… leider kein günstiges Prognostikon

(Schluß.)

Auf Seite 22 der Partitur, wo der sogenannte Durchführungssatz anhebt, betritt aber G. wieder ein Gebiet, auf dem er sich bisher noch niemals siegesglücklich bewährt hat. Es ist dies das contrapunctische Feld, und speciell jenes des Fugato engster Bedeutung. Hier formt der Componist nämlich den in seiner ursprünglichen ganz fessellos, also nach Gutdünken bald homophon, bald im freiesten Sinne polyphon auftretenden ersten Hauptgedanken seines concertlichen Eingangssatzes, jenen also, der den Grundstoff zum ersten sogenannten »Tutti« abgiebt, zu einem Fugen= oder, besser gesagt, Fugatostoffe um, doch, offen gestanden, mit ebenso wenigem Glücke als Geschicke. Leider ist mir bis jetzt, so oft auf derartige Excurse des auf anderen Tongebieten unleugbar frisch und geistvoll obwaltenden G. stoßend, kein die Art seines diesfälligen Gebahrens treuer bezeichnender Ausdruck so geläufig geworden, als jener allerdings sehr widerwärtig klingende, des Holperns, Stolperns oder Herumrutschens der Einzelstimmen gegen=, mit= und zueinander. So auch in dem hier gegebenen Falle. –

Es trägt zwar allerdings ein Thema gleich folgendem:

die trefflichste Eignung zu einem Fugenstoffe. Ganz abgesehen von der aus selbem sprechenden Kraftfülle und lebendigen Bewegtheit wird jeder Kenner schon durch die bloße Betrachtung der cäsurenreichen und in jedem Gliede durchgeprägten Außengestalt eines solchen Thema’s seiner auserlesenen Eignung zu Vergrößerungen, Verkleinerungen, Umkehrungen, Engführungen, Theilstoffbenutzungen, kurz, zu allen erdenklichen Verwendungsarten des ein= und mehrfachen Contrapunktes, der vielgestaltigsten Canonik und wie nun alle diese Erscheinungsarten des Fugen= und Nachahmuugswesens immer heißen mögen, unschwer gewahr werden. Allein kaum ist die Exposition verklungen und kaum wird den sogenannten Wiederschlägen ihr Spruchrecht offengehalten, so macht sich in den verschiedenen Gegenstimmen zu jenen Repercussionen eine so bestürzende Leere und Stockung, eine derartige Rathlosigkeit, Unbeholfenheit und Schwerfälligkeit, ein so ängstliches Herumwühlen in den widerhaarigsten Klanggebieten geltend, daß man der Ausführung des componistischen Entschlusses wahrhaft froh ist, es über die sogenannte vierstimmige Durchführung nicht weiter hinauskommen zu lassen; also von allen ferneren, der speciell contrapunktischen Sphäre angehörenden Experimenten vollständigen Umgang zu nehmen und lieber zu freierem Schalten mit den Tönen und mit deren Verkettung unseren in so ungebundener Schaffenssphäre ohne allen Vergleich gewandteren, und, wenn nicht von anderweitigen, schon zum Oefteren näher bezeichneten Schrullen befangen, auch geist= und seelenvollen, ja, bis zu gewisser Grenze sogar genialen Tonbildner G. heimkehren zu sehen.

Nun wird, bis ungefähr zum Eintritte des Wiederholungssatzes, mit dem ersten Hauptgedanken, oder, richtiger bemerkt, mit jenem ihn einleitenden Melisma, das die eigentliche Grundlage des ersten Orchestertuttisatzes bildet, auf eine unleugbar sehr eindringliche Art cxperimentirt (S. 23, letztes System, vorletzter Takt, bis Seite 26, letztes System, Takt 1). Glücklicherweise vollbringt sich aber diese Manipulation im Sinne des sogenannten »freien Satzes«. Diesem letzteren weiß ja G.’s reiche Gestaltuugsgabe fast immer geistvolle Seiten abzugewinnen.

