Neue Freie Presse vom 22. November 1919

Feuilleton.
Mein Großvater Karl Goldmark.
Von Franziska Hegenbarth.

[Fortsetzung.]
Von meinem lieben, unvergeßlichen Bruder, der in dem Krieg den Heldentod gefundne, möchte ich sprechen. Wie gehört er doch dazu, wenn ich von meinem Großvater und den Klavierstunden spreche, war er doch auch sein geliebter Enkel, und um einen Ausspruch Großpapas hier wiederzugeben, »sein edelster Schüler«. Ich senke den Kopf und seufze, denn mein Bruder war das ganze Gegenteil, aber das Bessere von mir. Er besaß all diese Fähigkeiten, die Großpapa bei mir vergebens, entweder durch Güte oder Familientragödien zu wecken suchte. Er besaß großes Talent, die feinste und wärmste Empfindung, das vollendetste Taktgefühl, so daß ich nicht begreifen konnte, wieso es dennoch zu Kämpfen zwischen Großpapa und seinem Enkel kommen konnte. Aber der liebe Junge war ein Mensch von ernstem, verschlossenen Wesen, der es nicht übers Herz brachte, sich zu verteidigen und gründlich zu rechtfertigen, wenn ihm unrecht geschah, sondern sich stets mimosenhaft zurückzog und aus dieser Reserve nicht sobald herauszubekommen war. Spielte er nun wirklich einmal nicht zu Großpapas Zufriedenheit und flogen auch bei ihm die Noten zu Boden und die Tür ins Schloß, so zog er sich schweigsam in seine Zimmer zurück, wurde auch während der Mahlzeit nicht freundlicher, im Gegensatz zu mir, die ich mich, wenn ich schlecht gespielt hatte, besonders aufmerksam um Großpapa bemühte, um ihn milder zu stimmen, und tagelang konnte das Klavier, wenn es nach ihm ginge, geschlossen bleiben, wenn nicht Großpapa, seine ganze Würde und großväterliche Autorität vergessend, es seiner zudringlichen Enkelin gleichgetan und den Weg zu meines Bruders Zimmer eingeschlagen hätte, um ihn zu bitten, wieder zur Stunde zu kommen und ihn und das Klavier wieder in Gnaden aufzunehmen. Herrschte nun wieder Friede zwischen ihnen und wie stets ein zärtlich liebevolles Einverständnis, verlebten sie schöne Stunden am Klavier, im gemeinsamen Genießen und zum Genusse derjenigen, die ihnen zuhörten. Ich muß mir eingestehen, daß mir niemand mit Andacht zuhörte, und die Stunden, die Großpapa und ich gemeinsam am Klvaier verbrachten, nichts weniger als eine Erbauung waren. Nach dem Nachtmahl spielten beide stets vierhändig und kann nur Großpapas Nerven bewundern, den Vormittag mich zwei Stunden anzuhören, gegen Abend meinen Bruder fast drei Stunden und nach dem Essen wieder zwei Stunden vierhändig, das ist eine Leistung. Es war ein eigener Fluch, der über dem unschuldigen Klavier lastete, daß es stets Anlaß zu Zwisten gab. Auch wenn mein Bruder wundervoll gespielt und ich meinen Mozart oder Mendelssohn annehmbar heruntergehackt hatte, ganz froh konnte doch keiner werden. Namentlich im Sommer, wo doch jeder sich der ungebundensten Freiheit erfreuen durfte, mußte ich gleich nach dem Frühstück zwei und mein Bruder drei Stunden üben, um dann gegen Abend zwei Stunden von Großpapa überwacht zu werden. Das war nun ein wenig grausam, im Sommer die angenehmste Zeit des ganzen Tages am Klavier verbringen zu müssen. Das fand auch Mama, und sich ihres gequälten Sohnes erbarmend, rang sie tapfer mit Großpapa und trug auch den Sieg davon. Zwar wurden ihm die Stunden nicht geschenkt, sondern nur auf eine andere Tageszeit verlegt, wo es zwar so heiß war, daß die Finger auf den Tasten nur so rutschten, aber sie war insofern günstiger, als der angenehme Abend für ihn gerettet war.

