Neue Freie Presse vom 18. Oktober 1919

Feuilleton.
Mein Großvater Karl Goldmark.
Von Franziska Hegenbarth.

Es war einmal ein Tondichter, der hieß Karl Goldmark, dem Gott außer seinem hohen Beruf auch noch einen anderen mitgegeben, nämlich den eines Großvaters, und zwar meines Großvaters. Alle, die sich darunter das Vollendetste an Güte, Zärtlichkeit, Nachgiebigkeit und Aengstlichkeit vorstellen, werden begreifen, wenn ich diesen zweiten Beruf als ebenso gottbegnadet betrchte, da es keine leichte Sache ist, ein Großvater ganz nach dem Herzen der Enkelkinder zu sein. Doch er war es stets im schönsten und edelsten Sinn und von seinem Wirken, seinen Sorgen und Kümmernissen will ich nun erzählen. Ich kann mich nur bis zu meinem sechsten Jahr zurückerinnern, doch steht mir noch lebhaft eine Begebenheit vor Augen. Mein Großvater saß in seinem Zimmer am Klavier und spielte, setzte wieder aus, spielte wieder und schrieb dazwischen immer wieder etwas auf ein weißes Blatt, das vor ihm auf dem Pult lag. Das Spiel gefiel mir und ich schlich mich zu ihm hinein. Er sah nicht wenig erstaunt auf das kleine Ding, das sich plötzlich an seine Knie schmiegte. Ich tupfte mit dem Finger auf die Tasten und war entückt von dem Ton, den sie von sich gaben. Ich äußerte nun den lebhaften Wunsch (wie sehr hatte ich ihn manchesmal bereut), Klavierspielen zu können, und mein Großvater zog mich auf den Schoß und küßte mich lange und innig. Wahrscheinlich sah er in diesem selbständigen Bedürfnis ein gutes Omen und mich bereits als Wunderkind und spätere Virtuosin, ahnte aber nicht, wie weit der Apfel vom Stamme gefallen. Bis er zu dieser Einsicht gekommen, hatte er bereits eine Anzahl aufregender, Hoffnung raubender Klavierstunden hinter sich. Doch hat er es nie aufgegeben, der Liebe, Gute, selbst fünf Tage vor seinem Tode, mich talentloses Geschöpf noch zu unterrichten. Ja, ich war und bin talentlos. Diese Tatsache kann nun einmal nichts ändern, nicht einmal der treue Glaube der Menschen, die, wenn sie mich kennen lernen, fest überzeugt sind, ich, als die Enkelin eines solchen Meisters, müssen unvergleichlich Klavierspielen. Ich bekam also Unterricht. Die erste Zeit verlief leidlich gut, und als ich die C-Dur-Skala fehlerlos spielen konnte, erhielt ich einen gerührten Kuß von ihm. Doch später verschob sich die Sachlage. Die gerührten Küsse wurden immer seltener, und oftmals geschah es, daß ich merkwürdig schnell mit meinen Noten das Zimmer verließ, obwohl die Stunde noch nicht zu Ende war. Ich übte ungern, das Klavier wurde nach und nach mein ärgster Feind. Später hat es sich allerdings in das Gegenteil umgewandelt.