Eine der Sologeige anvertraute kurze Fermate, der gleichfalls die Eigenschaft des Strengthematischen nachzurühmen ist, bildet das eigentliche Verbindungsglied des Durchführungssatzes mit der eigentlichen Reprisenstelle. Diese letztere fordert in ihren Anfangschritten zu keiner erheblichen Bemerkung auf. Daß sie nach dem vielen Unliebsamen, Irren und Wirren, das uns der sogenannte Durchführungssatz aufgedrungen, entschieden wohlthuend, oasenartig, möchte ich sagen, auf Hörer und Leser wirke, wäre etwa das einzige hier hervorzuhebende Moment.

Nun aber kommt es plötzlich dem Componisten bei, den einerseits ruhigen, andererseits unleugbar kräftigen Gedankenfluß durch eine sehr langgesponnene Kette von Passagen für das Soloinstrument, das von gehaltenen Accordgängen des Streichorchesters unterstützt wird, auf unliebsame Art zu stören (siehe deshalb die ganze 29. und das ganze 1. System der 30. Partiturseite). Abgesehen von diesem zwecklosen Aufenthalte, klingt die Passage selbst unschön und wimmelt ebenso von gesanglichen, wie der Begleitungshälfte nach von harmonischen Härten. Auch kommt darin so manche Sünde wider die musikalische Orthographie an das Tageslicht. Am Grellsten wirkt, beispielsweise bemerkt, u. A. folgende Schreibart:

Welche Begründung hat denn das unmittelbar unter Des gestellte Cis? Warum steht nicht Des in beiden Stimmen? Ist es denn nicht der klanglich ganz unzweifelhaft hingestellte Terzquartsextaccord über der Baßnote B, dessen gleichfalls zweifelloses Fundament der Dominantseptimenaccord von As also:

nicht aber das ganz und gar nichts besagende accordliche Unding:

Um aber mitten in, wie mich wenigstens bedünkt, gerechten, weil kunstwissenschaftlich begründeten Tadel auch des hie und da selbst durch diese Achillesferse schimmernden Anerkennenswerthen nicht ganz zu vergessen, so möchte ich wohl auf eine wenigstens sinnlichreizende Außenwirkung im Vorübergehen noch hinweisen, die da (Seite 30, System 1 bis zum Schlusse derselben Seite) vermittelt wird durch die Gruppirung der Sologeige mit dem Hörnerquartette, und später mit diesem und dem Holzbläserquartette, während das Streichorchester schweigend innehält. Ueberhaupt zeigt sich auch hier, in diesem als Ganzes genommen sehr schwachen Werke, G. fast durchgehends als geistvoller und wirkungskundiger Orchesterfarbenkenner und Zeichner. Dies giebt sich u. A. auch in derjenigen Art kund, wie der Componist das zweite Thema wiederholt einführt und orchestral ausstattet (S. 31–33). Die soeben erwähnte Stelle entfaltet nächstdem auch eine Fülle von nicht wenig fesselnden Reizen des rhythmischen Lebens. Nur Schade, daß dieser ganze nach beiden soeben angeführten Richtungen ungemein Mannigfaltiges bietende Passus in gar so eintönig homophoner Gestalt sich fortbewegt; während es eben an dieser Stelle sehr angezeigt, ja geboten gewesen wäre, das im ersten Theile schon sattsam Vernommene nicht blos, wie hier geschehen, orchestral und rhythmisch, sondern auch bezüglich einer regsameren Stimmenführung auf höhere Schwingen zu stellen. – Von hier ab bis zur vorletzten Partiturseite des Eingangssatzes, also 13 Seiten lang, stagnirt aber das Ganze bedenklich. Der einzige Licht= und Schwerpunkt dieser breitspurigen Steppenstelle ruht höchstens in der auch da noch einigermaßen fesselnden Mischung der Orchestersarben. Auf diesem Felde bleibt G. immer Sieger. Angeborene Kraft und vielverzweigte Erfahrung und Praxis kommen da dem jahrelang im Orchester gesessenen Componisten nicht wenig zu Statten.

