Meister der Miniatur: Kolja Lessing spielt Carl Czerny

  • 2CDs cpo 555 169-2
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Carl Czerny auf den Arm zu nehmen, das ist eine der leichtesten und traditionsreichsten Übungen der gesamten Musikgeschichte. Schon unter den Zeitgenossen gab es nicht wenige, die über den phänomenal fleißigen, durchorganisierten kleinen Mann ihre Glossen machten und seiner mit den aberwitzigsten »Spassetln« glaubten habhaft werden zu können: ein kläglicher Versuch, sich durch Witze und Herabsetzungen das Unerklärliche zu erklären.

Wir haben diese scheinbar unterhaltsamen Giftigkeiten nur zu gern zu uns genommen, denn schließlich wollten Nutz & Frommen seiner Fingerqualen zumindest denen, die eine professionelle Karriere am Klaviere nicht im Sinn hatten, nicht wirklich einleuchten. Die Vorstellung aber, daß sich unter der völlig unüberschaubaren Menge von weit über 800 numerierten und noch einmal weit in die Dreistelligkeit gehende Zahl sonstiger Produkte, zwischen den Etüden, Lehrwerken, den brillanten Fantasien mit und ohne Orchester, dem ganzen modischen, damals gut verkäuflichen Klimperkram etwas von wirklicher Substanz und expressiver Tiefe hätte verbergen sollen – daran hätte man bei der stumpfsinnigen Exekution der Hundert Übungsstücke oder beim vergeblichen Kampfe gegen die Schule der Geläufigkeit nicht im Traume gedacht.

Wer käme aber auch darauf, daß sich zwischen der großen Geläufigkeitsetüde Les Infatigables op. 779 und Sechs Fantasien über schottische Weisen op. 782 die zwei ersten der insgesamt sechs Symphonien verstecken; daß in den unendlichen Weiten der Opuszahlen 7 bis 730 insgesamt elf, zum großen Teil sehr dankbare Sonaten ihrer Beachtung harren; daß es, wieder hübsch zwischen flatterhaftem Flitter schön verborgen, vier durchaus hör- und spielenswerte Streichquartette gibt; und daß die Die Kunst des Präludierens op. 300, schüchtern zwischen den 32 Geläufigkeitsübungen op. 299 und den Variationen über einen Walzer von Reissiger op. 301 hervorlugt, ohne etwas von ihrer überdurchschnittlichen Qualität erahnen zu lassen?

Und doch hat es gerade auch diese 121-teilige Sammlung im wahrsten Sinne des Wortes in sich. Zwar ist Carl Czerny, dieses musikalische Kompendium fast sämtlicher alten und (damals) neuen Stile, Spielarten und Genres, wieder so instruktiv wie in all seinen Lehrwerken, doch die überwiegende Zahl der, zwischen wenigen Sekunden und einigen Minuten sich bewegenden, nach verschiedenen Kriterien geordneten und progressiv wachsenden Miniaturen ist von einem beeindruckenden Erfindungsreichtum und einer Geschlossenheit, die von der zeitlichen Ausdehnung völlig losgelöst erscheint. Czerny zaubert mitunter kleine Szenen, schreibt winzige Soubrettenarien, kurze dramatische Auftritte und bringt es sogar fertig, seine chromatisch modulierenden Gänge zu kleinen Kunstwerken zu erhöhen.

Tänzchen, Liedsätze, rauschende Schnurren, instrumentale Rezitative von außerordentlicher Vielfalt, dann wieder veritable, aber geschmackvolle Etüden wechseln sich ab und sorgen, man glaube es oder nicht, in knapp zwei Stunden derart kurzweilig ab, daß es sogar möglich ist, die gesamte Kunst des Präludierens, zumindest aber eine der beiden CDs am Stück zu goutieren. Was in ganz erheblichem Maße freilich dem exzellenten Kolja Lessing zu verdanken ist, der gegen den unermüdlichen Komponisten offenbar keinen Groll hegt. Sein facettenreiches Spiel, die köstlich herausgetupften Nuancen, die oftmals auch die wildeste Jagd mit augenzwinkernden Kadenzen beschließen, die Transparenz der mehrstimmigen Sätzchen, die treffend und trefflich gewählten Tempi – das ist mit solchem Engagement und Einfühlungsvermögen verwirklicht, daß der bis dato unvorstellbar gewesene Wunsch auftaucht, es möchte dieser Künstler demnächst auch die Anleitung zum Fantasieren, die Schule des Fugenspiels oder die achtundvierzig Präludien und Fugen zur Hand nehmen, die Carl Czerny unter dem Titel Der Pianist im klassischen Style als sein Opus 856 herausgeben und seinem einstigen Schüler Dr. Franz Liszt zueignet hat. Wer weiß, ob wir uns nicht noch auf einiges gefaßt machen dürfen …

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