schumann, während in den letzteren endlich schon manches echt Bruch’sche Tonbild zu finden ist, wie z.B. „Verlassen” und „Parte la nave”.

Bemerkenswerth ist es, dass schon in Op. 3 „Jubilate amen“ für Solo, Chor und Orchester diesselben Züge in der musikalischen Handschrift Bruch’s zu erkennen sind, welche sich später so scharf und ihm allein eigen ausgebildet haben. Das frühe Opus ist künstlerisch selbständig, lehnt sich an keinen bekannten Stil an und bezeugt schon den angebornen Takt für die richtige kunstgemässe Verwendung des gegebenen Materials. In den „Birken und Erlen“ spricht sich diese Eigenschaft noch bestimmter aus, im „Römischen Triumphgesang“ (Gedicht von Lingg) aber und in der „Flucht der heiligen Familie“ (von Eichendorff) haben wir es schon mit dem freieren Fluge einer Phantasie zu thun, deren weite Schwingen eine gereifte Künstler-Individualität verrathen. Der „Römische Triumphgesang“ (für Männerchor und Orchester) ist ein Musikstück von heroischem Charakter; die Siegesfreude des römischen Heeres findet hier im grossartigen Stil ihren feierlichen Ausdruck. Der Künstler versteht es, uns mit kraftvoller Hand in eines jener historischen Siegesfeste zu versetzen, welches die damaligen Weltbeherrscher mit allem Aufwand äusserer Pracht und glänzenden Pompes in Scene zu setzen pflegten. In eine ganz andere Umgebung entrückt uns die „Flucht der heiligen Familie“ für gemischten Chor und Orchester. Es geht ein zarter Hauch poetischer Empfindung durch das feierliche Bild der in Dämmerung versinkenden schönen Natur, erwärmt durch den mystischen Zauber, mit dem die Legende die Pflanzen- und Thierwelt an der „Flucht der heiligen Familie“ theilnehmen lässt, und emporgehoben endlich zur begeisterten Andacht: „O gebenedeite Zeit”. Die sich an die christliche Mystik anlehnende Poesie hat Bruch zu mehreren Compositionen angeregt. Unter ihnen zeichnet sich der „Gesang der heiligen drei Könige“ (Gedicht von Schenkendorf) durch eine besonders feine Arbeit, durch eine interessante Polyphonie in der Führung der begleitenden Stimmen und durch ein eigenthümlich mystisches Clair obscur im Colorit aus, welches über der ganzen Composition ausgebreitet ist. Zu den geistlichen Gesangwerken dieser Art gehört auch das in seinem Gegenstande mit der früher besprochenen „Flucht der heiligen Familie“ von Eichendorff ganz übereinstimmende Tonstück, No. 1 aus Op. 31, „Die Flucht aus Egypten“ (Gedicht von Reinick) für Sopransolo, Frauenchor und Orchester. Die unvergleichliche Vielseitigkeit des musikalischen Ausdrucks für nahverwandte Gegenstände und die der Musik eigene Kraft der poetischen Erweiterung des Wortes wird uns durch die interessante Zusammenstellung dieser beiden Werke aufs Treffendste klar. In der Grundstimmung einander ziemlich gleich, selbst in den einzelnen Bildern von grosser Aehnlichkeit, haben die beiden Dichtungen doch zwei ganz verschiedene musikalische Tonbilder hervorgerufen, welche aber beide gleiche poetische Berechtigung haben. Während nämlich in der ersteren Composition mehr der mystische, schwärmerisch-religiöse Ton festgehalten wird, drückt die letztere vorzugsweise die Frühlingsstimmung aus, welche durch das Bilder der zum Empfang der Mutter mit ihrem Kinde, „der Lust der Welt“, sich schmückenden und aufjubelnden Natur hervorgerufen wird. – Zu den geistlichen Chorwerken gehört auch das vor nicht langer Zeit erschienene „Rorate coeli“. Der Text ist ein altes lateinisches, von Simrock übersetztes Kirchenlied und drückt ein leidenschaftliches, glühendes Verlangen nach dem Heilande, dem Tröster im Jammer und Erlöser aus dem Elend, aus. Eine urwüchsige Macht der Poesie spricht aus den sich an grosse Naturerscheinungen anlehnenden Bildern, und in diesen, wie in der ganzen Grundstimmung bietet das Gedicht dem Componisten einen prächtigen Stoff zur musikalischen Verwerthung dar. Das Gedicht ist der Zeit schwärmerischster frommer Begeisterung entsprungen, und aus diesem Grundton heraus weiss auch der Componist in breiten Zügen seine musikalischen Gedanken zu gestalten. Schönheit und Fluss der Melodie ist in diesem Werk gepaart mit kunstvoller Durcharbeitung des Technischen und Formalen, äusserer Wohlklang verbunden mit interessanter Stimmführung und Verschlingung der Hauptmotive, und in glücklichster Vereinigung all dieser Elemente ist der Aufbau des Ganzen mit einer Sicherheit und Freiheit ausgeführt, dass wir keinen Anstand nehmen, das „Rorate coeli“ zu den bedeutendsten der bis jetzt bekannten Gesangwerke Bruch’s zu rechnen.*) Mit ihm auf gleicher Stufe künstlerischer Vollendung stehen die drei zusammengehörigen Stück: Kyrie, Sanctus und Benedictus für gemischten Chor und Orchester, Op. 35. Die Bedeutung dieser Composition wurde bereits in No. 8, 9 und 10 des gegenwärtigen Jahrgangs dieser Zeitung von kundiger Hand aufs trefflichste ins Licht gesetzt, und dürfen wir uns daher hier darauf beschränken, auf diese ebenso sorgfältige und gründliche, als von feinem Verständniss zeugende Besprechung zu verweisen.

