Einführungstext E.N. von Reznicek

Schlemihl · Raskolnikoff

Mitunter hat das elektronische Netz, das uns die virtuelle Erfüllung all unserer Träume und Sehnsüchte vorgaukelt, doch auch seine Meriten. Wenn man beispielsweise auf der Suche nach literarischen Produkten, deren kulturelles Verfallsdatum aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen abgelaufen scheint, unzählige wunderbare Dinge zu antiquarischen Bedingungen entdeckt. So kam mir neben andern Publikationen das Buch Gegen den Strom in die Hände, in dem eine gewisse Felicitas von Reznicek aus dem Leben ihres Vaters erzählte – jenes Emil Nikolaus von R., der, wie sich die Älteren unter uns noch gern erinnern werden, die Titelmusik zu der seinerzeit so beliebt gewesenen Fernsehratesendung »Erkennen Sie die Melodie« mit dem charmanten Moderator Ernst Stankowski geschrieben hat.

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Emil Nikolaus von Reznicek, 1927 in Leipzig (Foto: privat)

Diese ungemein lesenswerte, mit vielem Humor geschriebene Biographie erschien 1960 in Wien, genau zum einhundertsten Geburtstag des Komponisten, der seine »Fernsehmelodie« natürlich weit früher, im Jahre 1894 nämlich, erfunden hatte, und zwar als Teil der Ouvertüre zu seiner Erfolgsoper Donna Diana, einer Komödie, die den Namen des damals 34jährigen Musikers rasch auf den deutschsprachigen Bühnen und in deutschen Landen bekannt machte. Die entzückende Jahrhundertgabe kam freilich zur Unzeit, denn man war damals gerade dabei, eine Modernität der Eitelkeiten zu kultivieren, in der es für Herren wie den von Reznicek keinen Platz mehr gab. Das wußte jeder, der nur mitreden wollte, und insofern war es natürlich völlig überflüssig, sich mit dem Œuvre eines Mannes zu befassen, der mit Ausnahme einer populär-populistischen Volksmelodie nichts nennenswertes vorzuweisen hatte.

Heute sieht das schon wieder ganz anders aus. Es hat sich unter anderem herausgestellt, daß im Anschluß an die Ouvertüre zur Donna Diana eine ganze Oper folgt. Man hat schon vor etlichen Jahren mit zwei Symphonien (D-dur und f-moll) sowie dem Violinkonzert und der Streicherserenade G-dur einige Raritäten zur Diskussion gestellt (dann aber, vielleicht weil die Produktionen noch zu früh waren, wieder aus dem Katalog genommen). Die Einspielung der symbolistisch-glühenden Oper Ritter Blaubart ist seit Anfang 2003 auf Tonträger erhältlich, und ganz allmählich scheint sich ein wenig von den Eigenarten dieses Mannes herumzusprechen, der tatsächlich ein ganz beachtliches Œuvre hinterlassen hat. Mehr als ein Dutzend Opern, zwei Operetten und mehrere Schauspielmusiken, um die dreißig Orchesterwerke, etwa ein halbes Dutzend Streichquartette und eine Handvoll Klavierstücke gehen unter anderem auf sein Konto, und was wir schon heute, eigentlich noch ganz am Anfang der Ausgrabungen, darin entdecken, ist ein Künstler von höchstem technischen Vermögen und einer kompositorischen Fantasie, für die man den heute so geläufigen Begriff des Polystilismus förmlich erfunden haben könnte; es offenbart sich aber auch ein wunderlicher Charakter von bisweilen recht galligem Humor, der seine Anteilnahme an den Dingen des Lebens gern in maskenhafte Distanziertheit kleidete, weil’s ihn sonst wahrscheinlich (wie seinen fast genau zwei Monate jüngeren Kollegen Gustav Mahler) zerrissen hätte.

