Die Zeit vom 15. Mai 1910
Theater und Kunst.
Goldmark.
Zu seinem achtzigsten Geburtstag
(18. Mai).
Er hat’s erreicht. Die Götter, die einst Gaben aller Art in seine Wiege legten, sind ihm hold geblieben, haben den Schlag seines Herzens nun schon acht Jahrzehnte hindurch kräftig und frisch erhalten, seinen Geist und seinen Körper beschirmt, vor den lähmenden Einflüssen des Alters, haben ihren Liebling von Stufe zu Stufe weitergeführt auf der Bahn des Erfolges und des Ruhmes. Achtzig Jahre! Blickt man schon zu dem gewöhnlichen Erdenpilger, der auf eine so lange Wanderung zurückblickt, mit Ehrfurcht empor, wie viel mehr noch auf den, der dabei durch sein reiches Können, durch sein ideales Streben und Wirken weit emporragt über eine vieltausendköpfige Menge.
Wir geben uns aber mit dieser, wenn auch recht ansehnlichen Altersetappe, bei der Karl Goldmark nun angelangt ist, noch gar nicht zufrieden, wir erwarten, daß er von nun an erst recht munter weiterlebe und weiter komponiere und freuen uns, in dieser Hinsicht die besten Bestrebungen an ihm wahrzunehmen. Wir wünschen, daß er, sich an dem einst berühmten Organisten J. A. Reinken, einem Zeitgenossen Bachs, ein Beispiel nehme, der erst im hundertsten Lebensjahre die himmlischen
Register hörte; wir geben ihm zu Vorbildern die beiden Wiener Hofkapellmeister Preyer und Randhartinger, die sich in den Neunzigern erst recht behaglich fühlten. An der Spitze der Achtziger marschierten zwei engere Berufsgenossen Goldmarks, nämlich Auber und Verdi, und andere, nicht minder respektable Maestri, wie Cherubini, Clementi, Rameau und Reinecke, folgten in gleicher Reihe. Unter den noch lebenden hat Goldmark an Ort und Stelle zwei gleichalterige Kollegen, nämlich den Nestor der Gesangspädagogen Dr. Josef Gänsbacher und den hochverdienten Musikhistoriker Prof. Proßnitz. Man sieht also, unser teurer Meister hat durchaus keinen unerhörten Rekord geschlagen, und es ist ein wahres Glück, daß er außerdem durch ganz andere Qualitäten glänzt.
Vor achtzig Jahren flatterte am schilfreichen Ufer des Plattensees der Singvogel aus dem Nest; ein günstiger Wind trieb ihn nach Wien, wo er allerdings manches Jahr hindurch recht mühsam die Körner sammeln mußte, mit denen er sich nährte. Das Konservatorium tat ihm die Pforten auf; Jansa unterrichtete damals auf der Geige, Gottfried Preyer in der Komposition, und alles wäre recht gut gegangen, wenn nicht das Sturmjahr 1848 die Schließung der Anstalt herbeigeführt hätte. Jetzt hieß es, allein Weiterarbeiten! Die ersten Kompositionsversuche wurden gemacht, sie gelangen, sie fanden den Beifall der Kenner. Aber leben mußte ja der junge Musikus auch, essen, trinken, schlafen! Eine Stelle im Orchester des Carl-Theaters wurde frei, er verdingte sich zu hartem Frondienst: was aber viele andere in den Abgrund des musikalischen Handwerkertums hinabdrängt, »das ward ihm zum Heil, es riß ihn nach oben«. Hier, inmitten eines zwar nicht erstklassigen, aber doch gut geschulten Orchesters tätig, sammelte der reichbegabte Jüngling unbewußt praktische Erfahrungen, lernte die instrumentalen Effekte, die Mischung der Klanggruppen kennen und wurde mehr und mehr mit den Geheimnissen der Bühnenwirkung betraut. Die Zeit, in der sich der Komponist durch fremde Einflüsse, insbesondere durch den Mendelssohns noch nicht zu selbständiger Ausdrucksweise emporschwingen konnte, war nur eine kurze, und als die Philharmoniker 1865 zum erstenmal die Ouvertüre zu »Sakuntala« brachten, bestand kein Zweifel mehr, daß man es hier mit einem ebenso starken als auch eigenartigen schöpferischen Talent zu tun hatte.
