… die Erfindung scheint ihn im Stiche zu lassen

vom 1. März 1871
(Berlin)

 

In der siebenten Sinfoniesoirée der Königlichen Kapelle hörten wir zuerst eine neue Sinfonie (F-moll) von Max Bruch, ferner Concertouverture zu »Tausend und eine Nacht« von W. Taubert, Sinfonie (C-dur) von Beethoven und zum Schluss Webers Ouverture zu »Oberon«. Die genannte Sinfonie von Bruch besteht aus drei, eigentlich aber nur aus zwei Sätzen, da das Adagio und der letzte Satz fast unmerklich zusammengezogen sind, wodurch sich um so mehr abspannende Längen ergeben, als schon an sich das Adagio fast über die Gebühr ausgedehnt ist. Das Werk gehört zu denen der Neuzeit, die sich meist in düsterer und verschwommener Färbung ergehen, der rythmisch[!] markirten thematischen Schärfe entbehren, die Erfindung scheint ihn im Stiche zu lassen sind, in der inneren Verarbeitung des Materiales meistens zu viel auf einmal geben, vorzugsweise durch mehrfach sich kreuzende, begleitende Nebenfiguren, die dem Zuhörer das klare Verständniss der Melodieführung erschweren, was sich ausserdem durch oft erdrückende Masseninstrumentirung (z. B. viel Posaunen noch sehr verstärkt. Es ist nicht zu leugnen, dass trotz dieser allgemeinen Mängel das Werk an Einzelheiten manches Schöne enthält, welches durch zeitweilig etwas lichtere Unterlage noch mehr zur Geltung kommen würde. Etwas weniger Ausdehnung der Sätze wäre ebenfalls wünschenswerth, besonders bei den Schlüssen, die meist zu oft vorbereitet werden und dadurch ihre volle Wirkung abschwächen. Abgesehen von grosser Länge erscheint das Adagio in seiner melodiösen Anlage als der beste Satz des Ganzen, was aber im späteren Verlauf durch allzubewegliche Modulationsrichtungen zuweilen gestört wird. Die Aufnahme des Werkes war, wenn auch nicht sehr lebhaft, jedoch anerkennend.