In der Art eines »Who is Who« ist die Biographie rasch geschrieben. Geboren am 4. Mai 1860 in Wien als Sohn des Feldmarschall-Leutnants Josef von Reznicek und der aus einem alten rumänischen Fürstengeschlecht stammenden Clarissa Ghika geboren. Kultur wurde groß geschrieben im Elternhause – Vater Josef griff gelegentlich sogar zu Notenpapier und Feder, um eigene Stücke aufzuschreiben. Trotzdem kam es, seit man nicht mehr in Wien, sondern in Graz lebte, zu den ersten nachhaltigen Reibereien zwischen Vater und Sohn, und zwar aus denselben Gründen, die sich wie eine unendliche Geschichte durch die Geschichte ziehen: Künstliche Beflissenheit ja, künstlerischer Hauptberuf nein. Nach dem Abitur schrieb sich der junge Reznicek also als Jurastudent an der Universität ein; daneben konnte er bei jenem Wilhelm Mayer musikalischen Unterricht nehmen, den wir in den einschlägigen Musiklexika unter dem Namen W. A. Rémy (1831-1898) finden. Kaum zu glauben ist freilich, daß Vater von Reznicek dann doch nichts mehr dagegen hatte, daß sein Sprößling ans Leipziger Konservatorium ging, wo er bei Jadassohn und Reinecke 1884 ein glänzendes Examen hinlegte.

Alles weitere liest sich wie eine jener Lebensgeschichten, die über den ebenso steinigen wie schlüpfrigen Weg der »Provinzschmiere« allmählich nach oben führen: Korrepetitor in Graz und Theaterdirigent in Zürich, Mainz, Stettin, Berlin, Jena, Bochum; seit 1888 Militärkapellmeister in Prag, wo 1894 der immense Erfolg der Donna Diana begann; 1896 eine kurze Phase in Weimar, dann von 1896 bis 1899 in Mannheim. Nach einem vorübergehenden Aufenthalt in Wiesbaden ging’s 1902 nach Berlin, wo Reznicek einige Zeit auch Theorie-Unterricht gab. Von 1906 bis 1909 folgten die Warschauer Oper und Philharmonie sowie etliche Konzerte in Rußland; im November 1907 stellte der Komponist unter anderem seine eigene Symphonie B-dur (Ironische) vor. Von 1909 bis 1911 wirkte er als Dirigent bei Hans Gregor an der Komischen Oper von Berlin, danach war er für Hermann Guras italienische »Stagione« tätig. 1919 wurde er zum Mitglied der Akademie der Künste gewählt, von 1920 bis 1926 lehrte er an der Hochschule. Ansonsten lebte er vor allem seinem kompositorischen Schaffen. Ernst Nikolaus von Reznicek starb am 2. August 1945.

Das sind die nüchternen, beinahe beliebig austauschbaren Daten und Fakten, die von einem zielstrebigen Geist nur insofern Zeugnis ablegen, als der künstlerische Pfad offenbar mit Beharrlichkeit beschritten wurde. Daß Emil Nikolaus von Reznicek, den wir fortan E.N. nennen wollen, wie er es zeitlebens selbst getan hat – daß E.N. also binnen kurzer Frist zunächst zwei kleine Kinder und dann als nicht einmal Vierzigjähriger seine erste Frau nach langen gemeinsamen Jahren verlor; daß er auf dem Höhepunkt seiner Mannheimer Tätigkeit, die ihn als einen wahrhaft modernen Geist auswies, zur Zielscheibe einer intriganten Pressehetze wurde (zur der die moderne Beschreibung mobbing durchaus paßt); daß er diese Stätte glanzvoller musikalischer Erfolge nicht zuletzt auch deshalb verlassen mußte, weil seine zukünftige zweite Frau Bertha offiziell noch verehelicht war und in einem ehrenwerten Mann=Heim für derlei kein Platz war; daß er mit unzähligen andern Menschen nach der Inflation neu anfangen und noch im hohen Alter den zweiten verheerenden Krieg erleben mußte, in dessen letzten Monaten eine Brandbombe seine Berliner Wohnung traf (die der alte Mann geistesgegenwärtig aus dem Fenster beförderte, nachdem allerdings schon einige seiner Partituren ein Raub der Flammen geworden waren) – das ist für das Verständnis des E.N. von derselben Bedeutung wie im Falle Gustav Mahlers, wobei dieser bekanntlich an seinen persönlichen Tragödien zerbrochen ist, während Reznicek, den mit Mahler erklärtermaßen große künstlerische Gemeinsamkeiten verbanden, sich anscheinend immer noch rechtzeitig wieder einer gewissen Objektivität besann, bevor’s »ganz dicke« kam.

