Schaffen • Schöpfen • Künden …

II.

Komm in den totgesagten park und schau …
(Stefan George, Das Jahr der Seele)

Genau diese Regionen aber werden wir aufsuchen müssen, wenn wir nicht immer wieder der äußern Biographie aufsitzen und über ihren oftmals arg mitleidheischenden Details die ewige Kraft vergessen wollen, die da selbst unsichtbar im Hintergrunde wirkt oder, wie’s Friedrich Hölderlin in seiner Ermunterung so trefflich sagte, »sprachlos waltet und unbekannt Zukünftiges bereitet.«

Zwingend ist dieser Abstecher nach Dschinnistan nun nicht aus bloßer Schwärmerei oder, weil Heinrich Kaminski »immer gewußt [hat], daß der Mensch noch von weiter herkommt als von seinen Vorfahren, ja, daß er ein Geheimnis in sich birgt, das von irdischen Voraussetzungen nicht ableitbar ist.« [2] Mindestens ebenso wichtig sind ganz praktische Gründe: Wenn wir uns im weiteren Verlauf mit dem Werk für Streichorchester und seiner kammermusikalischen Urform, dem Streichquintett fis-moll, befassen wollen, bekommen wir es unter anderem mit einem geistigen Austausch zu tun, der sich weder aus topo- noch biographischen Gegebenheiten in seiner ganzen Intensität und Tragweite wird erklären lassen.

Zuvor müssen wir freilich die Barrieren, Sprengfallen, Fallstricke, Wassergräben und Schutzwälle, die zwischen dem »wësen« (so sagte man im Mittelalter für »sein«) und dem Rest der Welt aufgerichtet sind, nebst all den falschen Wegweisern, Zerrspiegeln und Fehldeutungen bezwingen, die uns von unserem Vorsatz abbringen und im wahrsten Sinne des Wortes »verleiten« wollen.

Steiniger ist mir in den vergangenen Jahren eine solche Annäherung nie erschienen. Sogar Gestalten wie der faszinierend schillernde Felix von Weingartner, dem man nie weiter als bis zur nächsten Ausrede glauben darf, teilten sich letztlich leichter mit als dieser Heinrich Kaminski, dessen Innerstes mir von einem jener undurchdringlichen Dornenwerke umsponnen schien, von denen wir im Märchen lesen. Das begann bei der Sekundär-Literatur, die hier ihrem Namen alle Ehre machte: Vieles ist da schief belichtet, hinzugedacht, vorschnell ge– und somit mißdeutet, durch »Ansichten« vorbelastet, ganz einfach auch faktisch falsch oder durch »versehentliche« Auslassungen verzerrt. Besonders beliebt sind da die »tausendjährigen« Erfahrungen mit der neuen Herrenrasse, die auch dem Gegenstand unserer aktuellen Betrachtung nicht erspart blieben. Verglichen mit dem, was unzähligen andern zustieß, hätte sich mit ihm eine wirkliche »Opferrolle« nicht ohne weiteres besetzen lassen – außer, man beging die eine oder andere Unterschlagung, vergaß Teilaspekte der Wahrheit und hoffte, durch derlei posthume Korrekturen die eingangs geschilderte »Wertsteigerung« zu erzielen. Im Falle des Heinrich Kaminski reichten Kleinigkeiten, denn es stand immer außer Zweifel, daß er mit der Welt der braunen Bagage nichts gemein hatte, weshalb er auch 1934 als Dirigent des Bielefelder Musikvereins durch einen strammeren »Pultgenossen« (PG) abgelöst wurde: Nach dem frühen Tode seines Vorgängers und Apologeten Wilhelm Lamping hatte er Ende 1929 dessen Aufgaben übernommen und zumindest bei denen, die eine Antenne für die geistigeren Bereiche der Musik besaßen, tiefste Eindrücke hinterlassen. Daß die nicht mit Blut, Boden und anderm Blödsinn zu vereinbaren und demnach nicht mehr gewünscht waren, leuchtet ein. Die vielfach kolportierte Behauptung jedoch, Kaminski habe am 1. Januar 1933 auf die Verlängerung seines Dreijahresvertrages mit der Preußischen Akademie der Künste verzichtet und seine dortige Meisterklasse, die er 1930 von Hans Pfitzner übernommen hatte, als Zeichen eines weltanschaulichen Protestes abgegeben – diese schemenhaft durch die Literatur schleichende Hypothese geht so sehr an der Tatsache vorbei wie die andernorts verbreitete Kehrseite, wonach man sich seiner entledigt habe, »da er gesinnungsmäßig nicht in die sich abzuzeichnende [sic!] Veränderung der politischen Landschaft paßte.« [3] Fakt ist, daß er binnen dreier Jahre auffallend wenige Meisterschüler in der Komposition unterrichtete und der Kosten-Nutzen-Faktor eine nicht unwesentliche Entscheidungshilfe war, den seltsamen Patron aus Süddeutschland loszuwerden, der an festen Einkünften zwar interessiert war, die damit einhergehenden Verpflichtungen aber stets als ein (nachvollziehbares) Schaffenshindernis ansah.

