Neues Wiener Journal vom 25. Mai 1930
Anstelle des in der Neuen Freien Presse verheißenen Finales, das ich bis heute bei ANNO nicht habe entdecken können, beschließe ich Franziska Hegenbarths Erinnerungen mit dem Artikel, den das Neue Wiener Journal am 25. Mai 1930, eine Woche also nach Carl Goldmarks 100. Geburtstage, auf seinen Seiten 21 und 22 veröffentlichte.
Karl Goldmark – wie wir ihn sahen.
Die Enkelin des Komponisten über den Meister.
Von
Franzi Hegenbarth.
Der Einbruch ins Allerheiligste
Fast drei Viertel des Jahres pflegte unser Großvater in seinem geliebten Gmunden zu verbringen, wo er sich völlig ungestört fühlte, bis auch wir Kinder zum Landaufenthalt kamen und täglich zur Klavierstunde beordert wurden. Diese unseligen Stunden waren das regelmäßig wiederkehrende Wettergewölk an unserem blauen Gmundener Ferienhimmel und der zärtlich geliebte Großpapa hatte bei den Lektionen so viel Aerger auszustehen, daß es mit seiner Seelenruhe und der schöpferischen Stimmung unwiderruflich vorbei war. Aber so grimmig geärgert haben wir ihn selten gesehen als damals, als Mama en unseligen, aber echt fraulichen Einfall hatte, in seiner des Besens und Staublappens schon äußerst bedürftigen Wohnung einmal gründlich rein zu machen.
Großpapa bewohnte in Gmunden zwei Zimmer, die er vor jedem Zugriff einer Scheuerfrau sorgsam bewachte. Denn die Worte »Ordnung« und »Aufräumen« waren bei ihm identisch mit »Nichtfindenkönnen« und den damit verbundenen Aufregungen. Im ersten Zimmer befand sich sein Bett und ein kleiner, schon recht wackelig gewordener Tisch, auf dem er sich jeden Morgen während des Ankleidens selbst seinen Kaffee kochte. Auch in Wien, wo er bei uns wohnte, ließ er sich diese hausfrauliche Tätigkeit von niemandem abnehmen, obgleich ihm als richtigen Junggesellen fast täglich die über einer Spiritusflamme kochende Milch überlief. Ihm machte das nicht das geringste, seelenruhig saß er mit seinem über und über bekleckerten grauen Lodenrock beim Frühstück, strich sich den weißen Schnurrbart mit der Zigarrenspitze zurecht und schlürfte mit Behagen seinen braunen Trank. Dann begab er sich ans Klavier und arbeitete mit einer Hingebung, als ob es niemals aufregende Zwischenfälle beim Kaffeekochen gegeben hätte.
Das zweite Zimmer von Großpapas Wohnung war eine Sehenswürdigkeit, aber ganz bestimmt nicht etwa einer besonders kostbaren Einrichtung halber. Im Gegenteil. Diese Einrichtung war so primitiv ländlich, beinahe armselig, daß es mir heute noch rätselhaft ist, wie Goldmark in einer solchen Umgebung in künstlerische Schaffensstimmung kommen konnte. Das einzige edle Stück war sein alter Bösendorfer-Flügel und gerade diese Arbeitsecke glich aufs Haar einem Trödlerladen. Großpapas alte, schwarze Schlapphüte lagen zu unheimlicher Höhe getürmt unterm Klavier, daneben ein ganzes Lager von Schuhen in allen Arten und Größen. Ferner Lab es einen hohen, staubüberzogenen Notenkasten. Auf ihm thronte als besondere Zierde eine Zuckerschachtel, in der Mäuse ihr Quartier hatten. Zwei Kleiderkästen, ein wurmstiches Sofa, ein runder Tisch und ein Schreibtisch vervollständigten die Einrichtung dieses Gmundener Arbeitszimmers. Dieser Schreibtisch, über und über mit den unmöglichsten Dingen beladen, hat mir immer schwerstes Kopfzerbrechen bereitet. Denn ich konnte mir nicht vorstellen, wo Großpapa da ein freies Fleckchen zum Arbeiten fand.
Alle diese Herrlichkeiten sollten nun – Goldmark befand sich auf einer Reise und kam erst in zwei Tagen zurück – aus staubigen Schlummer geweckt werden. Die Möbel wurden in die Mitte des Zimmers geschoben, kein Bild blieb an seinem Platze, nur an die schwere Beethoven-Büste wagte sich niemand heran und sie sah mit einem unheilvollen Gesicht den reinmachenden Frauen zu, als ob sie sagen wollte: »Na, ihr könnt euch freuen, wenn der Goldmark nach Hause kommt!« Das Klavier ächzte unter den energischen Versuchen der Reibfrau, die sich einen halben Tag mühte, die zahllosen Tintenflecke auf den Tasten wegzuwaschen. Dieses alte, ehrwürdige Instrument war Großpapa ans Herz gewachsen. Mit bewunderungswürdiger Geduld fand er sich darein, daß einige Tasten erst nach fünfmaligem Anschlägen einen Laut von sich gaben und diese Töne so falsch klangen, als ob sie von uns bei der Klavierlektion angeschlagen worden wären. Trotzdem konnte sich Karl Goldmark nie von diesem alten Kasten trennen. Er hatte mit ihm Freud und Leid, Ruhm und Enttäuschungen erlebt – Großpapa fand, daß es auf der ganzen Welt kein vortrefflicheres und sein Muse mehr beflügelndes Klavier geben könne.
