Bei einer Märchenoper nimmt man es nicht so genau

Wien , 2. Januar.
Hofoperntheater: »Ein Wintermärchen«. Oper in drei Akten (frei nach Shakespeare)
von A. M. Willner. Musik von Carl Goldmark. (Uraufführung).

Die Uraufführung einer Oper von Goldmark, des über 77 Jahre zählenden Greises. Das ist gewiss ein seltenes Kunstereignis. Und für Wien steigerte sich das Interesse daran umsomehr, als uns Direktor Mahler des berühmten Komponisten vorletzte Bühnenschöpfung (»Götz von Berlichingen«), weil nach seiner Ansicht nicht zugkräftig genug, mit eiserner Hartnäckigkeit vorenthalten hatte, während er das darauf folgende »Wintermärchen« buchstäblich noch »tintenfeucht« sofort für die Hofoper akzeptierte. Es musste also diesmal etwas wirklich Bedeutendes, andauernd Fesselndes zu erwarten sein. Und darin hat unseren gewesenen Hofoperndirektor sein oft erprobter dramaturgisch scharfer Blick nicht getäuscht. »Ein Wintermärchen«, in Goldmarks durchweg technisch meisterlicher und teilweise überraschend herzenswarmer Vertonung darf als eine entschiedene Bereicherung des allgemeinen Opernspielplanes, als ein Werk von ganz eigens individuellem Reiz bezeichnet werden, wenn mir auch das biographische Interesse der höchst merkwürdigen »Neuheit« noch höher zu stehen scheint, als das nur künstlerische.

Es hat doch etwas ungemein Rührendes – und das einzige Seitenstück hierzu bietet vielleicht nur Verdis »Falstaff«, – einen in den Jahren so vorgerückten, bedeutenden Komponisten, der nach so vielen und meist wohlverdienten Erfolgen wohl auf seinen Lorbeeren ausruhen könnte, sich noch einmal mit fast naiv-jugendlicher Lust und Liebe einem neuen Bühnenstoff hingeben zu sehen und damit ein musikalisches Abschiedswerk von so edler Abgeklärtheit zu schaffen, dass man ihmals Motto die vier Textzeilen aus der Schlussszene vorsetzen könnte:

»Ein später Glanz verbreitet sanfte Helle,
Gleich letztem Sonnengruss auf Bergeshöh’n,
Und unseres Lebens sturmbewegte Welle,
Sie glätteten sich in linder Lüfte Wehn.«

Namentlich auf den seltenen Wohlklang, die Klarheit und Durchsichtigkeit, mit welcher Goldmark im »Wintermärchen« Orchester und Chor behandelt, passt das Bild »sanfte Helle« gar wohl.

Zum dritten Mal hat sich Goldmark hier als textlichen Mithelfer Herrn A. M. Willner erkoren, der ihm bereits die Libretti zum »Heimchen am Herd« und zum »Götz« geliefert. Über ein »rechtes und schlechtes« Opernlibretto ist er leider auch diesmal nicht hinausgekommen. Verlangt man nicht mehr, so muss man des erfahrenen Publizisten technische Routine und praktischen Bühnensinn neuerdings immerhin anerkennen. Aber wo blieb die hochpoetische Sprache, die feine, psychologische Motivierung Shakespeares?! Letztere musste schon deshalb auffallen [recte: ausfallen], weil sich hier Hr. Willner genötigt sah, die fünf Akte des Dramas in drei zusammenzuziehen und speziell die drei ersten in Sizilien spielenden, in einen einzigen . Schauplatz des letzteren bei Willner: Marmorterrasse im Garten des Königs Leontes mit Ausblick auf das Meer. Gleich aus dem ersten Gespräch des Königs Leontes (Herr Slezak) mit seinem Jugend- und nunmehr Gastfreund, dem böhmischen König Polixenes (Herr Demuth) erfahren wir, dass letzterer nicht wie im Drama neun, sondern zwölf Monate bei Leontes geweilt, was des sizilianischen Königs Zweifel der Legitimität des soeben neugeborenen Töchterleins an Perditta [!] plausibler erscheinen lässt – oder doch lassen soll.

