… bedenklich dicht an Unspielbarkeit

Karl Goldmark
Von Dr. F. P. Graf Laurencin.
(Nachtrag).

Das letzte bis jetzt erschienene Druckwerk Goldmark’s hat bei Hugo Pohle in Hamburg getagt und ist ein mit der Opusziffer 28 versehenes Violinkonzert mit Orchester. –

Es fällt mir schwer, diese lange Reihe von Besprechungen der Künstlerthaten einer der nach so vielen Seiten hin unleugbar vornehmsten tonschöpferischen Begabungen unserer Zeit mit einem Urtheilsspruche schließen zu müssen, der in der Hauptsache auf Tadel hinausläuft. Indeß: der Wahrheit muß die Ehre gegeben werden. Und so drängt es mich denn zum lange und scharf erwogenen Bekenntnisse: dieses Werk nach Seite seines Hauptinhaltes und wenige Oasen abgerechnet als eine uninspirirte, conventionelle Arbeit zu bezeichnen, der fast überall der Stempel einer äußerlich auf- und abgedrungenen, bestellten Arbeit anhaftet. –

Der dieses Opus einleitende Gesammt-Orchestersatz (Amoll, 4/4 Allegro moderato) nimmt durch eine gewisse Strammheit und Plastik des thematischen, vornehmlich aber durch eine ganz absonderliche Ausgeprägtheit des ihn durch durchpulsenden Rhythmenlebens nicht wenig zu seinen Gunsten ein. Hielte dieser Satz doch auch im weiteren Verfolge dieses Tonstückes seine vielversprechende Zusage! Allein dem ist leider nicht so. Denn von demjenigen Punkte an begonnen, wo nicht mehr das Orchester als solches eine unumschränkte Sprache führt, sondern wo der Einzelngeige das erste und hauptsächliche, dem Organe vielstimmiger Tonrede aber nur das nebenhergehende Wort eingeräumt wird, da verläuft sich G.’s Gebilde dergestalt in einem Schwall leerer Redensarten, daß es wahrlich schwer hält, von einem gedanklichen Inhalte dieses Tonstückes in dieser Worte strengem Sinne zu sprechen.

Das Passagenwerk engster Bedeutung und überdies noch das widerhaarigste, bedenklich dicht an Unspielbarkeit oder wenigstens an haarsträubende Schwierigkeit grenzende Phrasenwesen, das kaum einem Geiger ersten Ranges, um wie viel minder einem karger bedachten Künstler dieser bestimmten Sphäre das irgendwie eindruckskräftige Bewältigen eines so spröden Stoffes ermöglicht, tritt von da ab, wo das Tutti aufhört und in das begleitete Solo übergeht, an des Gedanklichen vollständig leergelassene Stelle.

Macht ja an manchem sehr vereinzelt dastehenden Orte dieser ziemlich breitspurigen Geburt, wie z. B. in den ersten 12 Takten dieses concertanten Geigensatzes und noch in mancher anderen Detailstelle dieses Werkes, ein gewisses Etwas sich geltend, das einem bestimmt ausgeprägten Grundgedanken ähnelte, so nimmt sich doch fast Alles, was dieser sogenannten Exposition eine ziemlich lang und breit gezogene Strecke entlang folgt, nur sequenzenartig, nur wie ein aus leerem Wollen aber [sic!] Nichtkönnen, oder aus momentaner Unaufgelegtheit zum eigentlichen Tonschaffen hervorgegangenes bloßes Weiterschieben des bereits früher, da aber ungleich glücklicher, geschickter und geistvoller festgestellten Gedanklichen, oder wie eine hohle Sequenz oder wie ein müßiges Füllsel aus.