Das zeigt unter anderem ein frühes Grazer Ereignis. Es hatte zwischen Vater und Sohn wohl mal wieder einen recht lauten Streit gegeben, den E.N. damit beendete, daß er verschwand. In seiner Studentenbude, die ihm die Eltern bezahlten, war er nicht zu finden, und auch sein Lehrer W.A. Rémy wußte nichts über seinen Verbleib – bis auf ein beängstigendes Detail: Kurz vor dem Krawall hatte E.N. seinem Lehrer ein Klavierstück mit dem »verheißungsvollen« Titel Gedanken eines Selbstmörders gebracht … Man kann sich vorstellen, wie dieses Studienwerk jetzt verstanden wurde! Der Aufruhr war gewaltig und endete damit, daß man E.N. – beim Billard fand.

»Wer ihn nicht kennt, der hat unwillkürlich das Gefühl, daß von ihm stumm die berühmte Aufforderung aus dem ‘Götz von Berlichingen‘ ausgeht. Wenn die Leute dann nachher wollen, läßt er sie nicht«. So zitiert Felicitas von Reznicek den als sprachlichen Pfau bekannten österreichischen Musikschriftsteller Richard Specht, der in seiner 1923 verfaßten Monographie zu noch ganz andern, teils wirklich treffenden, teils der persönlichen Lust am Schreiben entsprungenen Formulierungen fand: »Ich glaube an die Magie der Namen«, schreibt er als Vorbereitung zu einem beinahe schon kabbalistischen Anschlag auf E.N., dessen Initialen er als »Ein Niebeschwichtiger, Ein Nurmusiker und Ein Normalitätshasser, nie aber: Ein Nachgiebiger« deutet, wobei er allerdings stets mitschwingen läßt, daß E.N. ohne den Specht, der die dicksten Maden unter der Oberfläche hervorzieht, eigentlich doch Ein Nichts wäre.

Auffallend ist, daß sich bei der Beschäftigung mit E.N. noch ein geradezu diebisches Vergnügen an der Assoziation einstellt. Gewiß mögen »Ähnlichkeiten mit bekannten Ereignissen und Personen reiner Zufall sein«, doch Rezniceks Musik scheint in so viele Richtung zu sprühen, aus so vielen Richtungen inspiriert zu sein, daß es beinahe unmöglich ist, sich nicht von seinen Anspielungen zum Mitspielen verleiten zu lassen. Was hätte Mendelssohns Violinkonzert in demjenigen von E.N. zu suchen? Wie erklärt man sich das rhythmisch tragende Motiv aus dem langsamen Satz der vierten Beethoven-Symphonie im »Trauermarsch auf den Tod eines Komödianten«, der der 1920 entstandenen Symphonie f-moll eine leicht satirische Färbung verleiht? Und welcher „alte Stil“ ist es, den E.N. in seiner D-dur-Symphonie von 1918 angeschlagen hat?

Wie gesagt, man wird bei E.N. vom Erhabenen bis zum Lächerlichen alles finden und sich anstecken lassen von seiner Fähigkeit des Beinahe-Zitats, der Andeutung, der atmosphärischen Nachzeichnung; und dann, während man sich eben über etwas besonders »Schräges« amüsiert, stürzt er uns in tragische Geschehnisse, die nur noch Fassungslosigkeit nach sich ziehen: ähnlich wie Gustav Mahler, ähnlich auch wie Richard Strauss, der ihm so manche Aufführung großer Dichtungen überlassen hat – und doch ganz anders. Die in den Jahren 1911 und 1912 entstandene und noch im Jahr der Vollendung, präzis: am 18. Dezember 1912 von Oskar Fried in Berlin uraufgeführte symphonische Dichtung Schlemihl mag das verdeutlichen.

»Als mich vor Jahren schwerer Kummer in meiner Familie getroffen hatte und auch sonst mein Lebensschifflein zu scheitern drohte, hatte ich mir vorgenommen: Ehe ich von der Bildfläche auf irgendeine Art verschwand, alle meine Not und Schmerzen vorher in einer Art Selbstbekenntnis niederzulegen, – gleichsam als Testament in Tönen zu hinterlassen. Auf diese Art entstand der Schlemihl«, schrieb E.N. zu diesem Werk. Tatsache ist, daß Bertha von Reznicek, seine zweite Frau und Mutter von Felicitas, 1911 so schwer erkrankte, daß sich die leidvollen Ereignisse aus den späten 1890er Jahren zwangsläufig einschalteten. Sollte Reznicek noch einmal einen geliebten, verständnisvollen Menschen verlieren? Wieder mit einem Kind zurückbleiben (nachdem Eugen, der einzig überlebende Sohn aus der ersten Ehe, inzwischen ja schon beinahe volljährig war)?