Das ominöse Kind ist also bei Beginn der Oper bereits am Leben. Wie im Drama wird des Königs Leontes Verdacht eigentlich dadurch angeregt, dass sein Gast Polixenes, der schon am nächsten Tage abreisen wollte, auf die freundliche Zusprache der Königin Hermione (Fräulein v. Wildenberg [recte: Mildenburg]) sofort davon wieder absteht. Auch getreu nach Shakespeare will nun Leontes den vermeintlichen Schänder seines Ehebettes vergiften lassen. Aber der, den er hierzu erkoren, sein Vertrauter Camillo (Herr Haydter) zieht es vor, mit König Polixenes das Weite zu suchen, was Leontes erst recht in seinem Verdachte bestärkt. Nun aber bemerkenswerte Änderungen gegenüber dem Drama: der fälschlich angeklagten Königin bleibt die lange, ungerechte Gefangenschaft erspart.. Dafür wird ihr das Kind Perditta, als sie ihm eben ein Wiegenlied singt, auf des Königs Befehl von dem Führer der Leibwache, Antigonus (Herr Stehmann) brutal entrissen, damit er es irgendwo in einer Wüstenei aussetze. Der darüber Verzweifelten schleudert Leontes in seinem blinden Wahn die ärgsten Schimpfworte ins Gesicht, befiehlt, ihr auch ihren erstgeborenen Sohn Mamillius zu nehmen, worauf sie gebrochen die Szene verlässt. Gleich darauf bringen aber die zur Aufklärung des Streitfalles an das Orakel des Landes – das also hier ein heimisches, nicht wie bei Shakespeare das delphische des Apoll – entsandten Boten in einem versiegelten Schreiben dessen Spruch. Er lautet: Hermione ist keusch, Polixenes, Camillo tadellos und treu, Leontes irrt, das Kind ist sein Kind! Und ohne Erben wird der König sterben, wenn die verstoss’ne Tochter er nicht findet.« Mit den Worten: »Betrug und plumpe Lüge! Mamillius, mein Erbe lebt! – schleudert der König wütend die Rolle von sich. Da eilt eine Dienerin her bei, schreiend die grause Post verkündend: »O Herr – dein Sohn – die Königin – dein Weib: Tot! Tot! – Dein Sohn aus Schreck, dein Weib aus Schmach: beide tot!

Jetzt erst seiner furchtbaren Übereilung bewusst, bricht der König vernichtet zusammen! Ein Aktschluss, der an Häufung von Schrecknissen zu typischer Wirkung nichts zu wünschen lässt. Schade nur, dass ihm die Musik, die für vorausgegangene lyrische Einzelheiten die herzlichsten, überzeugendsten Akzente fand, auf diesen hochdramatischen Klimax nicht zu folgen vermag. Sie kommt hier über eine mehr äusserliche Verwendung vom (mittleren) Wogen erborgter Steigerungsmittel nicht hinaus.

Vom zweiten Akt an – bei Shakespeare wie erwähnt eigentlich der vierte! – folgt die Oper ziemlich getreu den Vorgängen im Drama. Ein Prolog, von der allegorischen Figur der Zeit wie dort gesprochen – nicht gesungen, wozu man seltsamerweise eine unserer stimmbegabtesten und talentvollsten jungen Sängerinnen, Fräulein Kiurina, gewählt – also dieser rein rezitierte Prolog belehrt uns, dass seit Schluss des ersten Aktes 1 1/2 [recte: 16] Jahre vergangen seien. Und weiter: »Wir landen flugs im Lande Böhmen – wo jenes Kindchen hin verschlagen, das einst verstossen ward in bösen Tagen, aufwuchs als eines Schäfers Kind. – Sie – Perditta – ich sag’s geschwind, liebt Florizel, Polixenes Sohn. – –

Hiermit ist schon im wesentlichen der Inhalt des zweiten Aufzuges angedeutet, in welchem die furiose Ehebruchstragödie – oder richtiger: diesbezügliche Wahnvorstellung des Leontes der Idylle zweier blutjungen, unschuldigen Liebenden weicht. Szene: eine ländliche Gegend, unter welcher man sich das nach Shak[e]speares naiver geographischer Unkenntnis vom Meer umspielte Böhmen vorzustellen hat. Erst der Schafschur beim Schäfer Valentin (Herr Mayr), zu allerhand Aufzügen, Tänzen und sonstigen Gruppierungen Anlass gebend, zwischen welchen das junge Liebespaar Perditta (Fräulein Kurz) und Florizel (Herr Schrödter) seinen zärtlichen Gefühlen Ausdruck gibt. Aber die beiden werden von König Polixenes und Camillo gestört, welche zuerst vermummt eintreten, worauf sich aber der König zu erkennen gibt und, da er von einer schäferlichen Schwiegertochter nichts wissen will, allerseits mit seinem ärgsten Zorne droht. Jedoch, statt sich zu trennen, entfliehen die Liebenden auf den ihnen heimlich zugeflüsterten Rat des ehrlichen Camillo nach Sizilien zu dem um sein so schnöde hingeopfertes Weib sich noch immer in Seelenqualen verzehrenden König Leontes. Die originelle Gestalt des bei Shakespeare eine so wichtige, zuletzt geradezu aufklärende Rolle spielenden, durchtriebenen Gauners Antolphus [sic!] ist vom Librettisten durch einen gar nicht zur Handlung gehörigen, dadurch höchst überflüssigen »alten Hausierer« ersetzt worden. Auch die komischen Figuren der Schäferinnen Mopsa und Dorcas hat er – und dies wohl mit mehr Berechtigung – entfernt.