Endlich söhnt ein mit dem anfänglichen Tuttisatze so ziemlich gleichlautender, strammer Schluß wieder mit dem eben Vorangegangenen aus. Oder: er hebt wenigstens über so manche Gedanken= und Formenschwäche dieses Tonstückes einigermaßen günstig hinweg. –

Bezüglich des Air überschriebenen zweiten Satzes (Gdur 3/4 Andante) schwebt mein Kritikergewissen in der bestürzenden Lage, nach und trotz reiflichstem Durchforschen desselben zu keinem weiteren Anerkennungsergebnisse seines Gehaltes hindurchgedrungen zu sein, als zu jenem längst feststehenden der gereiften Erfahrung G.’s im Orchestriren, und zu jenem gleichfalls schon öfters nachgewiesenen Resultate seines regen, nach dieser bestimmten Seite hin fast niemals irregehenden Sinnes für instrumentale Klangschönheit. Klangschönheit. Vor Allem wäre von dem nach so mannigfachen Richtungen hin bewährten Fortschrittsgeiste G.’s zu gewärtigen gewesen, daß er sich auch nach der Formenseite hin der Ansicht und Praxis jener Tondichter unserer Zeit angeschlossen hätte, die, Kammermusik welcher Art immer schreibend, derjenigen breitspurigen Form abgeschworen haben, die drei, vier oder noch mehrere geistig und außengestaltlich von einander schroff getrennte Sätze der Art nebeneinandergestellt hat, als wären sie Glieder einer und derselben Gedankenkette; das Zusammenziehen mehrerer Sätze in einen ununterbrochen fortspielenden Satz, dessen Einzelnglieder etwa höchstens durch veränderte Taktvorzeichnungen und Zeitmaaßesüberschriften von einander zu trennen, dagegen durch gewisse, in jedem dieser Theile oder als selbstständige Wesen hervortretenden Momente stets verschiedengestaltlich und zugleich klardurchsichtig wiederkehrende Grundgedanken wieder mit einander auf streng musiklogische oder psychologisch-musikalische Art zu verketten wären: also, das unter allen fortschrittlich gesinnten Tondichtern jüngster Zeitrechnung längst zur herrschenden That gewordene Princip der sogenannten »thematischen Arbeit« hätte wohl auch dem Tonschaffen G.’s als Leitstern dienen sollen. Tiefes Pflichtgebot des jüngsten, durch die großen Bahnbrecher Berlioz, Wagner und Liszt in das wirkliche Tonleben verpflanzten Zeitgeistes hätte um so genauer von einem Künstler wie G. in das Auge gefaßt und zur selbstständigen That krystallisirt werden sollen, als ja, wie bereits im Verlaufe meines sein bisheriges Wirken beleuchtenden Aufsatzes mehrfach gezeigt, eben derselbe G. als Harmoniker, Rhythmiker, vornehmlich aber als musikalischer Dramatiker, sich dieser neuesten Zeitströmung nach so vielen ihrer Richtungen mit aller Vollkraft seiner thatgewordenen Ueberzeugung angeschlossen hat. In diesem Op. 28 läßt er aber leider fortwährend das Schauen in das durch so viele Typen seiner bestimmten Art längst in sich abgeschlossene, daher keiner Vervollkommnung mehr fähig Einst, mit einem auf das noch vielfältigeren Umstaltungen zugängliche Jetzt flüchtig herüberschielende Blicke in eine Art oder Abart oscillirender, daher unvermittelter Bewegung gerathen. Er giebt solchergestalt der Welt einen Zwitter als Gabe seiner schon so reif, so sehr in sich durchklärt gemeinten Muse hin, mit der sich die jetzige Fachkennerwelt, sofern in des Wortes ächter Bedeutung fortschrittlich gesinnt, unmöglich erschöpfend zufriedengestellt erkennen kann.