Sind in diesen geistlichen Compositionen die tiefen Accorde frommer, poetischer Empfindung angeschlagen, so weiss der Tondichter in vielen seiner übrigen Werke für Chor und Orchester mit derselben Gestaltungskraft, mit derselben überzeugenden Wahrheit der straff gespannten, helltönenden Saiten ächten Mannes- und Heldenmuth erklingen zu lassen und die Sprache des kriegerischen Geistes aus grossen historischen Zeiten zu uns zu reden. „Frithjof“, „Schön Ellen“, „Salamis“, „Normannenzug“ und „Römische Leichenfeier“, das sind die würdigen Vertreter dieser in seltener Intensität entwickelten Richtung Bruch’s nach dem Grossartigen und Dramatischen. In den „Scenen aus der Frithjofsage“ sind die Hauptmomente aus dem ersten Theil der schönen Tegner’schen Dichtung zu einem grossen, zusammenhängenden, dramatisch-lyrischen Ganzen mit Geschick zusammengefasst und führen uns in ergreifender und fesselnder Weise packende dramatische Situationen, abwechselnd mit lyrischen Momenten, wie Ingeborg’s klagende Gesänge und Frithjof’s Abschied von der Heimath in künstlerisch abgerundeter und wirkungsvollster Behandlung vor die Seele. Die charakteristischen Eigenschaften des Componisten traten in diesem grösseren Werke, wie wir schon andeuteten, zum ersten Male in so überraschender Prägnanz zu Tage, und die Erfolge blieben nicht aus. Sie begleiteten nicht minder „Schön Ellen“, dem in gleicher Weise der nunmehr fast ausgeprägte Stempel des Künstlers aufgedrückt ist. Die Ergebung der todesmuthigen Heldenschaar, welche die Festung bis auf die letzte Kugel vertheidigt hat und nun dem sicheren Tode ins Anlitz schaut, die Leidenschaft, mit der „Schön Ellen“ hellseherisch den Entsatz ankündigt, das Wiederaufwachen des Heldenmuthes bei dem allmählichen Herannahen der Hilfe, der Siegesjubel während der Befreiung, das kann kaum hinreissender geschildert werden, als in dieser zündenden Composition, die „Funken aus der Seele schlägt“. Dabei ist durch die künstlerisch motivirte Verwendung des historisch merkwürdigen Marsches der schottischen Hochlänger dem ganzen von Localton gegeben, welcher die dramatische Anschaulichkeit der spannenden Situation aufs glücklichste unterstützt. Ein ganz anderer Ausdruck der Siegesfreude spricht uns aus “Salamis“ (Gedicht von Lingg) an. Die Instrumentation zeichnet sich durch satte, südliche Farben aus, die Tonmalerei bei einzelnen Bildern der Dichtung erhöht die musikalische Wirkung der dem Gegenstande meisterhaft entsprechenden Motive, ein weit ausholender Schwung geht durch die ganze Composition, die wahrhaft gigantische Formen annimmt bei der Schlussstrophe: „Es erblüh’n nach den herrlichen Mühn dithyrambische Tage der Freiheit!“ Der „Normannenzug“ (Ged. von Scheffel) vergegenwärtigt uns den düsteren Charakter des kalten Nordens, die Trauer der alten Normannen über den unabwendbaren Untergang ihres Geschlechtes, ihre Sehnsucht nach dem fernen Island, so sie für sich und ihre Götter eine letzte Zuflucht streben. In Bruch’s objectiv klarer, plastischer Weise sind diese poetischen Elemente zu einem Musikstück von ganz eigenthümlicher Stimmung verwerthet worden; aus den Tönen tritt uns förmlich die starre Energie der Recken des rauhen Nordens entgegen. Die „Römische Leichenfeier“ (Ged. von Lingg) führt uns wieder nach dem Süden zurück. Auch in diesem Werk weiss die schöpferische Einbildungskraft des Componisten das Wort des Dichters poetisch zu erweitern, seine klaren, anschaulichen Bilder mit einem warmen Ton noch mehr zu beleben und die ganze Situation so dramatisch zuzuschärfen, dass der Zuhörer unwillkürlich in die Handlung hineingezogen wird und Alles mit durchleben und durchfühlen muss. – „Frihtjof auf seines Vaters Grabhügel“, für Bariton und Frauenchor, mit seinem schönen, tief empfundenen Schluss, und „Die Priesterin der Isis in Rom“ für Alt sind Tonstücke, die sich den übrigen Compositionen Bruch’s würdig anreihen; ganz besonders hervorheben müssen wir aber noch No. 2 aus Op. 31, „Morgenstunde“, für Sopransolo mit dreistimmigem Frauenchor, ein Stück von blühender Melodik und echt lyrischem Zauber, ein wahres Frühlingslied, das in die Frische eines herrlichen Maimorgens getaucht ist. – Von den vier Liedern für Bariton, Op. 33, bildet jedes für sich ein Charakterstück echt Bruch’scher Art, namentlich aber halten wir „Altdeutscher Herbstreigen“ und „Lind duftig hält die Maiennacht“ für hervorragende Erscheinungen unter den modernen Liedercompositionen.

