Elly Ney und die Großen der Musikwelt zu ihrer Zeit
» … Ein geheimnisvoll angeschlagener Akkord (Beethoven, Sonate d-Moll) – und der Zuhörer war an ihren Stromkreis angeschlossen. Was sich dann begab, das kann und soll nicht mit Worten beschrieben, soll nicht wissenschaftlich seziert werden. Wer Ohren hat zu hören, der hat es gehört! Und es war keineswegs damit getan, sondern es tönte weiter in den Herzen der Zuhörer, die vom ersten Auftreten dieser größten nachschaffenden Künstlerin es begriffen hatten, daß eine solche Kunst ihre Kraft aus den Wurzeln zog, die in den unergründlichen Tiefen der menschlichen Seele beheimatet sind.« (Wilhelm Kempff)
Will man ELLY NEY hinsichtlich Stand, Rang und Werkauffassung – was man heute als Stellenwert bezeichnet – ein- und zuordnen, so wurde sie zu Beginn ihrer Karriere stets mit Teresa Careño (1853-1917) verglichen und »der weibliche Paderewski« (1860-1941) genannt. Später stand als Pianist ihr am nächsten zeitlebens Wilhelm Kempff (1895-1991), als Leschetizky-Schüler muß auch Artur Schnabel (1882-1951) hier erwähnt werden. Vom künstlerischen Niveau her aber mit anderer Interpretationsauffassung gab es noch die großen Zeitgenossen Walter Gieseking (1895-1950) und Edwin Fischer (1886-1960) und die ausländischen Kollegen Clara Haskil, die Schweizer Pianistin rumänischer Herkunft, Horowitz der große Techniker, Arthur Rubinstein, Emil Gilels, Sjatoslaw Richter, van Cliburn und viele andere Große der Ersten Klasse überall auf der Welt, die hier nicht alle aufgezählt werden können. Nach ihrem Tod kam ihr am nächsten der chilenische Pianist Claudio Arrau (1903-1991) und heute ist es die Argentinierin Martha Argerich (* 1941).
Selbstverständlich gehörten ihr Ehemann Willem van Hoogstraten und ihre Kammermusikpartner zum engsten Kreis ihres musikalischen Umfeldes. Als Namen stehen hier neben van Hoogstraten die Geiger Wilhelm Stroß und Max Strub und der Cellist Ludwig Hoelscher. Sie alle waren Nachfahren einer der Klassik entsprungenen Tradition. Es ist seltsam, daß ihr gemeinsamer genealogischer Ursprung, wenn man das so formulieren darf, bei ein und demselben, nämlich bei Joseph Joachim lag, dem Freund Mendelssohns, Schumanns und Brahms‘, bei jenem Meister, dessen geigerische Herkunft über Böhm zu Rode und Viotti bis in die Beethoven-Zeit zurückzuführen ist. Hoogstraten, der von Haus aus Geiger war, gehörte durch Schmuller, den Auer-Schüler und Enkelschüler Joachims, wie durch Bram Eldering, zu den unmittelbaren Schülern Joachims, Stross und Strub ebenfalls durch Eldering, Stross sogar zwiefach noch durch Flesch, der über Marsick ein Enkelschüler Joachims war. Der Vollständigkeit halber muß noch der zeitweise mitspielende Bratscher Valentin Härtl genannt werden, weil kurioser Weise seine Lehrergenealogie bei eben jenem Hellmesberger einmündet, in dessen zeitlichem Umfeld Joseph Joachim heranwuchs.