Schicksalsschläge waren es entschieden, wenn unsere Eltern des Abends weggingen und wir mit Großpapa allein waren. Das mag wohl sehr befremdend klingen, was ich da geschrieben, aber die Aufklärung wird nicht lange auf sich warten lassen. Wie schön wäre es gewesen, hätte man gemütlich und mit interessanten Gesprächen die Zeit zugebracht oder eine andere Beschäftigung zu diesem Zwecke vorgenommen. Aber nein! Da wurde die Macht der Musik mißbraucht Großpapa erschien natürlich wie sonst um 6 Uhr in dem Zimmer meines Bruders, um ihn zum Klavier zu holen, und um 9 Uhr saßen sie noch dort, ohne Speise und Trank genossen zu haben, denn wenn meine Eltern nicht da waren, wurde das Essen, welches bereits aufgetragen, wieder kalt, wanderte hinaus, um eine ganze Beethoven-Sonate lang nicht wieder hineinzukommen. Ich hungerte, gähnte, bewegte mich sehr geräuschvoll im Speisezimmer, um Großpapas Aufmerksamkeit vom Klavier abzulenken. Endlich um viertel Zehn ging die Tür auf, und mein Bruder, blaß, mit ganz gläsernen Augen vor Hunger und Abspannung, gefolgt von Großpapa, trat heraus. Der alte Herr war frisch, angeregt, hatte gerötete Wangen und verwickelte meinen Bruder, der heißhungrig sein Essen verzehrte, noch in ein musikalisches Gespräch, das solange dauerte, bis der arme Jüngling sich vor Müdigkeit kaum mehr aufrechterhalten konnte und Großvater, der mit bewundernswerter Frische auf ihn eingesprochen, ihn endlich zu Bett schickte.

Einmal nun geschah es, daß wir den Sommer nicht wie alle Jahre in Gmunden zubrachten, sondern in einem kleinen, abgelegenen Dörfchen, an da ich, obwohl es nicht besonders lieblich war, gerne und mit Dankbarkeit, ich sage aufrichtiger Dankbarkeit, zurückdenken werde, denn es gab dort kein Klavier, demzufolge auch keine Stunden, und Großpapa litt auch deshalb im geheimen. So konnte ich mich der ungetrübtesten Erholung und meiner sieben Lenze, die ich zählte, erfreuen und den lieben langen Tag auf den Wiesen und in den Wäldern herumtollen. Trotzdem von Klavierstunden keine Rede war, konnte Großpapa diesen Sommer seines Lebens nicht froh werden, denn ihm war das nicht allzu leichte Amt zugefallen, »der Hüter seiner Enkelin zu sein«. Da Mama mit meinem Bruder in ein Bad verreist und Papa in Wien geblieben, konnte er nun seiner übertriebenen Aengstlichkeit freien Lauf lassen. Leider meistens vergebens, und da er mich nicht wie beim Klavier sofort auf frischer Tat ertappen und festhalten konnte, war sein Zorn, bis ich endlich irgendwo auftauchte, meistens längst verraucht. So auch einmal. Es war ein herrlicher Sommernachmittag, strahlend leuchtete die Sonne auf die große Wiese vor unserem Hause und spiegelte sich in den Bahngeleisen, die knapp daran vorbeiliefen. Ich tollte auf der Wiese und dachte eigentlich