Zwischen Märchen und Sage: Das Clemens Sels Museum in Neuss entführt in einer bundesweit erstmalig zusammengetragenen Ausstellung in die Bilderwelt der Romantiker Edward von Steinle und Leopold Bode
Von Jan Crummenerl
Der Betrachter reibt sich die Augen. Da hat sich der Künstler wohl während der Messe und des Religionsunterrichts zu oft seinem Schlafbedürfnis hingegeben. Oder will er sein Publikum testen? Nach dem Motto: Suchen Sie die zehn Fehler? Nun, die Butzenscheiben-Romantik und der theaterkulissenhafte Aufbau seien bei diesem Marien-Triptychon dem 19. Jahrhundert geschuldet. Im Hauptbild, immerhin klassisch korrekt, ist Maria im traditionell blauen Mantel abgebildet und auch die Weisen – inklusive Mohr – sind recht passabel. Aber das Jesuskind in Mariens Arm? Das scheint doch ein ausgewachsener Grundschulbub zu sein. Das rechte Bild des Triptychons zeigt Maria schlafend im Wald, bestaunt von den Tieren, bewacht von einem Engel. Davon steht zwar nichts in den Evangelien… nun gut. Links hört es dann aber auf; das muss der Maler eindeutig in den falschen Hals bekommen haben: Bei der Fußwaschungsszene hält Maria die Beine hin! Des Rätsels Lösung: In dem dreiteiligen Gemälde von Leopold Bode geht es nicht um Jesus und Maria. „Pippin und Bertha“ lautet der Titel und bezieht sich auf die Sage von der Geburt Kaiser Karls des Großen. Dass hier bei aller Märchenhaftigkeit die christlichen Bezüge unübersehbar sind, kommt nicht von ungefähr. In der später sogenannten Kunstrichtung der Nazarener durchdringen sich im Laufe des 19. Jahrhunderts Romantik und Katholizismus. „Erzählen in Bildern“ heißt die bis zum 30. Juni im Clemens Sels Museum in Neuss gezeigte Ausstellung mit Bildern von Edward von Steinle (1810 bis 1886) und seines Schülers und Mitarbeiters Leopold Bode (1831 bis 1906).
Für die Werkschau, die erste zu diesen beiden Künstlern überhaupt, ist es gelungen, bundesweit knapp 40 Bilder und Bilderzyklen zusammenzutragen. Die Bilder der heute eher unbekannten Maler – zu ihrer Zeit allerdings vielbeschäftigt – bestechen durch ihr Niveau. Das Auge verliert sich in der buchstäblich malerischen Märchen- und Sagenwelt des Dargestellten. Diese aber ist alles andere als Märchenbuch-Illustration. Von Steinle und Bode werden zu Deutern des bereits Erzählten und nähern sich ihren Themen oft aus einer verblüffend ungewohnten Blickrichtung. Denkt man bei „Schneewittchen bei den sieben Zwergen“ zuerst an Schlüsselszenen wie das Wachküssen durch den Prinzen oder wie die böse Königin der Schönen den Gift-Apfel andreht, so nähert sich von Steinle in seinem Aquarell dem Thema ganz anders: Schneewittchen liegt tot auf dem Bett, als die Zwerge, nicht zufällig dargestellt wie die kleinen Brüder des Schwindschen Rübezahls, eintreffen. Die Szene wird zum Psychogramm des Erkennens und Entsetzens in sieben Schritten. Der vorderste Zwerg hat das Ausmaß der Katastrophe bereits begriffen, während der letzte noch ahnungslos zur Tür hereinkommt. Auch das Christliche fehlt nicht: Haltung und natürlich der blaue Umhang erinnern an die Darstellungen von Maria auf dem Totenbett.
„Das Schauen fordert die Bereitschaft zur Verlangsamung ein“, schreiben Museumsdirektorin Uta Husmeier-Schirlitz und Bernhard Maaz, Generaldirektor der Bayrischen Staatsgemäldesammlung, in ihrem Vorwort zum ebenso umfangreichen wie interessanten Katalog. Verlangsamung ist nun nicht gerade die Sache unserer Zeit. Wer sich aber darauf einlässt, bekommt auch einen Einblick in die Geschichte und Lebenswelt des Bürgertums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das diese Bilder in Auftrag gegeben hat. Dort reagierte der Mensch noch sensibel auf die Widersprüchlichkeiten zwischen der Technisierung, Industrialisierung und nicht zuletzt Ideologisierung der Welt hier und der Schwärmerei für Natur, Tradition und Freiheit da. Diese auch treibende Kraft der Zwiespältigkeit, die in der heutigen gesteuerten Konsum- und Verwertungsgesellschaft zugekleistert ist, schimmert in dieser Ausstellung mehr als durch.
Info: „Erzählen in Bildern. Edward von Steinle und Leopold Bode“, Ausstellung im Clemens Sels Museum Neuss, Am Obertor, bis zum 30. Juni. Geöffnet: di. bis sa. 11 bis 17 Uhr; so. 11 bis 18 Uhr. Katalog zur Ausstellung: 26,80 Euro. Internet: www.clemens-sels-museum-neuss.de