Es ist also kein Zufall, wenn sich das sehr merkwürdige Stil-Phänomen in dieser zunächst als spekulativ zu vermutenden Assoziationskette veranschaulichen läßt, und wie hier aus dem engen Verflochtensein von Generationen organisch ein Ganzes gewachsen ist, dessen gemeinsames Merkmal als ihr Stil bezeichnet werden darf, eine künstlerische, eine geistige und ästhetische Gesetzmäßigkeit, um die sie alle ganz genau wußten. In der Weiterführung dieser Gesetzmäßigkeit sahen sie ihre große, schwere Aufgabe. Über all das Persönliche und Technische hinaus wird darum diese stilistische Gemeinsamkeit, ihre Auffassung von Wesen und Wert der Musik, zu einem künstlerischen Programm, dessen klassische Wurzel in der seltener gewordenen Tugend der Freiheit künstlerischer Unterordnung zu finden war. Es ging nicht um das selbstherrliche Gebaren, sondern die Einfachheit des Selbstverständlichen, nichts weiter war zu tun als auf der Basis hohen technischen Könnens ganz einfach Musik zu machen.
Dabei war absolute Werktreue immer conditio sine qua non, ebenso wie das Handwerkliche der Technik, aber es ging nicht wie heutzutage um überzogene Perfektion, d.h. man trauerte nicht um gelegentlich mal sich einschleichende falsche Töne, die jedem und überall unterlaufen zu allen Zeiten.
Die Wertschätzung der Zeitgenossen zu gewinnen, war zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts viel leichter als in unseren Tagen. Damals war die Menschheit nicht mit Musik übersättigt, man konnte den akustischen Impulsen auch gar nicht so schnell folgen. Folglich setzte man nicht auf schnelles gar uhrwerkartiges oder maschinelles Spiel. Das Geheimnis des Erfolges lag zumeist in der Erzeugung von Spannungen und der Darstellung großer Linien und Bögen im langsamen Spiel – was übrigens auch heute noch gilt, und weswegen das Langsam-Spiel viel schwieriger ist, als das Schnellspielen.
Das technische Können dafür hatte Elly Ney seit 1892 nacheinander bei den Lehrern Franz Wüllner und Isidor Seiß in Köln und bei Theodor Leschetizky und Emil von Sauer in Wien erlernt und stand somit als Enkelschülerin in der Nachfolge Franz Liszts. Mit diesem Rüstzeug spielte sie gleich nach der Jahrhundertwende hochkomplizierte und äußerst leidenschaftliche Musik, die sie nicht nur bewältigte sondern scheinbar mühelos beherrschte. Wie auch heute noch zu erleben, gab es Augenblicke, die selbst abgestumpfte Zuhörer und Musikkenner wie Musikliebhaber in ergriffenes Staunen versetzten. Das bewirkte allein schon die Werkauswahl von der Klassik über die Hochromantik bis zur Spätromantik hin, Musik, die mit den Städten Wien, Salzburg und München lokal verbunden ist. Perlende Kaskaden, himmlische Längen und ausgesungene oder auch hingehauchte Melodien (ohne abgetriebene Endsilben), das war die Musik die Joachims Nachfahren und mit ihnen Elly Ney zelebrierten.
Anfangs standen auch für uns heute eher unbekannte Komponisten auf den Programmen: Moscheles und Paderewski, Ernst Toch tauchten da auf. In der Hoch-Zeit ihres Schaffens waren es Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann, Mendelssohn, Brahms, Chopin, Hans Pfitzner und Richard Strauss, Balakirew, Rachmaninoff, Tschaikowskij und Dvořák mit seinem Dumky-Trio u.a. Mit einem Klavierkonzert von Stojowski gewann sie den nach der Jahrhundertwende vielbegehrten Ibach-Preis.
Elly Ney war ein Kind der Romantik und blieb dies auch. Mit der Kunst ist es wie mit der Religion: soll man sie so weitergeben, wie sie einst verkündet wurde, oder soll sie mit der Zeit gehen und sich den Zeitläuften anpassen. Beim Künstler sollte man aber davon ausgehen, daß er sich so offenbart, wie er in seiner Ausbildung einmal geformt worden ist, von was er einmal überzeugt wurde, was er einmal verinnerlicht hat. Bleibt er dann dabei, dann ist es kein Unvermögen, keine Bequemlichkeit, sondern ein Wesensteil seiner selbst – und das muß man nicht ändern, es sei denn man will zeitgemäß experimentieren, womit man dann aber sich der Möglichkeit begibt, sich von anderen zu unterscheiden, seinem persönlichen Stil treu zu bleiben und ihn immer verinnerlichter zu offenbaren. Schwinden nämlich naturgemäß mit zunehmendem Alter die Kräfte, dann wird dieser Vorgang aufgewogen durch verinnerlichte Reife und Abgeklärtheit. Alter Wein ist köstlich und kostbar.
