Man staunt über die geistige Frische
Feuilleton.
Wiener Akkorde
[…] Derselbe 2. Januar, an dem sich die »Tonkünstler« vor Smareglia und gleichzeitig auch (durch Aufführung seines »König Lear«) vor dem neuen Hofoperndirektor Weingartner respektvoll verneigten, war für die Hofoper selbst ein Festtag.
Die große Gemeinde Karl Goldmarks hatte sich bei der Uraufführung des »Wintermärchens« ein Stelldichein gegeben. Da stand es im Vorhinein fest, daß der Erfolg »rauschend, begeistert« usw. sein müsse. Auch waren die allerdings ersten Gesangskräfte der Hofoper aufgeboten worden: Kurz, Mildenburg, Slezak, Demut, Meyer usw. …. Daß es sehr hoch hergehen würde, wußte man also im Voraus. Umso angenehmer überrascht war man, daß auch das Werk den Beifall durchaus rechtfertigte.
Das Werk eines 77jährigen! Ein seltenes Alter für schaffende Künstler! Man erinnert sich unwillkürlich an Verdi. Und erinnert sich umso lebhafter, als ebenso der alter [!] Goldmark einen Shakespeareschen Stoff in die Arbeit nahm, wie der alte Verdi. Ob auch bezüglich der musikalischen Arbeit am alten Goldmark dieselbe Wandlung wahrzunehmen ist wie am alten Verdi? Teilweise wohl, wenn auch nicht in so starkem Maße wie bei diesem. Niemand kann sich eben dem Geiste seiner Zeit entziehen. Und trotz der geschlossenen Nummern neigt das Wintermärchen doch entschieden zur neueren Schule.
Goldmark hat ein Kompromiß gesucht. Und zum Teil gefunden. Hatte doch sein Talent seit jeher zwei Seiten: Der pathetische Kothurn kennzeichnete die eine, die idyllisch-volkstümliche Form die andere Seite. Hier Königin von Saba – dort Heimchen am Herd. Im »Wintermärchen« finden sich beide Richtungen glücklich zusammen. Der epische Faltenwurf des Märchens gestattet die Zusammenlegung von Tragödie und Komödie, und wie im »Wintermärchen« zwei verschiedene Schauplätze, zwei durch einen Zwischenraum von sechzehn Jahren getrennte Zeiten aneinander gefügt sind, so werden auch zwei grundverschiedene Arme von Musik so lebendig. Eifersucht und Grämlichkeit in der Tragödie des ersten Aktes finden ihr Widerspiel in Jugendliebe und Lebensfreude des idyllischen zweiten Aktes. Der dritte Akt ist die Apotheose: Die Ueberwindung von Zeit und Tod.
Das Willnersche Textbuch hat große Fehler. Besonders die Reime tun oft weh. Es hat aber auch Vorzüge: Es läßt durch eine knappe Fassung die symbolischen Elemente des Märchens deutlicher hervortreten. Die ersten drei Akte Shakespeares werden in einen einzigen zusammengezogen: König Leontes verstößt seine Gemahlin Hermione uns läßt die kleine Perdita aussetzen. Motiv: Eifersucht. Der zweite Akt – von einem Prologe der Zeit eingeleitet, der uns über den Zwischenraum von 16 Jahren hinüberträgt – spielt im sagenhaften, meerumspülten »Böhmen«, beim Schafschurfeste des Pächters Valentin, den der Zufall zum Ziehvater der ausgesetzten Perdita hatte werden lassen. Diese (dem Aeußern nach Schäferin) und Florizel, der Kronprinz, verlieben sich ineinander. Welch ein scheinbarer Standesunterschied! Da hilft nur Flucht, da Papa Polyxenes die Verbindung hintertreiben will. Wohin gehts? Nach Sizilien, zum einsam verlassenen Leontes. Hier bringt der dritte Akt die Lösung: alle finden sich fröhlich zusammen und auch Hermione, die Verstorbene, wird aus einer Statue wieder in Fleisch und Blut zurück verwandelt.
Wie die Dissonanz des ersten Aktes in der Konsonanz des zweiten, wie die Sorge des Alters in der Liebe der Jugend, so löst sich der Winter des Mißvergnügens in dem Märchen von der Seligkeit, an welcher alle teilhaben, die gerechten Sinnes sind Das Märchen macht wieder jung. Das ist die Moral. Nicht nur Hermione und Leontes macht es wieder jung, nein: auch das Publikum, und vor allem auch – den Tondichter.
In der Tat: Man staunt über die geistige Frische des Siebenundsiebzigers Goldmark. Der Schnee auf seinem Haupte ist nur ein Wintermärchen. Echtes Frühlings-Gold ist noch das Mark seiner Musik. Man höre nur diesen zweiten Akt! Da ist Jugendfrische, Frühlingstau und Maienluft . … Frohe Schäfer und Schäferinnen … Ein würdiges Gegenstück zum Heimchen am Herd! Das Ballet gehört unstreitig zu den besten Nummern der Oper. Und der Walzer (der etwas wienerisch klingt) hat Aussicht populär zu werden. Etwas schwächer sind die äußeren Akte. Die Bühnenwirksamkeit allerdings, den wohlberechneten theatralischen Effekt teilt das »Wintermärchen« mit den früheren Werken Goldmarks. Die Wucht des Pathetischen im ersten Akte weist sogar eine Steigerung auf. Einige Striche scheinen freilich unentbehrlich. Auch ist die Deklamation keineswegs einwandfrei. Markig ist der Einzugsmarsch, ergreifend die Klage der Hermione. Noch andere Details wären lobend hervorzuheben. Ich nenne nur einen ebenso schönen als interessanten Gedanken: An der Spitze des ganzen Werkes, die Ouvertüre einleitend (ein Vollblutmusiker wie Goldmark braucht die Ouvertüre und wird sie niemals opfern!), steht ein glanzvolles, hoheitsvolles Thema, das erst im dritten Akte wiederkehrt. Es ist das Thema der Erweckung Hermiones. »Wecke sie, Musik«, heißt es an der betreffenden Stelle bei Shakespeare. Die Wiedererweckung, die Ueberwindung von Zeit und Tod, das Wiederjungwerden im Reiche des Märchens durch den schon von Shakespeare beschworenen Geist der Musik – das war das Leitmotiv des 77ers Goldmark. Sich selbst zur Parole, setzte er diese Moral des Stückes, in ein Kernthema zusammengefaßt, an die Spitze der Ouvertüre. Und das Leitmotiv, das Motto – wurde zur Tat. Dr. Victor Lederer.
(Prager Tagblatt vom 8. Jänner 1908)