Elly Ney: Gedanken zur Musik
»» Was wir mit ganzem Herzen erstreben, was wir mit rückhaltloser Hingabe unbeirrbar verfolgen, nur das reift eines Tages zur Wirklichkeit. Wir müssen von unserer Vorstellung des Werkes besessen sein und ihr alles, aber auch (alles) das Letzte opfern können, wenn sie sich siegreich durchsetzten soll.
»» Wenn der Künstler nicht lernt, seine subjektiven, menschlichen Wünsche zu überwinden, und das Kunstwerk objektiv, rein geistig zu betrachten, kann seine künstlerische Darbietung niemals das Ursprüngliche einer echten Schöpfung wiedergeben.
»» Was bedeutet Musikkultur, was bedeutet Musikbegabung, wenn der bewegende Impuls, der zu Leistungen führt, nicht vom geistigen Ursprung herfließt.
»» Ist die rhythmische Kraft, durch welche die Musik erst ihr Leben äußert, schwach oder gar nicht vorhanden, dann fehlt das Wesentliche. Das rechte Zeitmaß zu erfassen ist eine schöpferische Gabe, und kein Metronom kann sie ersetzen. Wird der Rhythmus in der Musik verletzt, dann entstehen Verzerrungen, Unordnung – Chaos. Ein feinfühliges Gehör ist von Herz und Pulsschlag nicht zu trennen und wird von hieraus das Gesetz des Lebendigen mit dem Rhythmus der Musik in Einklang bringen.
»» Wenn auch ein stark entwickelter Klangsinn in unaufhörlichem Streben sich bemüht, durch stete Verfeinerungen des äusseren Hörens letzte Möglichkeiten an Klangwirkungen aus einem Musikwerk herauszuholen, so kann eine solche Darbietung doch niemals an die Klangerlebnisse heranreichen, die in intuitiver Schau einer echten Musikantenseele im Augenblick der Inspiration zu Verfügung stehen.
»» Wenn Erlebnisse in Musikhörenden entstehen, so geschieht es, weil der innerste Kern des Musikwerks nicht nur vom Vortragenden erahnt, sondern auch durch die Erlebniskraft des Empfangenen lebendig wird.
»» Musik ist viel mehr als ein sinnliches Ereignis für die Ohren. Mit den Ohren allein zu hören, genügt nicht. Es gilt, den tieferen Sinn der Musikwerke zu erfassen, ihn zu erkennen und aufzunehmen. Ein ganzes Leben gehört dazu, und die Fähigkeit,
alles, was in der Musik gesagt wird, im Leben selbst zu sehen und diese Werte auch in anderen Künsten zu erkennen.
»» Das Wesentliche in der Musik ist unaussprechbar. Es ist Jenseits von Technik, Tonkultur, Präzision, Tempo und Dynamik. Obgleich dies alles wichtige Faktoren sind, so dürfen sie nur als Mittel zum Zweck dienen. Der Zweck aber ist der Sinn, d.h. der Geist, der dahinter steckt und offenbart werden muß. Wenn das Herz Kraft hat, so wird es mit Geist und Seele ein Ganzes formen.
»» Aus Gedanken allein kann das Musikwerk nicht geschaffen werden, denn aus ihnen entsteht nur das Greifbare. Das Ewige aber ist nicht greifbar, es kann nur aus den Tiefen des Geistes hervorgehen.
»» Da Kultur ein Zustand des Charakters, des Herzens, der Seele, des Geistes ist, kann eine Melodie unserer Meister mehr bedeuten als uns Wissen zu vermitteln imstande ist.
»» Die Lebens- und Liebeskraft gibt einer echten Kunstäußerung das Allgemeingültige und das Lebendige.
»» Egoistische Interessen und Ziele verhindern das wahre, reine Kunstschaffen.
»» Wer mit seiner musikalischen Darstellung auf äußere Wirkungen aus ist, kann den geistigen Gedanken nicht übermitteln. Wer vom Dienst am Werk erfüllt ist, kommt gar nicht dazu, an die äußere Wirkung zu denken.