Der dritte und letzte Akt der Oper bringt nun den aus dem Drama bekannten versöhnenden Ausgang, dass die totgeglaubte Hermione zuerst als eine wunderbar naturgetreu nachgebildete Statue erscheint, die sich dann allmählich belebt und, von ihrem Piedestal herabsteigend, als »Menschenweib von Fleisch und Blut« dem namenlos beglückten Gatten in die Arme stürzt. Da inzwischen auch König Polixeens [!] mit seinem getreuen Camillo nachgekommen und überdies die königliche Abkunft Perdittas als der verstossenen Tochter des Leontes unwiederleglich nachgewiesen worden, gibt natürlich auch der böhmische König seinen Segen zur Verbindung seines Sohnes mit der sizilianischen Prinzessin, Florizel und Perditta bilden das zweite glückliche Paar und eine Anrufung der Götter, dass sie dem schwer geprüften Hause das neu erblühte Glück erhalten mögen, schliesst die Oper.

Gegen Goldmarks Musik – deren grosse individuelle Vorzüge ich schon oben angedeutet – könnte man höchstens dann den Vorwurf des Mangels an Stileinheit erheben, wenn es sich eben von vornherein nur um ein einheitlich gedachtes, ernstes Drama handelte. Aber bei einer Märchenoper nimmt man es von vornherein nicht so genau und darum auch kleine Konzessionen an den Tagesgeschmack (z. B. das liebenswürdige Frl. Kurz förmlich auf den Leib geschriebene Koloraturliedchen im 2. Akt) gerne in den Kauf. Dass aber wörtlich – freilich auch der Situation entsprechend – der 1. und 3. Akt der Oper einerseits, der zweite andererseits, stilistisch völlig auseinanderfallen, kann nicht geleugnet werden. Allerdings vernehmen wir da und dort des Komponisten an gewissen charakteristischen Manieren (z. B. die echt Goldmarksche Triole) so leicht erkennbare Eigenart. Aber im 1. und 3. Akt, wie er sich seinen eigenen Stil als Komponist der Kriegsgefangenen zu einem – tief ernst gemeinten – Kompromiss zwischen Gluck und Wagner herausgebildet.

Im 2. Aufzug dagegen in jener kurz angebundenen, fröhlich volkstümlichen Weise, die man aus seinem »Heimchen am Herd« kennt und hier besonders glücklich wieder anklingend, vor allem dem »Wintermärchen« für längere Zeit die Gunst des Publikums erhalten dürfte.

Eine grosse symphonische Phantasie, deren geistige Bedeutung man erst so recht versteht, wenn sie im letzten Akt als Musik zur Erwartungsszene der Statue wiederkehrt, eröffnet die Oper. Zu Anfang feierliche Akkorde, eine gemessene Melodie von zweimal drei Akten umrahmend, hierauf in weiter ausdrucksvoller Ausführung zwei der wichtigsten elegischen Melodien der Oper, eine der Hermione, eine der Perditta angehörig, breit in Moll und später wiederholt leitmotivisch verwendet, sich unvergesslich dem Gedächtnis einprägend. Aus dem ersten Akt wären als einzelne lyrische Schönheiten etwa besonders anzuführen: der Hermione zu ihrem neuen Mutterglück begrüssende melodiöse Festchor, das ausdrucksvolle Gesdur-Arioso des Leontes, aus welcher eine bestimmte eindringliche Tonfolge besonders wiederkehrt, der schmerzliche H dur-Monolog des Polixenes (»O Menschenglück«) als er den wider ihn von dem verblendeten Freunde ausgesonnenen Mordplan erfahren. In den sonst wesentlich dialogisch arrangierten Szenen des ersten Aktes ist Goldmark bemüht, wo es nur geht, aus dem reinen Rezitativ ins Arioso überzugehen und es gelingt ihm das manchmal, ohne dass es der Hörer (sofern er nicht den Klavierauszug vor sich liegen hat) eigentlich recht merkt.