an nichts, als plötzlich von fern das Brausen eines Zuges hörbar wurde und sich gleichzeitig langsam der Schlagbaum senkte. Da kam mir blitzschnell ein verwegener Gedanke. Ich schwang mich auf diese Schutzvorrichtung hinauf und baumelte vergnügt mit den Beinen, während der Zug vorüberdonnerte und die Passagiere mit den Taschentüchern nach mir winkten. Ich blieb auch noch ruhig sitze, als der Zug bereits in den nahegelegenen Bahnhof einfuhr. Da plötzlich fühlte ich, wie es mir einen leichten Ruck gab, gleichzeitig schwebte ich, von dem Schlagbaum getragen, in die Luft. Ich schrie in meiner Todesangst so fürchterlich, daß ich Großpapa, der mit feinem Ohr die Stimme seines Enkelin erkannt, ans Fenster lockte. Es ist schwer, seine Angst, gemischt mit Zorn und Hilflosigkeit, zu beschreiben. Er, dem es schon zu gefährlich war, mich in einem harmlosen Leiterwagen den Berg hinunterfahren zu wissen, mußte nun mitansehen, wie ich vor seinen Augen am untersten Ende eines Balkens angeklammert, in den Lüften schwebte. Händeringend stand er am Fenster, sein weißes, langes Haar flog, vom Winde bewegt, und das einzige Stoßgebet, daß er zu mir herübersandte, war: »Wart’ nur, du niederträchtiger Fratz, bis du heimkommst! Steig’ sofort herunter!« Ja, wenn das so leicht ging! Wie konnt’ ich denn von solcher Höhe hinabsteigen, ohne mir nicht alle Knochen zu brechen. (Daran hatte Großpapa in seiner Ratlosigkeit nicht gedacht.) Und hinunterrutschen, dazu war mir das Holz zu rauh. Und da ich keinen Fallschirm besaß, blieb ich sitze und bemerkte erst jetzt, wie eine Anzahl Menschen, inklusive Kondukteur und Bahnwärter, der sich mit mir einen bösen Scherz erlaubt hatte, über mich, die ich gleich einem Fesselballon mit vom Wind aufgeblähten Röckchen da oben schwebte, unbändig lachen. Da endlich erbarmte sich der Stationsvorstand und ging zu der Maschine, um mich eigenhändig wieder herabzulassen. Ich spürte wieder einen leichten Ruck, und landete glücklich, gänzlich unversehrt, sanft und behutsam am Boden, wo ich, müde von dem krampfhaften Anklammern, ins Gras sank. Großpapa war während des ganzen Vorganges nicht vom Fenster weggegangen und hatte ihn mit größter Spannung verfolgt. Ich erhob mich wieder, und seiner Warnung eingedenkt, schlich ich langsam, langsam nach Hause. Dort angelangt, kam Großpapa mir bereits entgegen, und ich sank laut schluchzend in seine Arme, die er mir zu diesem Zwecke geöffnete, entgegengebreitet hatte, denn sein Zorn war längst verraucht und nur die Angnst um sein nichtsnutziges Enkelkind war zurückgeblieben. Nun hielt er mich in seiner Freude, mich wieder zu besitzen, fast an sich gedrückt und küßte mich unaufhörlich. Die Drohungen waren vergessen, ich bin meinen Mitmenschen und dem Klavier unversehrt erhalten geblieben.