Männliches Klavierspiel und leeres Dahindonnern war nie Elly Neys Sache: »Nach der Kraft gibt es nichts Größeres als deren Beherrschung«, dieses Wort Jean Pauls war ihre Devise. So hielt sie sich von Anfang an die Warnungen vor einer modernen, virtuosen Auslegung Beethovenscher Musik, wie sie den Briefen Anton Schindlers an seinen Freund Franz Wüllner zu entnehmen sind, und versuchte das Ideal einer reinen, dem von Beethoven selbst gewollten Zeitmaß entsprechende Interpretation vorzulegen. »Ausschließliches Üben der Technik führt zur Vernichtung aller Schöpferkraft, zur Zerstörung der Phantasie« steht da auch zu lesen.
An den Großen des vergangenen Jahrhunderts wurde aus allen den Gründen in der zweiten Jahrhunderthälfte herumkritisiert, wegen der sie in der ersten Hälfte hochgejubelt worden sind. Lassen wir Elly Ney selbst zu Worte kommen?
»Der junge Studierende ist meist der Meinung, er müsse alles von außen her übernehmen und seiner eigenen Begabung aufpfropfen. Der Neuling ahnt ja nicht, daß das ´Lernen´ in der Musik nur in begrenztem Maße möglich und der Künstlerberuf mit großen Gefahren verbunden sein kann. In der Kunst gelten andere Gesetze als in den Wissenschaften, in denen gerade das ´Lernen´ die Grundlage bildet …«
»Durch rein verstandesmäßige, ausgeklügelte Methoden kann eine echt künstlerische Entwicklung nie erreicht werden. Dadurch verschließt sich vielmehr der Zugang zum Kunstwerk, denn dies enthält Geheimnisse, die sich dem Neugierigen sowie dem Ehrgeizigen entziehen und sich nur dem entschleiern, der für Offenbarung und Intuition empfänglich ist. Er muß das Organ besitzen, welches ihn das Fluidum der Kunst empfangen läßt, und sich dem Werk demütig nähern.
Wenn sich dagegen ein Musikstudierender durch systematisch-methodische Erziehung zu hochgezüchteten Ergebnissen emporarbeitet, möge er wissen, daß er damit zwischen sich und den Anforderungen des Kunstwerkes eine Kluft aufreißt … die immer größer wird, je mehr der Mangel an Empfinden für natürliche Melodieführung durch Manieriertheiten und Willkür ersetzt wird …«
»Die Erziehung muß daher den Schüler anleiten, seine Begabung in der Auseinandersetzung mit den geistigen Hintergründen und den natürlichen Zusammenhängen des Werkes (und seinem Schöpfer) zu entwickeln«. Elly Ney schreibt damit im Klartext, daß der gebildete Zuhörer den geborenen vom gelernten Musiker ad hoc zu unterscheiden vermag, so wie man auch hört, wenn ein Pianist zu hoch oder zu tief sitzt und damit Probleme hat, die notwendige Kraft auf die Tasten zu bringen.
»Sicheres Zeichen für den Wert eines neuen Werkes ist die Steigerung des Eindrucks bei öfterem Hören« schrieb sie einmal nieder, als sie kurz hintereinander Honeggers »König David«, Kodálys »Ungarischen Psalm« und Chorwerke von Petyrek und André Caplet sowie Instrumentalkonzerte von Hindemith und Kurt Weill sowie ein Quartett von Schönberg gehört hatte. »Ein krampfhaftes Sichverschließen vor den für manche Ohren noch ungewohnten Klängen moderner Musik wäre ebenso töricht wie das starre Festhalten an alten Instrumenten … oder auch an der alten Dekoration der Wagnerschen Bühnenbilder in Bayreuth«. [!]