Was zu beweisen war: Inserat im Neuen Wiener Tagblatt vom 28. September 1924

Täglich mußte mich mein armer Großvater zur Stunde holen, da ich meist darauf vergaß, und unter Tränen, mit weit vorgeschobener Unterlippe, spielte ich dann meine Etude. Während dieser Zeit saß er dann schweigsam, eine Zigarre rauchend, mit dem Bleistift den Takt markierend, neben mir. Das Verhängnis begann erst bei den Sonaten. Da ich jeglichen Gefühls beraubt war und durchaus nicht einsehen konnte, warum dies bei Mozart so nötig war, kam es oft zu erbitterten Kämpfen, die stets damit endeten, daß mein Großvater seine Zigarre ergriff und mit einem »Fratz, abscheulicher« in seinem Zimmer verschwand, die Tür mit einem Krach hinter sich zuschlagend. Da ich aber im Grund genommen kein verstockter Sünder bin und es mir sehr leid tat, wieder einmal Schuld an seinem Aerger gewesen zu sein, sammelte ich meinen Mozart, der bereits unter dem Klavier gelegen, wieder vom Boden auf, legte ihn aufs Pult und begann leise, während mir dicke Tränen über die Wangen liefen, mit viel Gefühl die verhängnisvolle Stelle. Ich spielte laute, mutiger, drinnen wurde ein Stuhl gerückt, Großpapa schien den Tönen nicht widerstehen zu können, denn die Tür ging wieder auf, und wenige Minuten später saßen wir, nachdem ich ihm einen tüchtigen Kuß gegeben, friedlich bei unserem Mozart, der sicher nicht geahnt hätte, daß seine Phantasie einen so goldigen Großvater wie den meinen so gefährlich bös machen konnte.

So unerbittlich, ja fast grausam er beim Klavier war, so gütig war er, wenn sich der Deckel des Instruments geschlossen und keine gehudelten Etüden seine Ohren beleidigten. Er war es, der im Sommer stets kiloweise das Obst für seine eßlustigen Enkel heimtrug und im Winter beim Delikatessenhändler fast schon ein Abonnement auf Datteln hatte, die er uns dann mittags stets austeilte, damit wir uns nicht mit einem »Zuviel« den Magen verdarben. Ueberhaupt ging er in seiner übertriebenen Aengstlichkeit, was uns betraf, oft zu weit, daß er uns öfter ein harmloses Vergnügen, dem sich aber Kinderseelen stets mit viel Genuß und Wildheit hingeben, verdarb.

So auch einmal im Sommer in Gmunden. Ich hatte wirklich mein Klavierpensum zu seiner Zufriedenheit erledigt und ging nun mit ihm den kurzen Weg, der von seiner Wohnung zu unserer führte, entlang, als ihm bei mir eine ihm gänzlich unbekannte Schwermut auffiel. Er forschte nach dem Grund, aber fehlte natürlich nichts, obwohl mir seit vergangenem Tage das Herz blutete. Beim Mittagessen erzählte Großpapa, wie schön ich heute gespielt hätte, und alle schauten ungläubig, denn so ein Lob gehörte entschieden zu den Seltenheiten. Ich aß stillschweigend meine Suppe, während mir einzelne Tränentropfen in den Teller fielen. Allgemeines Erstaunen. Großpapa meinte, daß ich heute schon die ganze Stunde so unnatürlich gewesen sei. Nach langem Fragen gestand ich endlich, daß der »Franzl«, der Sohn von unserm Hausherrn, einen Leiterwagen hätte, und ein solcher sei mein sehnlichster Wunsch. Alle atmeten erleichter auf und nach längerem Ueberlegen versprach mir Papa einen Leiterwagen. Großpapa hatte dagegen sehr viel »Wenn und Aber« und triftige Gründe einzuwenden, aber am Schlusse sagte auch er ja und erklärte sogar, gleich nachmittags mit mir in die Stadt gehen zu wollen, um einen zu kaufen. Ich strahlte und ließ ihm kaum Zeit, seinen Mittagsschlaf zu halten. Wir wanderten also zur Stadt. Dieser Gang war der reinste Passionsweg, der mit Zweifeln, Vorstellungen und Abratungen seitens meines Großvaters gepflastert war. Die Angst ließ ihm keine Ruhe, er sah mich bereits zerschmettert an einer Mauer liegen, meine Beine gebrochen, meine Hände verstaucht und einen wochenlangen Stillstand am Klavier. Ich war glücklich, als wir endlich in den Spielereiladen traten, denn ich begann bereits um meinen Leiterwagen zu zittern. Die Verkäuferin, die uns sehr gut kannte, ließ fünf, sechs solcher Wägelchen aus dem Magazin holen. Ich stieg in jeden hinein, um zu versuchen, ob ich auch Platz darin hätte. Großpapa stand auf seinem olivengründen Schirm gestützt, den er immer im Sommer trug und, solange ich mich erinnern konnte, stets getragen hat, vor mir, taub gegen die Versicherungen der Verkäuferin, daß der Wagen eine solide, gute Ware sei. »Was habe ich von der Solidität, wenn der Fratz in seiner Wildheit an einen Baum anfährt und sich den Kopf zerschlägt.« Ich zitterte. »Aber schau, Großi, ich fahr ja selten allein, sondern meistens mit dem Franzl.« »Noch besser. Der wilde Bengel, der sich zu allem verleitet. Nein, das nehme ich nicht auf mich. Es wäre sträflicher Leichtsinn, würde ich das zugeben. Steig nur wieder heraus, ich kaufe dir keinen Leiterwagen.« Niedergeschmettert, mit schlotternden Knien, kroch ich aus dem Gefährt. Mitleidig betrachtete mich die Verkäuferin, denn auch sie trug eine Hoffnung zu Grabe. Großpapa und ich standen nun auf der Straße und langsam mit hängendem Kopf stapfte ich hinter ihm drein. Tränen verdunkelten meinen Blick, fast auch die liebe, für mich steets so lichte Gestalt meines Großvaters, denn ich hatte einen kleinen Groll gegen ihm im Herzen, daß er mir durch seine Aengstlichkeit eine Kinderfreude verdorben. Aber es geschah ja nur aus Aengstlichkeit, aus Liebe, und da währt dieser Groll nicht lange, wenn man daran denkt, aus welchem Grunde er einem den Wunsch versagte.