Es erübrigt uns nun noch, einige Worte über die Leistungen Bruch’s auf dem musikalisch-dramatischen Gebiet hinzuzufügen. Wie wir gesehen, war sein erstes Werk, mit dem er sich dem Publicum ankündigte, die komische Oper „Scherz, List und Rache“ (Text nach Goethe); während der Zeit des künstlerischen Gährungsprocesses entstand die „Loreley“, und jetzt, wo Bruch im Vollbesitze aller Insignien der Herrschaft über das Technische ist, wo seine Künstler-Individualität sich fest gestaltet und scharf ausgeprägt hat, wird uns die Oper „Hermione“ (Text von Hopffer, nach Shakespeares „Wintermährchen“) angekündigt. Es sind dies drei Marksteine, welche des Künstlers Schaffen einem Jeden deutlich kennzeichnen, es sind die Rahmen, welche die Phasen seiner Entwicklung fest umgrenzen. Von „Scherz, Liszt und Rache“ bis zur „Loreley“ sehen wir fast allenthalben nur die Ansätze und Keime eines künftigen Baumes, die „Loreley“ selbst steht noch auf der Grenze der freien Entfaltung, doch zeigen sich schon überall Blätter und Knospen, nach ihrer Erscheinung aber bis zur Oper „Hermione“ ist Alles durch sorgsame, bedachte Pflege und durch den warmen Sonnenstrahl wahrer Kunst zur Blüthe und Frucht an gesundem Stamme gediehen.,

Wir nehmen keinen Anstand, unsere Ansicht unumwunden dahin auszusprechen, dass wir das musikalisch-dramatische Feld für dasjenige halten, auf welchem die Eigenartigkeit Bruch’s sich am freiesten und mannichfaltigsten entwickeln kann. Die hervorragenden Qualitäten seiner Künstlernatur, wie wir sie bereits besprochen haben, der Zug nach dem Grossartigen, die Fähigkeit der subjectiven Vertiefung bei objectiv klarer Gestaltung, die Kraft der Schilderung von Situationen und endlich die im künstlerischen Sinne volksthümliche Art seiner Melodik, das sind Elemente, denen nirgendwo ein grösserer Spielraum angewiesen wird, als gerade in der Oper. In „Scherz, List und Rache“ findet sich schon so viel dramatisches Leben vor, dass dieses frühe Opus entschieden mehr als ein blosses, historisches Interesse für sich beanspruchen darf. Es schliesst sich diese komische Oper in ihren äusseren Formen zwar durchweg den Mozart’schen Vorbildern an, aber innerhalb der conventionellen Gestaltung regt sich doch gar mancher selbständige Gedanke.