Schlemihl war eine förmliche Beschwörung und gewissermaßen eine Beichte, die eigentlich gar nicht hätte aufgeführt werden sollen. Doch Bertha wurde gesund, die Götter hatten das »Opfer«, wenn man so sagen darf, angenommen, diese Dreiviertelstunde bekenntnishafter Musik, die man ohne weiteres auch mit Kein Heldenleben überschreiben könnte.

Vorab sei bemerkt, daß E.N. den Begriff des Schlemihl nicht wirklich im Sinne jenes schattenlosen Peter Schlemihl verstanden hat, mit dem Adelbert von Chamisso 1814 an die Öffentlichkeit getreten war. Für ihn steht die jiddische Bezeichnung für einen ewigen Pechvogel, für einen Menschen, der immer wieder Unglück hat, im Vordergrund. Doch im Gegensatz zur puren Schicksalsgläubigkeit von Schmulchen Schiefelbeiner (»Unterhalb des Rockelores geht sein ganze Sach kapores«) sieht er seinen persönlichen Anteil am Unglück, das wohl doch nicht ohne allen Grund über ihn hereinbricht: »Durch frühe Schuld von der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen« sind Chamissos schattenloser Mann und E.N., der gegen den Strom schwamm, kaum etwas anderes. Damit aber, daß er sich nicht auf das gesellschaftliche Rechtfertigungsniveau herunterbegab, mithin weder »schwere Kindheit« noch »schwaches soziales Umfeld« oder »elterliche Ignoranz« für sein Geschick verantwortlich machte, sondern bei sich selbst anfing – allein dadurch katapultierte er sich so weit aus der Gesellschaft hinaus, wie man es nur tun kann, ohne zu verhungern.

Hier beginnt der Schlemihl, die symphonische Dichtung für großes Orchester, Orgel und Tenorsolo, die formaliter zwar eine üppige, an Liszts h-moll-Sonate orientierte Symphonie mit solistischem »Schlußchor«, de facto aber ein Bekenntnis zur Eigenverantwortung ist. An Hauptdarstellern treten auf: Der Mann, Die Frau, Das Kind. Alle andern Figuren, die von maskulinem Muskelspiel bis zu völliger Verzweiflung zu finden sind, möchte man der nachfolgenden detailierten Beschreibung entnehmen, die in diesem Fall durchaus angebracht scheint, da die Partitur des Berliner Verlages Bote & Bock nur leihweise zu haben ist.

Es beginnt Der Mann. Belebt, mit stolzem Schwung – und mit einem Motiv, das vermutlich nicht ohne Grund an Richard Wagners Aufforderung aus den Meistersingern erinnert, und daher werden wir fortan diese punktierte Figur der Einfachheit halber Fanget an-Motiv nennen.

1’25 Es gibt die ersten gewaltsamen Modulationen.
2’15 Angelehnt an den Don Quixote von Richard Strauss agieren hier erstmals solistische Violine und Violoncello.
3’00 Die Laster. Gehalten, drohend. Es kommt zu einer beachtlichen kontrapunktischen oder besser verschiedenstimmigen Schichtung: Alle Solo-Instrumente, besonders die Es Clarinette etwas grell, nicht vornehm im Ton, lesen wir in der Partitur, und vornehm ist die Musik gewiß nicht. Der junge Komponist geht anscheinend ins Netz …
5’40 Leicht bewegt (aber nicht zu schnell) kommen wir zu
6’00 Orgie (Scherzo), die bei
6’32 Langsames Walzerzeitmaß verlangt, bevor die Sache eskaliert:
7’02 Eine nackte, dicke Hexe mit Hängebauch und -Busen kommt auf einer Sau geritten, nachdem erstmals das Lied vom „lieben Augustin“ zitiert wurde (Null-hundertneunziger Nummern gab es noch nicht, wer mag das also bloß sein?).