Dass leider die Kraft des Komponisten zu den letzten entscheidenden dramatischen Steigerungen versagt, musste ich schon oben bemerken. Umsomehr steht er durchweg auf der Höhe seiner Aufgabe in der heiteren Volksszene des 2. Aktes, der ein besonders wirksames grosses Orchestervorspiel in Form von Variationen über den alsbald auf der Bühne zu hörenden Spottchor »Perditta bist du allein?« eröffnet. Eine Vollprobe von Goldmarks unverwüstlicher, virtuoser Orchestertechnik, dabei – wie auch das meiste übrige im 2. Akte – so frisch-sprudelnd, dass es die grauen Haare des Komponisten förmlich Lügen zu strafen scheint! Mag man das schon erwähnte Koloraturliedchen der Perditta noch so sehr als Konzession an die Masse des Publikums auffassen, gewisse Stellen in der Partie des Florizel vielleicht auch zu operettenhaft finden und besonders in dem reizenden, halb Schubertschen, halb Straussischen Walzer, welcher die Chorszene des 2. Aktes zyklisch einrahmt – als »urwienerisch« und trotzdem in vorchristlicher Zeit auf einem geträumten böhmischen Boden getanzt und gesungen!! – den ärgsten stilistischen Anachronismus erkennen: der unmittelbaren, rein musikalischen Wirkung wird sich doch hier selbst der am meisten skeptisch veranlagte Hörer und prinzipientreue Kritiker nicht entziehen können. Dass neben dieser vielfach ans »Heimchen am Herd« erinnernden, aber auch ganz unverkennbar von Humperdincks Märchenkindermusik beeinflussten bunten Volksszene der greise Komponist auch in diesem, sonst hauptsächlich nur auf populäre Wirkung hinarbeitenden zweiten Akt tiefere Herzenstöne anzuschlagen weiss, bezeugen die beiden (im einzelnen wesentlich von einander verschiedenen) Liebesduette Florizels und Perdittas und der letzteren ergreifender Abschiedssang von der Stätte ihrer Jugendfreuden, ihres ersten Liebesglückes.

Es fällt hierauf freilich schwer, sich im Schlussakt in die tief schwermütige Stimmung des ersten Aktes wieder hineinzufinden. Aber bei der Erstlingsszene der Statue gewinnt doch die Musik, in glücklichster Steigerung schon früher verwendeter Elemente eine so zwingende Gewalt, dass man immerhin mit einem bedeutenden und was die Hauptsache: wahrhaft edlen! – Eindruck von der hochinteressanten Schöpfung scheidet.

Die Wiener Aufführung, von Kapellmeister Walter sorgfältigst einstudiert und vor dem Publikum temperamentvollst geleitet, war geeignet alle Schönheiten ins hellste Licht zu setzen. Und da gebührte der erste Preis wohl dem Orchester: ein edlerer, nüancenreicherer Voll- und Wohlklang lässt sich ja garnicht denken. Unter den Solisten erfüllte vielleicht nur Frl. V. Wildenberg [Mildenburg] nicht ganz die gehegten Erwartungen, man merkte (z. B. im Vortrag des Eia-Popeia-Liedchens im ersten Akt) eine grosse stimmliche Anstrengung, die sogar die Reinheit der Intonation trübte. In kongenialer Wiedergabe der Absichten des Komponisten war sie freilich sonst so ein leuchtendes Muster, wie man auch die meisten übrigen Darsteller — besonders Frl. Kurz und Herrn Demuth mit diesem schwerwiegenden Lob bedenken muss. Äusserlich konnte der Erfolg der Oper am Abend der Uraufführung selbst garnicht glänzender sein und soll der Komponist, immer von neuem hervorgestimmt, fast unerhörte Triumphe gefeiert haben, von denen es freilich unentschieden bleiben muss, wass [!] davon das Werk, was die in Wien allbeliebte und allverehrte Künstlerpersönlichkeit anging. Aber auch bei der ersten Reprise (am 5. d. M.), welcher ich selbst beiwohnte, war der Erfolg ein grosser und unbestrittener, wenn sich auch diesmal der Komponist trotz der nicht endenwollenden Hervorrufe nach dem zweiten Akt seiner wieder vollzählig erschienenen, treuen Verehrergemeinde durchaus nicht zeigen wollte.
Prof. Dr. Theodor Helm.

(Musikalisches Wochenblatt vom 16. Januar 1908)