Der Tag vom 18. Mai 1930

Als Großvater ein glücklicher Sklave…
Goldmark, wie ihn seine Enkelin sah.

Von Franzi Hegenbarth.

Nicht von dem Künstler Goldmark will ich sprechen, dies taten vor mir Berufenere, ja er selbst beschrieb in seinen Memoiren seinen Werdegang, den Dornenweg, der durch Not und Bitterkeit zum Gipfel geführt.

Des Großvaters Goldmark will ich hier gedenken, wie ich ihn vor mir sehe und wie er mich durch meine Kindheit geführt; ein Mensch mit goldigen Sitten und lieben Schwächen, seinen Enkeln gegenüber ein glücklicher Sklave.

Doch auch Sklaven können manchmal versuchen, ihr Joch abzuschütteln. Ich erinnere mich eines Abends, es war die Aufführung seiner Oper »Das Heimchen am Herd«, als ich mit Großpapa einträchtig in einer Loge saß. Ich vorne an der Rampe, er selbst tief im Schatten, um dort ungesehen von allen anderen seinem Groll oder auch seiner Begeisterung über Kapellmeister und Sänger freien Lauf zu lassen. In der Pause versorgte er mich dann stets mit Bonbondüten, als hätte ich daheim eine Hungerkur durchgemacht. Ich war auch noch in einem Alter, wo man einen guten Bissen der interessantesten Unterhaltung vorzieht. Als ich mit zwei Schinkensemmeln bewaffnet in unsere Loge zurückkehrte, fand ich Großpapa mit zwei Herren in angeregtestem Gespräch. Der eine war der damalige Unterrichtsminister, der andere ein alter Freund Goldmarks. Gerade wollte ich mit dem Verzehren meines Vorrates beginnen, als Großpapa sagte: »Gestatten Sie, Herr Minister, daß ich Ihnen meine kleine Enkelin vorstelle?« Ich erstarrte. Wohin mit den Schinkensemmeln? In jeder Hand hielt ich eine. Und Großpapas Blicke verloren ihre bekannte Güte und wurden messerscharf. Der Minister streckte mir schon die Hand entgegen, heiß und kalt wurde mir vor Verlegenheit. Rasch entschlossen drückte ich mich, die zärtliche Enkelin markierend, an Großpapa an und schob ihm die fettriefende Schinkensemmel in die Hand. Dann erst machte ich meinen schönsten Knicks und der Herr Minister war entzückt, hoffe ich. Als Goldmark und ich wieder allein waren, wurde er sehr unangenehm. Wie schon eingangs erwähnt, der Sklave begann sein unwürdiges Joch abzuschütteln. Der Rest der Pause verging mit ganz ungroßväterlichen Vorwürfen und einer genauen Wiedergabe des schönen Buches »Knigges Umgang mit Menschen«, dessen Schluß die drohende Prophezeiung frei noch Goldmark enthielt: »Das sage ich dir, wenn du noch einmal so gefräßig bist und nicht weißt, was man tun kann und was nicht, nehme ich dich nie mehr mit. Hättest du dir nur eine Semmel gekauft, würdest du eine Hand freibehalten haben, ich hätte jetzt keinen Fettfleck in meiner Hose!«