Indessen soll nicht im geringsten bestritten werden, daß Heinrich Kaminski durch sein pures Vorhandensein (= »wësen«) so manchem völkischen Beobachter ein Dorn im Auge war. Vergessen wir nicht, daß seine Musik nach ‘33 noch geraume Zeit von den größten Künstlern bis hinauf zu Wilhelm Furtwängler dirigiert wurde und daß es noch 1938 Bestrebungen gab, mit Kaminski die durch Paul Hindemiths Weggang entstandene Berliner Lücke zu füllen. Genau das sollte aber offenkundig mit allen Mitteln verhindert werden, und es gelingt: Einem Aktenschnüffler der »Reichsstelle für Sippenforschung« fällt auf, daß Kaminskis Vater, ein aus Polen stammender ehemaliger Priester, der sich nach dem Ersten Vatikanischen Konzil als Geistlicher auf die Seite der Altkatholiken geschlagen hatte – daß dieser Paul Kaminski möglicherweise identisch mit einem beinahe gleichlautenden Paul Kamienski sei, der als unehelicher Sohn einer jüdischen Magd geboren wurde. Wenn nun der (unbekannte) Vater dieses Kamienski-Wartenberger ebenfalls Jude gewesen wäre, so konnte über den mißliebigen Heinrich nur ein Urteil gefällt werden: Striktes Aufführungsverbot. Häufig unterschlagen wird bis heute, daß der Bann am 31. Mai 1941 seine Gültigkeit verlor: Nach einem neuen Gutachten »vom 15.4.1940 über die Abstammung des Herrn Professor Heinrich Kaminski [ist dieser] Mischling mit einem der Rasse nach volljüdischen Großelternteil. Daher hat die Reichsleitung der NSDAP gegen die öffentliche Aufführung seiner Werke keine Bedenken, außer wenn es sich um Konzerte der Partei, ihrer Gliederungen und der angeschlossenen Verbände handelt.« Daß zwischen der »Expertise« und ihrer Inkraftsetzung über ein Jahr verstreicht, nährt den oben geäußerten Argwohn, es könnten hinter den Kulissen einige kulturpolitische Gegenabsichten am Werke gewesen sein. Oh, welche Lust!

Die Rehabilitierung nahm Heinrich Kaminski eine Last von den Schultern. Doch eben nur eine. Schon 1937 ist die Ehefrau mit den fünf Kindern nach München gezogen, um dem Nachwuchs eine ordentliche höhere Schulbildung zu ermöglichen. Am 14. September 1939 ist die älteste Tochter Gabriele nach ihrer Blinddarmoperation nicht mehr aus der Narkose erwacht. Immer wieder hat sich Kaminski vorübergehend in die Schweiz oder ins Oetztal abgesetzt, wo ihn verläßliche Freunde aufnehmen – vor allem der unerschütterliche Werner Reinhart in Winterthur und die Prinzessin Hélène Croy in Habichen. Dann der nächste Schlag: Seit dem 3. Juni 1943 ist das U-Boot, auf dem der Sohn Donatus als Fähnrich dient, nach einer Tauchübung verschollen. Wie man das aushält? Kaminski arbeitet, wo immer sich die Gelegenheit bietet. Das Tanzdrama für Orchester (1942), die Ballade für Waldhorn und Klavier (1943) und vor allem Das Spiel vom König Aphelius helfen. Auch, wenn er mit einem innern Auge nach München blickt, das allmählich ins Visier der Alliierten gerät. Die Familie muß zwischendurch ausweichen, persönliche gesundheitliche Probleme häufen sich; ein paar Tage bringt Kaminski einen Flüchtling der »Weißen Rose« bei sich unter, während seine vermutlich brillanteste Widerstandsleistung darin besteht, für die Gemahlin seines Freundes und Schülers Schwarz-Schilling, die Pianstin Dusza von Hakrid, einen einwandfreien Stammbaum zu fälschen. Dann ist der Krieg aus. Man kann wieder nach München, wo die Ehefrau durch ein Trümmerstück eine schwere Gehirnerschütterung erleidet. Und im September 1945 stirbt die Tochter Benita, vermutlich in Folge der vorherigen Entbehrungen. Vitalis, der jüngere Sohn, kehrt zwar heim, doch Donatus bleibt spurlos verschwunden. Da soll einer nicht den Mut verlieren. Bis zum Ende des Aphelius hält Heinrich Kaminski noch durch. Dann stürzt er förmlich in sich zusammen. Am 21. Juni 1946 stirbt er, keine sechzig Jahre alt.
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