Dass die vier Jahre später componirte Oper „Loreley“ eine längere Periode hindurch aus vielen Theatern eine Reihe von Aufführungen erlebt hat, ist uns ein Beweis dafür, dass die dramatische Gestaltungskraft des Componisten in der That eine äusserst intensive genannt werden muss. Wenn wir das Buch näher betrachten, so können wir nicht verhehlen, dass es ihm an dem wahren dramatischen Leben gebricht, so schön die Diction, so wohllautend und formvollendet die Verse und so tief empfunden auch die einzelnen lyrischen Partien sein mögen. Die Schwierigkeit, dass ein Opernlibretto, welches unseren modernen Ansprüchen genügen soll, nicht nur alle Elemente einer echt dramatischen Dichtung in sich tragen muss, sondern diese in einer bestimmten, durch die Gleichberechtigung, wenn nicht Oberherrschaft der Musik beschränkten Weise zur Geltung zu bringen hat, ist in dem Textbuch zur Oper „Loreley“ keineswegs überwunden. Wenn es nun, trotz dieser Mängel der Dichtung, der Composition dennoch gelungen ist, einen Weg zu den meisten Opernbühnen zu finden und sich für eine geraume Zeit auf dem Repertoire derselben einzubürgern, so dürfen wir hierin wohl mit Recht eine Bürgschaft für die ihr innewohnende musikalisch-dramatische Lebenskraft erkennen, die in Wirklichkeit den künstlerischen Schwerpunct der Oper bildet, wenn auch der damals 22jährige Componist noch nicht im unbeschränkten Besitze aller der technischen Hilfsmittel war, welche dazu erforderlich sind, den musikalischen Gedanken stets in der ihm am meisten zukommenden Gestalt zur Geltung zu bringen.

Es geben sich uns in der Musik zur „Loreley“ Wahrheit und Leidenschaft, diese nothwendigsten Erfordernisse eines musikalischen Dramas, in grossen und kleinen Zügen auf das Entschiedenste zu erkennen. Die Melodik hat aber noch nicht die feste Form, die Gedanken entbehren im Allgemeinen noch jener plastischen Klarheit, und die Instrumentation der mit wenigen Mitteln viel erreichenden Meisterhaftigkeit, welche wir den späteren werken Bruch’s in so vollem Maasse zuerkennen müssen.

Man wurde auf die Oper „Loreley“ vielfach aufs Neue aufmerksam gemacht durch die glänzenden Erfolge des nach ihr veröffentlichten „Frithjof“, und an manchen Bühnen, u. A. In Leipzig, studirte man die „Loreley“ erst in Folge des Succès des „Frithjof“ ein, nicht zum Vortheil der Oper, denn was in „Frithjof“ ganz klar ausgesprochen ist, das hat der Componist in der „Loreley“ nur geahnt. Die „Loreley“ aber hat das Ihrige dazu beigetragen, den inneren Entwickelungsprocess des Künstlers zu beschleunigen und zur Reife gedeihen zu lassen. Das Gesagte schliesst übrigens nicht aus, dass die Oper an sich betrachtet und nicht mit anderen Bruch’schen Compositionen verglichen, eine hervorragende Stellung unter den neueren Erscheinungen dieser Musikgattungen einnimmt. Wir heben namentlich das Finale des ersten Actes, welches in der dramatischen Auffassung den Vorzug vor dem Mendelssohn’schen verdient, und die Gerichtsscene als Stücke von grosser Bedeutung und äusserst wirkungsvollem Ensemble hervor.

Fassen wir nun nochmals zusammen, wie entschieden lebensfähig sich diese Oper bereits, die musikalisch-dramatische Gestaltungskraft documentirt und wie seitdem der Musiker zur Höhe seiner Kunst emporgestiegen ist, so dürfen wir in grösster Spannung und mit der höchsten Erwartung seiner neuen Oper entgegensehen. „Hermione“ wird, nah dem Gegenstande und der scenarischen Behandlung zu schliessen, dem Componisten reichen Gelegenheit bieten, die tiefsten menschlichen Empfindungen, deren Schilderung die Musik überhaupt fähig ist, und zugleich die wesentlichen geistigen und gemüthlichen Elemente des deutschen Volkslebens zu zeichnen. (R. v. Beckerath)

*) Wir entnehmen das über das „Rorate coeli“ Gesagte einem früheren, von uns veröffentlichten Artikel.

← zurückweiter →