»» So wie bei der bildenden Kunst der Schauende und bei der Dichtkunst der Lesende, so muß bei der Musik der Hörende die Erlebnisfähigkeit in sich haben. Dann erst kann der tiefere Gehalt des Kunstwerkes sich voll auswirken.
»» Liebe Musikanten! Sagt doch den Menschen, daß sie nicht so anspruchslos sein sollen, indem sie nur das Äußere und Flüchtige einer Kunst genießen! Es ist immer möglich – früher oder später -, daß sie Zugang zu dieser Welt bekommen. Dann haben sie eine unerwartete, unentbehrliche Kraftquelle gefunden, die ihnen niemand nehmen kann.
»» Wir Musiker sollten uns darüber im klaren sein, daß in den Tiefen des menschlichen Herzens die Sehnsucht nach dem Guten und Edlen vorhanden ist, und daß wir nur die Aufgabe haben, diese wertvollen Keime zu nähren und zu stärken, damit die Entscheidungskraft immer mehr wachse. Wir sollten gemeinsam dahin wirken, daß die Fähigkeit zur Aufnahme des Guten erhalten bleibt und sich immer mehr entwickelt.
»» Es ist die vornehmste Aufgabe des Künstlers, den Menschen zu helfen, die großen Meister lieben zu lernen, Ihre Seelen zu füllen mit den edlen Gaben, mit ihrer Kraft, mit ihrer Ruhe, mit ihrer Innigkeit, ihrer Gemütstiefe, ihrer Energie und ihrer inneren Wahrhaftigkeit.
»» Der Künstler setzte sich auch bei der Arbeit mit Inbrunst und Hingabe in Beziehung zu dem Sinn des Werkes. Er sei wachsam, damit dieser durch die Ausfeilung der Technik, also durch die Beschäftigung mit der Materie, nicht verloren gehe, so daß am Ende das wahre Kunstwerk, seine echte Gestalt dargeboten werde.
»» Wer als Künstler gleichgültig bleibt, wenn falsche Kunst, minderwertige oder gar schädliche Erzeugnisse der Gemeinschaft nahegebracht werden, wer den mühevollen Kampf gegen den Irrtum aus Bequemlichkeit scheut oder einem geruhsamen Leben opfert, ist sich nicht der Verantwortung bewußt, zu welcher ihn sein Talent verpflichtet. Es ist hauptsächlich das egoistische Befangensein in sich selbst, das das kritische Unterscheidungsvermögen trübt und ein Verschweigen aus Rücksicht oder Schwäche erzeugt, ein Zurückdämmen echter Werte zugunsten falscher.
»» Goethe: »Es ist notwendig, die Wahrheit zu sagen, da auch der Irrtum immer wieder gepredigt wird.«
»» Beim kleinsten Kind muß mit der Erziehung zur Kultur begonnen werden. Wenn eine verantwortungsvolle Umgebung wachsam Sorge trägt, daß alles, was das Kind hört, beobachtet, gut ist, so wächst es ganz von selbst in eine Kultur hinein, die ihm bald ermöglicht, eine weitere Erfahrungswelt in sich aufzunehmen, und die Seele aufzuschließen für die wahren Werte des Lebens. Das Unterscheidungsvermögen entwickelt sich dann ganz natürlich. Alles angelernte Wissen und die Technik erhalten erst Wert durch diese erfahrungsmäßigen Erlebnisse, durch die Gemütskräfte, die vom Herzen her gesteuert werden.
»» Beethoven mit immer leidenschaftlicherer Hingabe erfühlen, ihn erkennen, erfassen lernen, heißt: Sein eigenes Selbst in immer höherem Streben zu entwickeln. Beethoven hilft uns, den Mut unantastbar zu erhalten. Seine Musik verkündet das Gesetz des ringenden Menschen.
»» Erschütternde Gemütstiefe und unstillbare Wehmut verkünden die Werke Robert Schumanns. Um das leidgeprüfte Herz Robert Schumanns nachempfinden zu können, müssen Liebe und Beziehung zur heute viel geschmähten Romantik vorhanden sein. Immer aber ist der Verzicht auf sentimentale Gefühlsäußerungen Voraussetzung.