Schaffen • Schöpfen • Künden: Heinrich Kaminski und »das Werk«

I.

Falsehood is worse in kings than beggars
William Shakespeare, Cymbeline (III, 6)

Vor acht Jahren [2004] bereiste ein europäisches Kammerorchester, das sich der Wiederentdeckung »einer hymnisch-religiös motivierten Strömung der deutschen Musik« verschrieben hatte, unser Land. Man spielte Streichersachen: Introduktion und Fuge von Reinhard Schwarz-Schilling, dessen Geburtstag sich am 9. Mai 2004 gerade zum einhundersten Male jährte, den Hymnus Vom Unendlichen für Sopran und drei Streichquintette seines bei Kriegsende 37-jährig gefallenen Kollegen Heinz Schubert – und ein Werk für Streichorchester des Mannes, bei dem die beiden Vorgenannten ihr Handwerk gelernt hatten: Heinrich Kaminski, der bunt schillernde, zwischen den Weltkriegen hoch gehandelte Quereinsteiger, mit dem es das Schicksal jedoch so übel meinte, daß bis heute sämtliche Rehabilitationsversuche im Keime erstickten und selbst die glühendsten Appelle des hagiographischen Federviehs nichts fruchteten.

Auch das Projekt »Heinrich Kaminski und sein Kreis« von 2004 blieb folgenlos. Trotz des Förderpreises der Ernst-von-Siemens-Stiftung und trotz manch vernehmlicher Pressefanfare kam es, wie’s seinerzeit schon im Vorfeld ein renommiertes deutsches Tagblatt [1] orakelte: Kaminski repräsentiere, war zu lesen, »mehr denn je die der Erde abgewandte Seite des Musikbetriebs – Klassik von einem andern Stern«, und für diese unzeitgemäßige »Ästhetik des Zeitlosen« habe sich keine Nische gefunden. »Die nächsten Jahre werden zeigen, ob Kaminski wiederkehrt oder ein drittes Mal untergeht.«

Weder das eine noch das andere geschah. Mit völliger Gleichgültigkeit ging der 4. Juli 2011 vorüber, den man als den 125. Geburtstag des Komponisten hätte zelebrieren können, und auch der 21. Juni als der 65. Todestag blieb unerwähnt. Keine Neueinspielung oder Wiederveröffentlichung etwa des kolossalen Concerto grosso (1923) oder der Dorischen Musik (1934), mit denen Heinrich Kaminski bis in die Chefetagen der größten Institutionen vorgedrungen war, nichts an nennenswerten Aktivitäten kammermusikalischer Natur – und ganz gewiß kein Wort zu den Bühnenwerken Jürg Jenatsch (1927/29) oder König Aphelius, dem rauschhaft vollendeten Schwanensang. Das a cappella-Chorwerk und das Orgelschaffen sind seit längerem zu haben, das noch vor dem Ersten Weltkrieg entstandene Streichquartett F-dur sowie die Musik für Violoncello und Klavier entdeckt man in teils passender, teils weniger passender Kopplung. Doch der Paukenschlag, der erlösende Hieb auf den Schlußstein, unter dem die Mauern der Ignoranz zusammengebrochen wären: Der blieb aus.

Ein Wunder ist das nicht. Denn einer, der es dank seiner Kapazitäten über verschlungenste Seitenwege bis in die Musikblätter des Anbruch, in Pult und Taktstock und andere Periodika schaffte; der mit kaum mehr als dreißig Jahren in die vorderste Riege der deutschen Tonkünstler vorstieß; der trotz chronischen Geldmangels weder die Gemahlin noch die Kinder mußte Hungers sterben lassen, weil immer wer da war, der gerade ein paar Reichsmark, Franken oder Dollar beziehungsweise eine nicht eben schmächtig dotierte Stelle oder einen Auftrag zu vergeben hatte – einen derart überlebenswilligen Geist muß man nicht posthum zur Wiederentdeckung drängen wie eine fußkranke Schildkröte zum kühlenden Teiche. Nein, da genügen die leichten Bewegungen, der dezente Hinweis, das ceterum censeo im festen Vertrauen darauf, daß das, was vorübergehend einmal untergetaucht sein mag, eines Tages qualitätsbedingt wieder auftaucht und dann dort für alle Ewigkeiten bleibt, von Moden, Maschen und Marotten ungetrübt – immer natürlich vorausgesetzt, es handelt sich auch um was, das des »Aufhebens« wert ist: Mittelmäßige Halbtalente, denen vom Leben nichts blieb als eine kostbar gehegte Opferrolle, werden es nicht schaffen, was immer man glaubt aufwenden zu müssen. Auch pathetische Deklamationen wie »Die Zeit ist reif!« können nur ins Leere gehen: erstens, weil sie hülsenleer und haltlos sind; zweitens, weil die Zeit nichts ist, das reifen könnte; und drittens, weil noch jedes »Aufrütteln« mit dem Vorwurf einhergeht, wir unsensiblen Andern hätten die »gereifte Zeit« frevelhafterweise verpaßt. Durch die Erweckung eines schlechten Gewissens läßt sich die Bereitschaft zu künstlerischer Rezeption oder gar zu geistigem Erleben indessen ebensowenig steigern, wie sich auf dem Rade, dem Scheiterhaufen oder beim inquisitorischen Barbecue der Glaube an ein Höchstes Wesen jemals hat befestigen wollen.

Vollends unbrauchbar sind schließlich die Garnituren, die man gern zwischen den nackten Fakten des Lebenswegs versteckt. Die minimalen Akzentverschiebungen und Verfälschungen, die für den Fall der Entdeckung leicht mit wegwerfender Geste (»ach, das ist doch nicht wichtig!«) vom Verhandlungstisch zu wischen sind, richten noch immer die dauerhaftesten Schäden an. »Falschheit zeigt ärger sich im König als im Bettler«, beschrieb Cymbelines Tochter Imogen vor vierhundert Jahren das exponentielle Verhältnis zwischen Potential, Anspruch und Wahrheit: Selbst die fromme Lüge, wenn sie anderes als die Errettung aus akuter Lebensgefahr bezweckt, wird den spirituellen Einblick in die höheren Welten zunächst erschweren, hernach verschließen und endlich zur völligen Leugnung jener Gegenden führen, in denen der Geist seine Nahrung findet, weil er dort daheim ist.
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