Ging es mir schon nicht gut, wenn ich nicht geübt hatte, was geschah erst dann, wenn ich mich, ohne etwas zu können, in den Bereich des Klaviers wagte? Es war nicht auszudenken. Dazu hatte ich aber keine Zeit, denn die Uhr schlug zwölf und ich mußte (seufzend tat ich es) zu meinen Noten greifen. Leider war der Weg viel zu kurz, denn ich hatte nur durch unsere Scheune durchzugehen und eine Wiese zu durchqueren, um auch schon vor Großpapas Wohnung zu stehen. Beklommen klopfte ich an, denn ich hatte nicht nur nichts geübt, sondern ahnte auch scon die Folgen des Vergehens. Vorläufig aber nahm ich die unschuldigste Miene an und stürzte meinem Großvater, der am Klavie saß, mit einem lauten guten Morgengruß entgegen. Er drehte sich halb auf dem Sessel herum und ließ sich, während er weiter spielte, tüchtig abküssen, bis er mich, da er für seine Kinnladen zu fürchten begann, liebevoll abwehrte, und aufstehend, seine Noten und Tintenzeug beiseite räumend, fragte, ob ich geübt hätte. Ich überging diese direkte Frage, da sie mir etwas unbehaglich war, und sagte, indem ich mich auf dem Sessel streckte: »Weißt du, Großi, daß es heute furchtbar heiß ist? Könnte ich da nicht lieber die Fingerübungen statt der Skalen spielen?« Großpapa war einverstanden und die Fingerübungen gingen noch glücklich vorüber. Mir wurde wieder unbehaglich, ich sann vergebens nach einer komplizierten Frage, denn ich wußte, daß sie von ihm stets sehr ausführlich beantwortet wurde. Plötzlich stand ich auf, um Wasser trinken zu gehen. Großpapa meinte ärgerlich, warum ich stets in der Stunde besorgen müsse. Bei den Czerny-Etüden kam ich außer einem »entsetzliche Hudelei« glücklich davon. Doch auch die gingen zu Ende und Mendelssohnsche Lieder ohne Worte lagen schon auf dem Pult, als ich mich wieder bemühte, dem nahenden Unglück zu vorzubeugen. Zuerst blätterte ich nicht zu schnell in dem Heft herum, um das Stück zu suchen, obwohl ich genau wußte, wo es sich befand. Das lange Blättern trug mir auch schon einen Tadel von meinem Großvater ein. »Längst hättest du das Stück haben können. Da sieht man, wie wenig du das Stück angesehen hast. Anstatt ein Blatt Papier hineinzulegen (auch wieder ein Zeichen deiner Nachlässigkeit, daß du es nicht getan hast), suchst du lieber eine halbe Stunde, damit uns ja keine Zeit zum Ueben bleibt.« Na, dachte ich, das kann gut werden! Wie wird das enden? Niemand würde meinen sanften, nachgiebigen Großvater erkannt haben, wie er so vor mir stand, mit funkelnden Augen, die Lieder ohne Worte in der Luft schwingend, um sie irgendwo niedersausen zu lassen, und als sie auch endlich auf dem Bogen lagen, schlug er mit der Hand auf die Tasten, daß sie einen schrillen Wehlaut von sich gaben, und schrie: »Du bist eine Gans, ein niederträchtiger Fratz. Zu was plage ich mich mit dir herum, wenn du es nicht einmal der Mühe wert findest, zu üben. Das war heute die letzte Klavierstunde, sag’ das der Mama!«