Von dem eben zuvor angeführten Grenzpunkte ausgehend und weiter im Betrachten des später Dargebotenen fortfahrend, bildet, ziemlich lange Zeit hindurch, höchstens eine oder die andere irgendwie augenblicklich blendende oder fesselnde harmonisch-modulatorische Pikanterie, oder irgend ein mit längst bekanntem und im Verlaufe dieses Artikels auch schon sattsam gewürdigtem G.’schen Feinsinne ausgedüfteltes Orchesterfarbenspiel, das für den gänzlichen Abgang all und jedes eigentlich thematischen Gehaltes Entschädigensollende und Wollende. Allein auch diesem Sollen und Wollen entspricht im gegebenen Falle kein so recht gesättigtes Können. Fast schrittweise narrt Einen hier das blos äußerlich Gemachte, Conventionelle, fast überall der böse Schein einer lediglich bestellten, nicht so recht eigentlich begeisterten Arbeit entgegen. Mir wenigstens war es sowohl während des Hörens sowie bei der Lektüre dieses G.’schen Violinconcert-Eingangssatzes immer so zu Muthe, als sähe ich irgend einen bestimmten großen Einzelngeiger vor mir, dem zu Liebe G. an das Schreiben dieses Concertsatzes gegangen wäre. Je tiefer in dieses Opus mich einleben wollend, um so greller drängte sich mir die Vermuthung auf, als hätte G. dem höchstpersönlichen Künstler-Ich irgend eines speciellen, ihm eng befreundeten Geigensolisten sein eigenes Ich zum Opfer gebracht. Es kam mir weiter vor, als habe der Componist, dieses bestimmte Opus in das Leben rufend, diesem bestimmten durch ihn fest in das Auge gefaßten berühmten Einzelngeiger, welchen Namens und Stammes immer auch das immerdar aus Ganzem und Vollem entsprießen sollende Schalten und Walten des Orchesters geopfert. Er that dies gänzlich uneingedenk der längst gesetzlich festgestellten Thatsache, daß das Orchester nicht allein zum bloßen Begleiten einer Principalstimme, sondern in vornehmster Linie vielmehr zu völlig selbstständigem Eingreifen in den Gedankenlebenskern eines ihm, gleichviel ob ganz oder theilweise zur Ausführung überwiesenen Tonwerkes, also zum Ausströmen eines ächt polyphonen Geistes berufen sei. Ich muß hier leider meinem Drange Schweigen gebieten, dieses meinem sonstigen Hochstellen des G.’schen Schaffens und Gestaltens recht widerlich bedünkende abfällige Urtheil durch Notenbeispiele zu belegen und zu erhärten. Denn ich müßte, um ein erschöpfendes Bild des hier entfalteten Tontreibens zu geben, eine beträchtliche Anzahl von Partiturseiten hier abschriftlich niederlegen. Auch reicht an gedachter Themenexpositionsstelle eine mit allzu merkbarem Ansprüche aus sogenannte Geistreichheit hervortretende gequälte Stimmenführung der anderen so innig die Hand, daß mit dem Aufzählen solcher Gewaltthaten an Melodie, Harmonie und Rhythmus kaum zu irgend einem Ende zu kommen möglich wäre. Selbstverständlich unterläuft da und dort immer wieder eine oder die andere Wendung, die den zu edlerem und innerhalb der Grenzen strenger Selbstkritik auch freierem Walten berufenen und auserwählten Tondichter offen zeigt, als den man G. längst kennen und hochstellen gelernt hat. Es bezieht sich dieses in gegebenem Falle leider nur episodisch oder sporadisch ertheilungsmögliche Lob insbesondere auf einige unter leerem Schutte hervorschimmernde glücklich und geschickt, ja sogar mit einem gewissen Aufgebote von Feinsinn und Geist angewandte Farbenmischungen orchestraler Art, die bald zartsinnig duftend, bald wieder kernigfrisch den Hörer und Leser ansprechen. Allein ich muß es mir leider, besten Willens unerachtet, auch versagen, selbst auf diese Lichtseiten näher einzugehen, da sie allzu irrlichtartig hervortreten, und weil sie ferner, sobald allen Zusammenhanges mit so vielen ihrer vorausgegangenen und wieder aus dem Fuße nachfolgenden Unerquicklichkeiten entkleidet, dem Leser dieses Aufsatzes ganz und gar nicht verständlich gemacht werden könnten.