Was nun speciell diesen zweiten Satz mit seiner oben bereits angeführten Ueberschrift, Ton=, Tact= und Zeitmaaßesart betrifft, so dürfte er wohl, unbeschadet und unerachtet seiner Vorzüge, die vornehmlich in einer nach längst feststehendem Herkommensbegriffe edlen Haltung des Melodischen, Harmonischen, Rhythmischen und des an lockenden Orchesterfärbungen Ergiebigen wurzeln, als eine äußerst fahle Copie antiker, mit jüngstzeitigem Beigeschmacke unorganisch zersetzter Tonformen zu bezeichnen sein. Ich möchte diesen Satz am Liebsten mit jenen Worten charakterisiren, die seinerzeit der ebenso geist- und witzvolle, als tiefgelehrte und denkende Verfasser der sogenannten »Briefe eines Wohlbekannten« angewandt hat, indem er einen ganzen Abschnitt dieses so viel an Kernhaft-Wahrem enthaltenden Buches mit der Ueberschrift: »Bach-Manie« versehen und darin mit so schlagenden Belegen aus diese ganz specifische Componistenkrankheit eingegangen ist. Selbstredend liegt eben diese Bach-Manie vom eigentlichen Geiste des Großmeisters meilen= ja weltenweit ab. Der Nachweis dieses injuste milieu fiele nicht schwer. Er würde indeß großen Aufwand an Notenbeispielen beanspruchen, wo nicht gar eine vollständige abschriftliche Verewigung dieser seltsamen Mache innerhalb des diesem Aufsatze gegönnten Raumes bedingen. Eingedenk der Unausführbarkeit dieser beiden Forderungen sei indeß nur an den unbefangenen Sinn des Lesers dieser Zeilen appellirt, der selbe gewiß nicht zur Hand nehmen wird, ohne sie demjenigen Stoffe vergleichend gegenüberzustellen, um den sich diese Betrachtungen drehen. Geschieht dies aber, dann ist Tausend gegen Eins zu wetten: mein Leser werde auf ganz ähnliche Ergebnisse kommen, wie der Schreiber dieser Zeilen. Und zwar wird sich ihm, genau dasselbe Resultat herausstellen vom ganz modernen Truganfange dieses Tonstückes begonnen und durch alle noch so klug und fein sophistisch zu einander gruppirte Mittelglieder desselben, bis zu dessen nach 6 Partiturseiten langen mehr oder minder in reinmusikalischem Betrachte hin anziehendem Gerede endlich herankommendem halb antiken, halb der eben tagenden Gegenwart angehörendem Schlusse. –

Im Vergleiche zu Dem, was der Schlußsatz dieses Concertes später (Amoll, später Adur, zuerst 4/4 Moderato, dann 3/4 Allegro) erstrebt: nämlich den Saltarello=Humor zu verkörpern, ist er zuvörderst, um vom Beginne bis zum Ende spannend wirken zu können, viel zu breit ausgesponnen. Umfaßt er doch 51, sage einundfünfzig enggesperrte Partiturseiten! Der Schwerpunkt liegt hier weit mehr in der Pikanterie des Details, bald harmonischer, bald rhythmischer, bald die einzelnen Orchesterstimmen zu einander gruppirender Art, als in den Themen selbst, welch’ letztere mehr wie uninspirirte Redensarten, als wie launenschwungvolle Gedanken sich ausnehmen. Die hier aufgespeicherten Phrasen klingen wie mühselig ausgehegtes Getöne. Beinahe taktweise ist aus und in demselben die Absicht auf blendenden Außenglanz nachweisbar. Kommt zu allen diesen Uebelständen noch der nicht blos diesem Satze, sondern dem ganzen Werke anhaftende unhandliche, in aller möglichen Richtung widerhaarige Violinsatz, so dürfte der Verbreitung dieses Opus wohl leider kein günstiges Prognostikon zu stellen sein. –

Wolle G. doch bald wieder die Welt mit einer seiner hohen und reichen Begabung würdigeren Schöpferthat beschenken ! –
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