Frische und Exaktheit
Frankfurter Theaterbrief.
7. November 1908.
Ueber die Aufnahme der neuen dreiaktigen Oper »Ein Wintermärchen«, von Karl Goldmark, am hiesigen Stadttheater hat Ihnen ein Telegramm schon kurz berichtet. Es wurde viel Beifall gespendet (darunter auch ein etwas verdächtiger aus den höheren Regionen des Hauses, zu dem man nur sagen kann: Gott bewahre uns vor einer organisierten Claque!). Der Applaus nach dem zweiten Aufzuge jedoch trug einen berechtigt herzlichen Charakter. In den Schlußszenen aber verlor sich das Interesse und damit die Beifallsfreudigkeit. Offen gesagt: Im dritten Akte kamen uns die Jahre des Komponisten – er zählt jetzt seine 77 – in Erinnerung. Auch die Ouvertüre, die so laut und geschwätzig ist, ohne Ideenreichtum oder tiefere Gedanken zu verraten, konnte nicht sonderlich interessieren. Dafür sind die heiteren und lyrischen Szenen, besonders im zweiten Akte, geradezu entzückend. Die Wiener haben Goldmarks »Wintermärchen« aus der Taufe gehoben und sich ihr Urteil darüber selbst gebildet. Ein näheres Eingehen auf das Werk ist mithin überflüssig. Bleibt also nur noch die Besprechung über die hiesige Aufführung. Unter Dr. Rottenbergs und Oberregisseur Krähmners Leitung darf man sie getrost eine Ruhmestat unserer Oper nennen. Die Solisten, der Chor und das Orchester boten durchweg tadellose Leistungen. Das frisch zugreifende Vorspiel zum zweiten Akt wurde mit künstlerischem Geschmack außerordentlich befriedigend wiedergegeben und die gleiche Frische und Exaktheit machte sich bei den Chören geltend. Von den Solisten sei in erster Linie Forchhammer genannt, der einen Leontes spielte, an dem sich jeder Schauspieler ein Muster nehmen kann. Auch gesanglich hatte er seinen allerbesten Abend. Der lange Urlaub, den er im Sommer für Studien- und Ruhezwecke bewilligt bekam, hat gute Früchte getragen. Als Hermione hätten wir lieber Frau Jäger gesehen, denn wenn auch gesanglich Frau Dönges recht zu loben war, so fehlt ihr doch gerade für diese Partie die Poesie und das zart Weibliche, dessen die Hermione nun einmal nicht entraten kann. Ganz reizend war das junge Liebespaar Perdita – Florizel mit Frl. Sellin und Herrn Wirl besetzt. Jugend, Anmut und klangschöne Stimmen erfreuten Auge und Ohr. Sogar über die Koloraturen kam Frl. Sellin gut hinweg, obwohl sie nicht in ihrem Stimmcharakter liegen. Auch Braun (Polixenes), Brinkmann (Camillo) und die Vertrauten am Hofe von Sizilien Frl. Schrödter und Herr Gareis – sie alle halfen, Altmeister Goldmarks Werk zu Ehren zu bringen. Herr Gareis als Antigonus führte den Befehl seines Herrschers mit so peinlicher Gewissenhaftigkeit aus, daß man unwillkürlich die Ueberzeugung gewann: dieser Kanzler würde die Botschaft seines königlichen Gebieters unter keinen Umständen dem »auswärtigen Amte« überlassen haben! . . . Ein ganz besonderes Lob noch für Herrn Schneider. Sein Schäferlied im zweiten Akte war eine der Glanznummern des Abends.