Einmal im Sommer war es, wir verbrachten ihn ausnahmsweise nicht in Gmunden, sondern in einem kleinen Nest an der Aspangbahn. Hier wurde ich ganz in Großpapas Obhut gegeben, so daß ihm das zweifelhafte Vergnügen blieb, der Hüter seiner Enkelin zu sein. Und dieses Amt hatte er entschieden unterschätzt: Das Resultat war ein chronischer Angstzustand Goldmarks, der an einem drückend schwülen Augusttag seinen Höhepunkt erreicht hatte. Mir war die Zeit wieder einmal sehr lang geworden. Die dienstbaren Geister hatte ich bereits alle bis aufs Blut sekkiert, und von allen Seiten fluchbeladen, wanderte ich seelenvergnügt über die Wiesen dahin. Plötzlich stieg in mir ein Gedanke auf, der mich nicht mehr verließ. Nicht weit von unserem Hause entfernt lag der Bahnhof. Der Wiesenpfad, der hinüberführte, wurde von der gegenüberliegenden Seite durch die Bahnschranken getrennt. Ich stellte mir nun vor, wie lustig es sein müsse, auf so einem Schlagbaum sitzend, hoch in die Lüfte zu fliegen. Es war gegen 6 Uhr, der Nachmittagsschnellzug mußte jeden Augenblick passieren. Ich brauchte nicht lange zu warten, als sich auch schon der Schlagbaum senkte. Ich kletterte hinauf und harrte nun gespannt der Dinge, die da kommen sollten. Der Zug fuhr vorüber und plötzlich fühlte ich unter mir einen Ruck und der Schlagbaum hob sich mit mir langsam in die Höhe. Ich lag am Bauch; mit allen Vieren, wie ein junger Hund klammerte ich mich an dem Balken fest. So schwebte ich mit aufgeblähtem Röckchen wie ein Fesselballon in die Lüfte. Da wurde mir mit einem Male sehr bange, ich schrie mit einem Stimmenaufwand, daß es weithin gellte. Als ich schon anfing heiser zu werden, nahte die Rettung. Großpapa mußte meine Stimme trotz der Entfernung erkannt haben, denn ich sah plötzlich seine Gestalt am Fenster erscheinen. Da hatte er mich auch schon erblickt und so schnell, als es sein Alter erlaubte, kam er mir entgegen. Inzwischen hatte auch der Bahnwärter das Unheil entdeckt, und ließ mich schimpfend und lachend herabgleiten. Mit wehenden Haaren und wütenden Augen kam Goldmark angestürzt: »War so etwas schon dagewesen, ein Mädel soll sich derart aufführen?« Wie in einem Schraubstock hielt er meine Hand, wie ein Opferlamm zog er mich hinter sich her. Da waren wir zu Hause – in seinem Zimmer – ich bebte. Und da in diesem kritischen Augenblick wendete sich mein ungünstiges Geschick. Das Glück, mich lebend und gesund wieder zu haben, war zu groß. Fest nahm er mich in seine Arme und ein Sieger stand über uns. Sein Herz, sein weiches, zärtliches, verliebtes Großvaterherz.

Goldmarks geistige und körperliche Frische in dem hohen Alter von 85 Jahren grenzte ans Unheimliche; kaum daß er auf seinen Spaziergängen gebückt schritt. Geschah es aber doch, so richtete er sich gar bald mit einem energischen Ruck in die Höhe und setzte seinen Weg mit jugendlicher Straffheit fort. Jeden Sommer verbrachte er eine Stunde im Garten und las laut ein Kapitel aus einem französischen oder englischen Buch, schrieb sich alle Vokabeln dazu aus, um nicht aus der Übung zu kommen oder zu vergessen. Und dies alles in einem Alter von 85 Jahren. In dieser Zeit entstand auch sein letztes Werk, das Klavierquintett in C-Dur [recte: cis-moll] op. 54. Den Schlußstrich an diesem Werk tat er im November 1914. Es war an einem Nachmittag, als er, den Klavierdeckel schließend, zur Mama, die eben ins Zimmer getreten war, sagte: »Jetzt, Minna, habe ich mein Quintett beendet.« Und es ist sein letztes Werk geblieben. Der Krieg und die damit verbundenen Aufregungen absorbierten ihn so vollständig, daß ihm die nötige Schaffenslust fehlte. Die Klavierstunden, welche er mir seit meinem sechsten Lebensjahr erteilte, nahmen wohl ihren Fortgang, aber sie entbehrten der wilden Zusammenstöße zwischen Großvater und Enkelin, die früher an der Tagesordnung waren.

Eines Abends hatte ich wieder sehr schlecht gespielt, aber der erwartete Hinauswurf blieb aus. Großpapa verhielt sich merkwürdig still und sagte nur: »Ich weiß, daß dir das ganze Klavierspielen keine Freude macht, aber wenn ich einmal nicht mehr bin und im Leben Augenblicke kommen werden, wo du dich innerlich sehr einsam fühlst, dann wirst du an den alten Großi denken und glücklich sein, daß er so ein Tyrann gewesen.« Nach diesen Worten blieb es mäuschenstill im Zimmer, in mir vollzog sich eine Wandlung. Großpapas naß geweinter Rockkragen hätte davon erzählen können. Und bis zu seinem Tode, der vier Wochen später erfolgte, habe ich keinen Tadel mehr von ihm zu hören bekommen.

Am 2. Jänner 1915, um 4 Uhr nachmittags, hatte er uns arm gemacht, so furchtbar arm. Bei seinem Sterben war ich nicht dabei, Papa sagte mir, daß es friedvoll und sanft war, ausgeglichen und hoheitsvoll.
(Der Tag vom 18. Mai 1930)