Die morgenländische »Sakuntala« mit ihren sinnberückenden Melodien und üppigen Klangfarben wies dem jungen Meister auch den richtigen Weg, als er das Gebiet der Oper betrat. Sechs Jahrs lang arbeitete Goldmark an der Partitur der »Königin von Saba«, unaufhaltsamer Schaffensdrang hinderte ihn nicht, dabei unbarmherzige Selbstkritik zu üben. »Wenn ich aber,« so äußerte er sich kürzlich in vertraulichem Gespräch, »über die mir zu Gebote stehende Kraft jemals im Zweifel gewesen wäre, so gelangte ich damals zum vollen Bewußtsein, daß ich imstande war, mein Wollen zu verwirklichen. Noch niemals hatte ich mich bis dahin im vielstimmigen Chorsatz oder im Aufbau eines sich steigernden Ensembles versucht, aber alles wuchs und gelang fast unbewußt unter meiner Hand.« Mit der Veröffentlichung dieses Bühnenwerkes stellte sich Goldmark in die erste Reihe der dramatischen Tonsetzer, und er hat diesen Platz behauptet, obschon er – Hand aufs Herz – in keiner seiner späteren Opern wieder zu jener Vollkraft und Freiheit des Ausdrucks gelangte und einen solchen Reichtum an Erfindung zeigte wie in der wohl unverwelklich blühenden »Königin von Saba«. Die strahlende Leuchte von Baireuth [!], an der sich schon zahllose komponierende Schmetterlinge und Käfer die Flügel verbrannten, um dann in den Schlund der Vergessenheit zu stürzen, drohte auch hier gefährlich zu werden; was aber dem kleinen Flugvölkchen schadete, konnte den starken Adler nicht ernstlich bedrohen, wenn er sich auch an der wabernden Lohe ein wenig die Flügel versengte. Goldmarks zweite Oper »Merlin« stand zweifellos unter dem Einfluß Wagners. Das bedeutete aber nur eine Episode im Schaffen des Meisters. Mit dem »Heimchen am Herd« betrat er den Boden behaglichen Kleinbürgertums, schlug er oft drastische und humoristische Töne an, und der protzige Takleton gehört wohl zu den bestgezeichneten Charakterfiguren der neueren Oper. Mit kräftigeren Strichen ist hingegen wieder die »Kriegsgefangene« gezeichnet, wo schon der klassische Stoff zu einer reicheren Verwendung des Chors und zur Anhäufung der Orchestermassen Anlaß gibt. Die »Szenen aus Götz von Berlichingen« sind mit Rücksicht auf die Breite der Handlung mehr episodisch gehalten: Goldmarks dramatische Kraft konzentriert sich hier zunächst in der Gestalt der Adelheid, die in blendender Tonpracht vor uns erscheint. Eine Ueberraschung besonderer Art bot uns das »Wintermärchen«, bei dem der Komponist der »Saba« (wie Goldmark seine Erstlingsoper selbst kurz benennt) wieder völlig neu aufzuleben scheint, und das uns durch eine vortreffliche Bearbeitung des Shakespeareschen Dramas, die Willner verfaßt hat, und durch eine von innigster Empfindung durchwehte und an packenden Wirkungen reiche Musik besonders lieb geworden ist. Und man erzählt sich, Goldmark hätte seither schon wieder einen hübschen Stoß vielzeiligen Notenpapiers verbraucht und zahlreiche Notenköpfe darauf gesetzt, die ein gewandter Kopist in absehbarer Zeit für die Hofopern zu entziffern haben wird.
Goldmark ist so klug, niemals auf einem Feld fortdauernd zu ackern. Hat er eine Opernpartitur vollendet, dann ergeht er sich im Garten der musikalischen Epik und Lyrik, schreibt Orchester- und Kammermusik oder windet auch einen duftigen Liederkranz. Gar schöne Gaben hat er auf diese Art der Welt geschenkt. Sagte Brahms nicht mit Recht, daß Goldmarks Symphonie »Ländliche Hochzeit« »direkt aus dem Haupt der Minerva entsprungen sei«, und jauchzt nicht die kunstfreundliche Welt, wenn sich der Meister wieder mit einer neuen Ouvertüre einstellt? Wer als Geiger die erforderliche Höhe erlangt hat, greift gierig nach dem ebenso schönen als dankbaren Violinkonzert, und an den Quartettabenden klingen die prächtigen Rhythmen des B-Dur-Quintetts, der Trios und der effektvollen »Suiten« für Klavier und Geige.
Goldmark hat einen langen Lebensweg, eine Reihe beglückendster Erfolge hinter sich, aber er ist als Mensch einfach und bescheiden, in der Kunst rein und wahr geblieben. Alle die Umwälzungen, die Stürme, die das Musikleben durchtosen und bedrohen, haben an dem starken Felsen nicht zu rütteln vermocht. Trotzdem hatte der Meister stets Ohr und Auge offen, und das Gute, was die moderne Kunst geschaffen, ist auch ihm zum Nutzen geworden. Wien wird den achtzigsten Geburtstag Goldmarks durch eine Erstaufführung der »Szenen aus Götz« in der Hofoper feiern und dem teuren Mann gewiß in erhebendster Art huldigen. Eine Ehrung aber, wie sie noch keinem Sterblichen zuteil geworden ist, wird ihm widerfahren, denn der Himmel selbst wird zu gleicher Stunde eine grandiose Fackel an der Sonne vorüberschwingen. Schade, daß der Meister kaum Zeit haben dürfte, dieser Ovation gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Denn er selbst hat nichts gemein mit einem flüchtigen Kometen, er wird am Firmament der Kunst als Fixstern unverrückbar stehen und von dort sein helles, klares Licht immerfort niedersenden … nach Art dieser Sterne auch noch jahrhundertelang, nachdem sie selbst aufgehört haben, zu leben und zu glühen.
Richard v. Perger.