7’43 Beardsley’sche Gestalten tauchen auf, zunächst klingt es bei
7’52 Wie eine langsame Gavotte, mit satanischer Grazie (Violinsolo), dann bläst bei
8’30 Der verrückte Flötenspieler, der uns eigentlich an allen historischen Gegebenheiten zweifeln lassen müßte: Wie kommt der Anfang der fünfzehnten Symphonie von Dmitri Schostakowitsch in ein Stück, das rund sechzig Jahre älter ist? Assoziativ drängt sich Richard Specht auf: »Ein Ekletiker? Nein. Eher: ein Epigone derer von Übermorgen«. Die Beardsley-Figuren marschieren weiter:
8’42 Die Taktschlägerin u. das Marionettentheater. E.N. zeigt sich als Meister der Szene, denn während er allgemein angibt, daß Becken und Große Trommel von zwei Spielern betätigt werden sollen, heißt es an dieser Stelle der Partitur ganz dezidiert: Hier sollen ausnahmsweise beide Instrumente von einem Spieler geschlagen werden – der Zirkus läßt grüßen, beispielsweise der Hokuspokus von Curt Goetz, der freilich viel später gedreht wurde.

8’52 Der bucklige Zwerg und
9’03 Die Sängerin gehören immer noch zu jenen Beardsleyschen Figuren, die der tuberkulöse junge Engländer für einen Klavierauszug des Tristan gezeichnet hat.

10’14 Schlagartig kippt die Situation ins völlig Verrückte, als wär’s das Scherzo aus der achten Symphonie von Schostakowitsch im Puppenstadium. Der bucklige Zwerg springt quasi doppio tempo, doch wie wäre das Stück nach Rußland gekommen?

Der gesamte Beziehungsreichtum der ersten zwölf Minuten, der ganze Zynismus der Orgie gerät plötzlich in ein völlig neues Fahrwasser, denn es beginnt sehr langsam, etwas majestätisch bei 12’05 das Adagio der Dichtung. Die Frau tritt Sehr ausdrucksvoll, edel ins Leben des Mannes. Wobei zu vermerken ist, daß sich die zusätzliche Anweisung sehr breit nicht auf die Figur der Widmungsträgerin Bertha von Reznicek bezogen haben kann – es gibt Lichtbilder, die das Gegenteil beweisen.

Wieder wird man sich in ein bekanntes Terrain versetzt fühlen, wenn die Naturstimmung bei 16’16 wie eine »Szene am Bach« klingt, von wo aus die Musik zum ersten Einsatz der Orgel (16’36) überleitet. Das Fanget an-Motiv gewinnt hier augenblicksweise eine Intensität, die wir von jenem »Don Gio-van (-ni)« kennen, mit dem sich der Steinerne Gast zum Bankett einfindet.

Ab 19’36 folgt ein Passage, in der das punktierte Fanget an förmlich auf der Stelle tritt und sich in einen Trauermarsch zu verwandeln scheint, dessen tieferer (oder höherer) Gehalt sich erst nachträglich erschließt und, wieder ist man vor Assoziationen nicht gefeit, die die schlimmsten Momente im Leben des Tobias Knopp beschwören will:

Oh, was hat in diesen Stunden
Knopp für Sorgen durchempfunden.
Rauchen ist ihm ganz zuwider.
Seine Pfeife legt er nieder.
Ganz vergebens tief im Pult
Sucht er Tröstung und Geduld.
Oben auf dem hohen Söller,
Unten in dem tiefen Keller,
Wo er sich auch hinverfüge,
Angst verkläret seine Züge.
Ja, er greifet zum Gebet,
Was er sonst nur selten tät. –
Endlich öffnet sich die Türe,
Und es heißt: „Ich gratuliere!“

21’05 Mit einem vernehmlichen Rabäh meldete sich Das Kind (zwei Trompeten spielen die plärrende Sekunde b-h). Und dann ist der neue Erdenbürger (politisch korrekt muß es natürlich: die neue Erdenbürgerin heißen) auf der Welt. Leicht bewegt mit Grazie (21’26) krabbelt Felicitas bei den Rezniceks herum.

24’43 Auch die zwei Trompeten außerhalb des Saales wollen erst nicht einleuchten, doch wenn dann bei 25’22 die wörtliche Reprise beginnt, die sich rasch als eine dramatische Durchführung herausstellt, dann wird man begreifen, daß sich das Schicksal gemeldet hat. Die Mahlerschen Dimensionen, die bei 30’30 erreicht werden, sprechen Bände (vergessen wir nicht, daß der geschätzte Kollege, der die Donna Diana nach Wien gebracht hatte, zu diesem Zeitpunkt der Komposition schon verstorben war).

32’52 meldet sich die marschartige Bewegung wieder, dann ist Das Kind (33’33) mit der vorherigen Grazie aktiv. Im Anschluß fugiert E.N. heftig, nicht zu schnell (34’42), bevor mit furchtbarer Majestät (36’04) eine gewaltige Explosion erfolgt, zu der ab 36’16 in der Partitur vermerkt ist, daß Pauken und gr. Trommel bei den Crescendo-Höhepunkten immer frisch einschlagen, will sagen: nicht nur einfach vor sich hin wirbeln sollen.