Zwei volle Tage dauerte das Reinigungsfest und mit gehobenem Herzen durfte sich Mama sagen, daß Goldmark seine beiden Zimmer nicht wieder erkennen würde. Verschwunden war der Staub, das spinnwebüberzogene Stiefel- und Hütemagazin. Und sogar die Ameisen, die zu Tausenden in den Mauer- und Fußbodenritzen ihr Unwesen trieben, waren ausgerottet. Wie oft hatten Großpapa diese Tierchen in Raserei versetzt! Unzähligemal geschah es, daß er seine Arbeit an einem träumerischen Andante jäh unterbrach und aufgestört die munter zu seinen Füßen kribbelnden Ameisenscharen betrachtete. Nimrodinstinkte erwachten in ihm, er ließ seine Noten liegen und begab sich auf die Jagd. Eigenhändig sott er Wasser und goß es über die Opfer, bis seiner Meinung nach alles Ungeziefer für ewige Zeiten ausgerottet war. Und andern Tags waren die lieben Ameisen wieder da. Diesmal aber hatten wir ihnen definitiv den Garaus gemacht und mit stolzer Genugtuung erwarteten wir Großpapas Heimkehr.
Schon am Bahnhof sagte Mama: »Gut, daß du nicht früher gekommen bist, wir haben diesmal nämlich bei dir gründlich rein gemacht!« Großpapa nahm diese Eröffnung durchaus nicht mit dem von uns erwarteten Entzücken auf. Wortlos fuhr er heim, stürzte in sein verwandeltes Zimmer, stürmte in das zweite hinüber und jetzt brach das Unwetter los. »Wer hat es gewagt, meine Zimmer so herzurichten?« schrie er. »Wie oft habe ich euch ausdrücklich gesagt: in meinen Sachen hat keine fremde Hand etwas zu suchen!« Rollenden Auges sah er sich in dem blitzblank gefegten Raum um. »Wo ist die Zuckerschachtel? Wo sind die Hüte und die Stiefel?« Ein zürnender Zeus wäre gegen den nach »seinen Sachen« fahndenden Großpapa in diesem Augenblick ein Waisenkind gewesen. Wie ein gereizter Löwe durchwandelte er seine beiden Zimmer, nicht viel hätte gefehlt und er würde auch noch gefragt haben: »Wo sind meine Ameisen?«
Großpapa schickte uns sofort nach Hause, drei Tage ließ er sich bei uns nicht sehen. Endlich hatte er ausgeschmollt und triumphierend führte er uns in seine Wohnung, in der er die alte »Ordnung« inzwischen wieder hergestellt hatte. Das Hüte- und Schuhlager befand sich wieder unterm Klavier, der Schreibtisch bog sich unter der Last alten Krams und mit der Zeit sind auch die Ameisen wieder gekommen. Der Einbruch ins Allerheiligste war abgeschlagen und es ist uns nie mehr eingefallen, in Karl Goldmarks Zimmern ein Scheuerfest zu veranstalten.
Aus Goldmarks letzten Tagen.
Großpapas geistige und körperliche Frische grenzte im hohen Alter von fünfundachtzig Jahren ans Unheimliche. Wenn es vorkam, daß er sich bei seinen Spaziergängen auf einer etwas lässigeren Haltung ertappte, richtete er sich sofort mit einem energischen Ruck auf und setzte seinen Weg mit jugendlicher Straffheit fort. Jeden Morgen seines letzten Sommers verbrachte er im Garten, las laut ein Kapitel aus einem französischen oder italienischen Buch und schrieb sich alle Vokabeln auf, um sie hernach übungshalber zu rekapitulieren. In dieser Zeit entstand auch sein letztes Werk, das Klavierquintett Opus 54, in dem ein ganzes Menschenleben ringt und stürmt, um im letzten, schönsten Satz befreit und erlöst zu verklingen. Den Schlußstrich tat er im November 1914 und den Klavierdeckel schließend, sagte er zur eben ins Zimmer getretenen Mama: »Jetzt, Minna, habe ich mein Quintett beendet!« Er mochte vielleicht fühlen, daß es sein letztes Werk war. Der Krieg und die damit verbundenen Sorgen und Aufregungen absorbierten ihn ja so vollständig, daß er nicht mehr recht imstande war, an eine neue Arbeit zu denken.
Aber auch sonst gingen in seinem Wesen Veränderungen vor, die selbst mir, die ein Kind war, auffielen. Immer seltener wurden die gefürchteten Zornesausbrüche, wenn ich wieder einmal nicht fleißig genug geübt hatte und schlecht spielte. Es war an einem Abend, an dem ich schrecklich Patzte und auf den Hinauswurf wartete, den Großpapa in solchen Fällen anzudrohen oder auch zu bewerkstelligen Pflegte. Diesmal aber verhielt er sich merkwürdig still und sagte nur: »Ich weiß, daß dir das ganze Klavierspielen keine Freude macht. Aber wenn ich einmal nicht mehr bin und im Leben Augenblicke kommen, in denen du dich sehr verlassen fühlst, wirst du an den alten Großi denken und glücklich sein, daß er so ein Tyrann gewesen ist …«
Nach diesen Worten blieb es mäuschenstill im Zimmer und bis zu Karl Goldmarks Tod, der vier Wochen später erfolgte, habe ich auch bei schlechtestem Spielen keinen Tadel mehr von ihm bekommen.