Zwei Tage später mußte Großpapa sich nun doch zu etwas entschließen, was gründlich von seinen großväterlichen Eigenschaften abstach. Doch will ich nicht vorgreifen, sondern die Katastrophe sich bis zu ihrem tragischen Moment entwickeln lassen. Ich hatte nämlich von ihm als Entschädigung für die Qualen, die ich auf meinen Luftkurort ausgestanden, einen wunderschönen, rotgemalten Gummiball bekommen, über den ich glückselig war. Eines schönen Tages spielte ich damit im Hof, und nachdem ich ihn schon zum dreißigstenmal an die Wand geworfen und immer wieder aufgefangen hatte, sprang er diesmal etwas weiter und fiel in ein kanalähnliches Loch hinab. Ratlos stand ich oben und starrte dem Entschwundenen nach, bis mir plötzlich der Gedanke kam, dem Ball einfach nachzusteigen und ihn wieder heraufzuholen. So kletterte ich nun vorsichtig in das finstere Loch hinab und gelangte plötzlich, ganz wie im Märchen, auf einen schönen, schönen Platz, wo Ratte, Mäuse und andere ähnliche Tiere ihr Leben fristeten. Ich lief immer weiter und stand plötzlich mitten im Wasser. Der Kanal führte nämlich in den Fluß, der sich durch das ganze Dörfchen hindurchschlängelte. Glücklicherweise sah ich auch bald eingeklemmt zwischen Binsen und Schild den Verlorengeglaubten. Ich hob ihn auf, nahm in in meine Schürze und andere den gleichen Weg, den ich gekommen, wieder zurück. Aber zum Unglück erwartete Großpapamich im Hof, denn er war in der Absicht, mit mir auszufahren, herausgekommen, um mich zu holen. Als er mich aber so schmutzig und zerrissen aus dem Kanal steigen sah, mußte er einen Augenblick die Absicht gehegt haben, mich zu verleugnen, da eben ein paar Sommerfrischler, die ihn gekannt hatten, vorübergingen, denn er wandte sich ab und griff sich nur mit der Hand an den Kopf. Als ich wieder vor ihm stand, hielt er mir eine Strafpredigt, die mir heute noch in den Ohren klingt, schickte mich hinauf und fuhr allein – er besaß wirklich diese Härte des Herzens – in dem Wagen nach der wunderschönen Jausenstation, um dort ohne mich all diese Herrlichkeiten zu genießen. Ich aber blieb auch nicht zu Hause, sondern lief in den Wald, um mich an Erdbeeren zu sättigen und meinen Schmerz zu lindern. Als ich noach einer kurzen Zeit wieder daheim erschien, bemerkte ich, daß ich nun schon zum zehntenmal in diesem Sommer mein Haarband verloren hatte. Wissend, daß ich das nicht durfte und unser Stubenmädchen, das schon lange Zeit bei uns diente, immer darüber außer sich geriet, lief in den Wald zurück, um das Verlorne zu suchen. Die Augen unablässig auf den Boden geheftet, irrte ich umher, ohne etwas zu erblicken. Es wurde dunkler, die Bäume rauschten leise im Abendwind und ein geheimnisvolles Flüstern, Zirpen und Summen unterbrach die sonst lautlose Stille. Ich begann mich zu fürchten und lief nun so schnell ich konnte, dem Waldausgang zu. Endlich stand ich vor einer Lichtung, von wo aus ich unser Haus, tief unten liegend, erblicken konnte. Ich war nicht wenig erschrocken über den weiten Weg, den ich zurückgelegt, und voll Angst, was Großpapa sagen wird, wenn er heimkommt und mich nicht findet, stürzte ich, über Wurzeln und Steine stolpernd, den Abhang hinab und langte endlich spät abend in tiefer Dunkelheit zu Hause an. Und diesmal ließ sich Großpapa nicht von seiner Angst unterkriegen, sondern nahm kalten Blutes seinen gründseidenen Sonnenschirm, der in der Ecke stand und lehrte mich auf diese Weise die Autorität eines Großvaters und dessen Schwächen zu respektieren. Als der Sommer zu Ende und wir wieder in Wien angelangt, hatte Großpapa ein Kilo abgenommen und auch seine Galle war etwas angegriffen. Einen Vorteil aber hatte dieser Landaufenthalt allein mit mir doch gehabt. Er war nämlich (leider nur für kurze Zeit) in den Klavierstunden viel sanfter und zugänglicher wie früher, da er einsehen gelernt hatte, daß die Aufregungen und Gefahren, die das Klavier bot, gänzlich unbedeutend waren im Vergleich zu denen, die er im Sommer mit mir erleben mußte und die wir beide glücklich überstanden hatten.
(Neue Freie Presse vom 22. November 1919)
(Schluß folgt.)