37’40 sind Kampf, Spott und Leid schlagartig wie weggewischt: Sehr breit und feierlich macht sich eine Atmosphäre breit, die wir aus dem Schlußsatz der Faust-Symphonie von Franz Liszt kennen. Und siehe, dort, wo sich seinerzeit das Tenorsolo mit anschließendem Chorus mysticus vom Ewig Weiblichen hinanziehen ließ, gibt es jetzt ein ähnliches Eingeständnis mit den Worten des universalen Geheimrats Goethe:

Der du von dem Himmeln bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest –
Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede,
Komm, ach komm in meine Brust.

Die Apotheose (40’55), in die sich noch einmal das Fanget an mischen will, ist dann der genesenden Frau gewidmet. Und wenn jemand bei den Schlußtakten an einen Liebestod denkt? Honi soit …

In den Signalen schrieb Max Chop nach der Uraufführung: »Spontaner Beifall [ließ] erkennen, daß die Zuhörerschaft nicht bloß Bewunderung für das außerordentliche technische Können Rezniceks empfand, sondern daß sie sich tief getroffen fühlte«. Und Oskar Bie konstatierte, daß man »einem bedeutenden, einem hohen Ziel mit großem Können entgegenstrebenden Kunstwerk begegnet [sei], das den Durchschnitt der modernen symphonischen Tagesproduktion entschieden überragt«.

Siebzehn Jahre später schrieb E.N. von Reznicek eine Fantasie-Ouvertüre mit Namen Raskolnikoff, die – an sich schon bemerkenswert wegen ihrer Schuld-und-Sühne-Thematik – bereits die zweite Auseinandersetzung mit den Gestalten des großen Dostojewsky-Romans war (eine erste Raskolnikoff-Ouvertüre entstand 1925). Auf der ersten Innenseite der bei Heinrichshofen in Wilhelmshaven erhältlichen Partitur ist in E.N.s eigener Handschrift folgende Beschreibung und Erläuterung zu lesen:

Raskolnikoff:

Ouvertüre=Phantasie
für großes Orchester von
Emil Nikolaus von Reznicek
Kurze Formalanalÿse:

I.
Hauptsatz: Raskolnikoff
Seitensatz: Sonja, das erdverbundene Naturkind
Schlußsatz: Prophyri Petrowitsch, der Untersuchungsrichter
Kurze Überleitung

II.
Wie I. entsprechend modifiziert

Coda:
Zusammenbruch und Gesundung in der
herben Natur Sibiriens.
NB. obiges soll kein Programm sein, sondern
lediglich die Hauptfiguren des Romanes
musikalisch charakterisieren

E.N.v.R.

Der literarische Vorwurf ist auch hier Typisierung, womöglich gar: Maske (?) zur Bewältigung eigener Erlebnisse. Doch aufgrund der weit konzentrierteren, überschaubaren und im Verhältnis zu Schlemihl geradezu kammermusikalischen Transparenz des Werkes können wir uns auf einige wenige Hinweise beschränken. Daß es bei 1’30 nach Tschaikowsky klingt, daß das Kind bei 2’20 ähnlich graziös dahintrippelt wie unsere Felicitas, daß eine Ferntrompete bei 3’45 zum Gralsmotiv des Parsifal (Schuld und Sühne eben) führt und daß der Richter in Gestalt eines ausgearbeiteten Ricercare (Recherche) gehalten ist; daß sich bei 10’18 der Verlauf im wesentlichen wiederholt, um dann bei 18’00 con disperatione bis zum Orgelsolo und der anschließenden feierlichen »Grals-Enthüllung« voranzuschreiten – das alles ist recht einleuchtend. Für die Gesundung in der herben Natur Sibiriens hat sich E.N. am Ende etwas Spezielles ausgedacht: Bei 21’41 läßt er dem letzten großen Ausbruch ein in der Partitur eigens hervorgehobenes Zitat aus der Pastoral-Symphonie folgen, das die schon im Schlemihl beschworene Szene am Bach als Schlüsselereignis im Leben des Komponisten kenntlich macht.

© 2005, Eckhardt van den Hoogen

Einführungstext zu der cpo-Produktion 999.795-2