Goldmark verleugnet sich …

In der Oper führte man »Die Kriegsgefangene«, Oper in zwei Acten von Karl Goldmark. Text von E. Schlicht, auf. Karl Goldmark ist vielleicht der letzte Meister der Oper im alten Sinne. Sein bestes Werk – »Die Königin von Saba« – entstand noch unter dem Einflüsse der französischen großen Oper. »Merlin«, sein zweites Werk, ist die Folge der Wagner-Bewegung, und schließlich gebt man nicht fehl, wenn man das zehn Jahre später entstandene »Heimchen am Herd« ans das Humperdink’sche Vorbild von »Hänsel und Gretel« zurückführt. Dasselbe ist es mit seiner Kammermusik und den Orchestersachen Goldmarks; er ist immer Nachempfinder. Goldmark hat kein Glück mit seinen Texten, mit dem »Heimchen« gieng’s noch an, das war nur ein bisschen gar zu naiv. Er versteht es nicht, einen Text nach künstlerischen Qualitäten zu beurtheilen, er componiert, was ihm unter die Hand kommt; auch diesmal hat er ein schlechtes Textbuch gehabt. Herr Ernst Schlicht (der bekannte protestantische Pfarrer Formey), der Verfasser der »Kriegsgefangenen«, bringt zum »Textdichten« bloß guten Willen mit. Er versuchte, die bekannte Brisëis-Episode aus der Ilias zu dramatisieren. Aber was ist aus den grandiosen Gestalten Homers aus Achilles, Agamemnon, Priamus, Brisëis geworden? Blutleere mechanische Theaterpappen, denen jede Spur homerischer Abstammung fehlt. Liebesduett, Hochzeit, Schluß – das ist die Handlung, dazu muss die Ilias das Costum leihen! Zu diesem ungriechischen, jedem Stilgefühle fremden Libretto wollte Goldmark eine griechische, stilvolle Musik schreiben. Es war ihm nicht so sehr zu thun, für griechisches Wesen einen neuen musikalischen Ausdruck zu finden, als vielmehr den Stil Gluck wieder aufleben zu lassen. Goldmark und Gluck! Hier Größe und Erhabenheit, das Muster von gebundenem Stil und Classicismus, dort zügellose Leidenschaftlichkeit und heißen, orientalischen Ausdruck. Goldmark musste sich verleugnen, wollte er Gluck nachahmen. Leider that er es. Das. Aeußerliche an der »Kriegsgefangenen« ist Goldmark – der Klang des Orchesters trägt seine Eigenart. Goldmark, der Orchestermeister, konnte nicht so ganz entsagen, und so finden sich in der Oper Orchesterstellen von alt gewohntem Glanze und Pracht. Seltsam berührt dieser äußere Glanz zu der Askese, die sich der Componist in den übrigen Theilen seiner Musik auferlegt hat. Goldmark verleugnet sich, findet aber für den Ausfall seiner Persönlichkeit kein Surrogat. Oder soll der Mangel von Melodik, quellender Erfindung, reicher Harmonik, das lang gezogene oder klagende Recitativ das. Griechische dran sein? Dem Componisten der »Königin von Saba« wurde diesmal nur ein Achtungserfolg zutheil.
(Linzer) Tages-Post vom 19. März 1899)