Ihren Kammermusik-Kollegen schrieb sie einmal: »Das Primäre in der Kunst ist das Schöpferische, Technik ist nichts als Mittel zum Zweck. Präzision und Dynamik haben nur dem seelischen und geistigen Gehalt zu dienen – wo sie Selbstzweck werden, stören sie das Schöpferische. … Ehrfurcht vor dem Werk … Mir geht es um seelischen Kontakt, um Harmonie, um gleiches, gemeinsames Ziel, gleiches Wollen, um Andacht und Versenkung, um innere Spannung und restlose Hingabe an den seelischen Gehalt der Werke. Um geniale Haltung … Einfachheit und Bescheidenheit …« Schillers Briefe »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«, Goethe-Briefe und Novalis: daraus zog sie ihren Lebens-Imperativ.
Immer wieder finden sich Hinweise auf »das natürlichste Instrument, die menschliche Stimme«: Singen muß das Klavier, der Gesang muß »mit Liebe und Sorgfalt« vorgetragen werden……. »Die echte, wahrhaft gute Musik läßt höhere Welten ahnen«. »Zur Ergänzung des technischen Rüstzeuges sollte der Künstler musikalische Intelligenz, Kultur und ein umfangreiches Wissen in allen musikalischen und künstlerischen Fragen erstreben, was sich, wie ich denke, von selbst versteht, falls ihm die Kunst heilig und Lebenszweck ist ….. er muß sich zu einer vollwertigen Persönlichkeit entwickeln.« Und immer wieder Singen, singen und singen mit Leidenschaftlichkeit, Sehnsucht, Innigkeit eine reine und spannungsreiche Musiksprache wiedergeben. Denn »Töne sind der feinste Stoff, welchen unserer Geist in sich schließt. Allein, sie sind auch die höchste Gabe der Gottheit, weil sie, ungeachtet ihres geisterhaften Wesens, doch so leicht verstanden und allgemein begriffen werden – jeder besitzt davon, ohne es zu wissen -, weil der Ton eine reine Gefühlssache ist und man sich nicht alles dessen klar und bestimmt bewußt ist, was man empfinden kann…..Oh, das verdammte Wissen wird ewig beschämt vor der heiligen Kunst dastehen, die aus sich selbst geboren zu uns spricht. Töne wachen auf durch die Glut der Begeisterung.«
Abschließend soll aus einer Kritik des großen Münchener Kritikers Alexander Lesch, genannt Berrsche, zitiert werden – geschrieben 1917 hatte sie bis zum Schluß mutatis mutandis Gültigkeit: »Endlich wieder einmal eine Persönlichkeit, bei der Musikalisches und Technisches sich die Waage halten, eine Natur, die das Organische des kompositionellen Geschehens klar erfaßt und zugleich die Mittel besitzt, ihre Erkenntnis bis in die zartesten, unwägbaren Schwebungen intuitiven Fühlens sicher und unzweideutig zu gestalten. Es ist der höchste Triumph solcher Künstler, daß es nicht möglich ist, ihre Technik als solche zu würdigen. Wo alles zum vollkommenen Ausdrucksmittel des Geistigen geworden ist, scheitert das Bemühen, das Technische allein zum Zweck der Betrachtung loszulösen, aus demselben Grund wie der Versuch, beim Anhören der Muttersprache nur das tote Klangbild in sich aufzunehmen, ohne zugleich den Sinn der Worte zu erfassen …. Ich habe eine so durchgeistigt aufgebaute, rhythmisch kraftvolle und lyrisch zarte Spielweise wie die ihrige bis jetzt noch nicht erlebt: mit unendlicher Feinheit im Ausdruck und Klang, und doch groß und ohne alle spielerisch verniedlichende Stilhuberei.«
Wer Elly Ney noch nicht kennen sollte, sie aber kennen lernen möchte, der versenke sich in ihre Musikwelt. Modernste Technik macht’s möglich.
Hans D. Hoffert
Foto ganz oben: Elly Ney, © Fotostudio Schafgans, Bonn