Als ich draußen vor der Türe stand, die Sonne leuchten, Dorfkinder jauchzend durch die staubgetränkte Straße tollen sah, fühlte ich mich sehr unglücklich und ein grenzenloser Haß gegen das Klavier sammelte sich in meinem Innern an. Was das notwendig? Wie friedlich und glücklich könnte man leben, wenn nicht, ja wenn nicht eben dsa Klavier hinter einem stünde. Ich wußte, daß das heutige Mittagessen an Aufregungen, Debatten und Tränen nichts entbehren würde. Es schauerte mich, wenn ich an die Konsequenzen dachte. Wäre es nicht doch besser, ich kehrte wieder um und wag[t]e es noch einmal, lieber nicht! Lieber warten. Die Zeit heilt und beseitigt so manches, warum nicht auch eine Klavierfehde! Ich beschloß, da es zu Hause auffallen würde, käme ich schon früher als sonst aus der Stunde, in den Kuhstall zu gehen und das Weitere abzuwarten. So saß ich dort zwischen den Kühen unserer Hausfrau und sah zu, wie sie gemolken wurden. Alles war so friedlich. Auch der Aufruhr in meinem Innern glättete sich ein wenig, und als es 1 Uhr läutete, erhob ich mich, lief den Weg zu Großpapas Wohnung zurück, pflanzte mich beim Haustor auf und wartete. Es dauerte nicht lange, als die Tür aufging und Großpapa langsam, mit finsterer, verärgerter Miene heraustrat. Ich hing mich, als wäre nichts geschehen, an seinen Arm. Er war nicht wenig erstaunt, mich hier zu finden, und fragte streng, wo ich die ganze Zeit gesteckt. »Im Kuhstall,« antwortete ich der Wahrheit gemäß. »So, so, im Kuhstall, was hast du denn dort getan?« »Ich habe mich beruhigt!« Großpapa ging mir heute entschieden zu schnell. Ich hielt ihn etwas zurück und gab ihm plötzlich, gerade vor dem heiligen Nepomuk, der sicher kein Schutzpatron für faule Klavierschüler war, einen kuhstallduftenden Kuß. Er war rasch versöhnt, mein lieber Großvater, und niemand erfuhr etwas von diesem Zwischenfall und am nächsten Morgen wanderte ich wieder zur Stunde, um ihm von neuem das Leben und die Freude am Dasein zu verbittern.
(Fortsetzung folgt.)
(Neue Freie Presse vom 18. Oktober 1919)