So geht es durch 11 Partiturseiten bis zum Eintritt des zweiten Satzeshauptgedankens fort. Dieser letztere macht anfänglich, etwa 9 Tacte hindurch, Miene, der leeren melismatischen Phrasenhülle sich entschlagen und als wirkliches Gedankengebilde hervortreten zu wollen. Allein gar zu bald ebnet sich das ängstlich grübelnde und zu nichts Rechtem hindurchdringenkönnende Tonredensartentreiben wieder offenste Bahn und hält uns höchstens wieder nur durch das Anwenden einiger mehr oder minder reizvoller Klangwirkungen in Spannung, denen aber jedes geistig vertiefende Element gänzlich abgeht. Die leidige Sequenz und das blos begleitende Kopfnicken sämmtlicher Orchesterorgane zur concertanten Principal-Einzelnstimme macht sich hier mit gar zu breitgesponnener Redseligkeit geltend. Der Sologeige speciell, die, wie aus eben Vorangeschicktem zur Genüge einleuchtet, der Passage alle nur möglichen Schleußen öffnet, wird überdies an gedachter Stelle, und, man erlaube es mir, dem Stoffe vorgreifend, ein für alle Male zu sagen, im Verlaufe des ganzen Werkes öfters Unglaubliches an Widerhaarigkeit, ja, wo nicht an Un= doch gewiß an Schwerspielbarkeit zugemuthet.

Auch der zweite Hauptgedanke des Eingangssatzes tritt nur in seinen 8 Anfangstakten in gesanglich ausgeprägter Form zu Tage. Dann aber umkleidet ihn der Componist mit einem so dichten Nebel der harmonisch-rhythmischen Ausstattung, daß man den eigentlichen Typus seiner Gestalt ganz und gar verliert und wieder nur Phrasen in den Kauf nehmen muß, denen übrigens noch ein nicht wenig einfärbiges, homophones Kleid durch das zu solchem Pseudogesange lediglich ein gleichgültiges Ja sagendes Orchester umgehangen wird. Dieses letztere beschränkt sich zudem an dieser bestimmten Stelle durch längere Zeit nur auf das mit dürftig klingenden Begleitungsfiguren belebte Streichquintett, zu dem sich erst um Vieles später ein nicht minder karg bedachter Chor der Holzbläser und Hörner gesellt. Dieser verpflanzt zwar in das, vom Beginne des zweiten Thema’s oder eigentlich Melisma’s ausgegangen, etwas bedenklich stagnirende Gebilde einen um etliche Grade frischeren, helleren Farbenton. Im Grunde genommen sagt aber auch diese Stelle nichts Erhebliches. Und so spielt denn seitenlang lediglich die Passage und die Sequenz oder Rosalie eine Hauptrolle: während hinwieder der Gedanken- und Gefühlsmensch bei solchem dem flüchtig vernehmenden Gehöre allerdings schmeichelnden, streng genommen aber nichts Höheres oder Tieferes besagenden Getöne vollständig leer ausgeht. Erst auf dem letzten Systeme der 18. Partiturseite will es wieder einigermaßen Licht werden. Es treten mindestens strammer ausgeprägte Rhythmen und spannendere Harmonien wieder in einen engeren Bund mit dem noch immer lässigen, schlottrigen Melodiengange. Der zu Höherem berufene Genius G.’s regt einmal wieder seine kräftigeren Schwingen und ermannt sich endlich zu einem von früherher freudig begrüßten Kraftschwunge. So geht es etwa 4 Partiturseiten lang mit gutem, oder wenigstens mit einem Gutes, ja relativ Bestes in nächste Aussicht stellendem Zuge fort. Allein diese nur allzu kurz gesponnene Kern= und Kraftstelle athmet weit mehr akustisch blendende, als gedanklich schwer schwerwiegende Reize. Sie zeigt eben nur wieder zum so- und sovielten Male, daß, und in welchem Höhe= und Tiefegrade G. auf dem Gebiete der Harmonik und Orchestrirungskunst zu Hause sei, wenn nicht etwa der wahren Kunstanschauung seitab liegende Bedachtnahmen auf Aeußerlichkeiten seinen hochstrebenden, viel und insbesondere Vielerlei könnenden Genius bedrängen und irreführen. – (zum Schluß)