Die Aufführung war eine wahrhaft glänzende

Feuilleton.
Hofoperntheater.

»Das Wintermärchen.« Oper von A. M. Willner. Musik von Karl Goldmark.)

Jedes Kunstwerk ist schon an sich ein Wunder. Goldmarks »Wintermärchen« ist es aber in noch erhöhtem Maße, denn sein Schöpfer stand im siebenundsiebzigsten Lebensjahre, als er die von beneidenswerter Jugendfrische erfüllte Oper schrieb. Die Musikgeschichte kennt nur wenige ähnliche Beispiele: Haydn, der im hohen Greisenalter seine beiden Meisterwerke »Die Schöpfung« und »Die Jahreszeiten« komponierte, Auber, dessen Schwanengesang »Un jour de bonheur« die erstaunliche Erfindungskraft eines Fünfundachtzigjährigen dokumentierte, und Verdi, der sich mit einundachtzig Jahren hinsetzte, um die Welt mit seinem genialen, sonnige Heiterkeit und sprühenden Humor atmenden »Falstaff« zu beschenken. Leider ist Goldmark bei seinem »Wintermärchen« kein dichterisch veranlagter, so geistvoller Mitarbeiter zur Seite gestanden, wie ihn Verdi in Arrigo Boito besessen. Dieser hat das Lustspiel des großen Briten zu einem ganz vorzüglichen Opernbuch umgewandelt, welches »als Ding an sich«, also auch ohne Musik gute Figur macht, während A. M. Willner aus dem wundervollen Märchendrama Shakespeares ein handwerksmäßiges Libretto fabrizierte.

Die Sprache in dem Textbuche zum »Wintermärchen« ist von einer Nüchternheit und Banalität, die man geradezu als eine Versündigung an dem Geist des Dichters empfindet. Auch der freieste Bearbeiter eines Shakespeareschen Stoffes darf sich nicht die Freiheit so geschmackloser Verse gestatten, wie: »Die hat der König schon geschnappt, nun sind sie beide eingeklappt«, oder: »Sieh, meine Krone hat ’nen Fleck.«

Die Handlung, deren psychologische Fäden sich völlig verwischen, wurde dem Zweck entsprechend zwar in nicht ungeschickter Weise vereinfacht und enger zusammengeschoben, aber die lebensvollen Gestalten des Originals schrumpfen in der »freien« Bearbeitung Willners zu schemenhaften Opernfiguren ein, die weder Anteilnahme noch Interesse erwecken. Was ist uns in diesem Opernlibretto die edle Dulderin Hermione, was geht uns das Schicksal der beiden Hampelmännchen, die hier als Leontes und Polyxenes erscheinen, weiter an? Ja nicht einmal für das bei Shakespeare so entzückende Liebesidyll der Königskinder Perdita und Florizel vermochte Willner einen Hauch von Poesie aufzubringen. Pauline, die Freundin Hermiones, wurde zur Staffage, ihr Gatte Antigones beinahe zu einer »stummen Person« degradiert, die bloß den brutalen Auftrag des Leontes zu vollstrecken hat, und die köstliche, humorvolle Spitzbubenfigur des intrigierenden Antolycus zu einem für die Handlung gänzlich überflüssigen »alten Hausierer«.

Aus diesem dürftigen Buch ein wirkliches Kunstwerk geschaffen zu haben, welches alle Mängel des Textes vergessen läßt, konnte nur einem Tondichter von der bewundernswerten Meisterschaft Karl Goldmarks gelingen. Er hat das Shakespearesche »Wintermärchen« über den Kopf seines Librettisten hinweg komponiert. Die Gestalten seiner Partitur haben Fleisch und Blut, sie leben und führen eine individuelle Sprache: seine Musik zeichnet sozusagen die psychologische Entwicklung der Handlung, indem sie die verschiedenen Situationen und die einzelnen Personen in feinster Differenzierung charakterisiert. Goldmark ist der geborne Dramatiker. Für jede Empfindung, für jeden Affekt findet er den adäquaten musikalischen Ausdruck mit verblüffender Sicherheit. Wir fühlen bei ihm, wie sich innere Erlebnisse in Musik umsetzen und durch sie dramatische Gestalrung gewinnen.

Goldmarks Musik schmiegt sich in bezug auf Charakteristik der Handlung des »Wintermärchens« aufs engste an. Dabei blüht alles aus musikalischem Grund und Boden. Die Singstimme führt die Herrschaft. Wenn auch dem Orchester eine überaus wichtige Rolle zugeteilt ist, indem es pointierend, ergänzend oder malend in knappster Weise ausführt, was auf der Bühne vorgeht und gesungen wird. Aber trotz aller Mannigfaltigkeit der Farbengebung und des kunstvollen Motivengespinstes, trotz freiester Rhythmik und dissonanzenreicher Harmonik und der überaus häufigen Anwendung von Chromatik und Enharmonik hat der Hörer nicht einen Augenblick das Gefühl nervöser Unruhe. So einheitlich, logisch und organisch entwickelt sich alles. Bloß ihres sinnlichen Reizes oder ihrer Seltsamkeit wegen wählt Goldmark nie Harmonien. In der Notwendigkeit ihres Ausdrucks müssen sie ihre Rechtfertigung finden. Von diesem Standpunkte aus kann man mit Recht sagen, so paradox es auch klingt, daß seine Harmonien eigentlich stets einfach sind und ihr Reichtum erklärt sich nur aus der Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, dem sie entsprechen sollen. Das gleich gilt von der Instrumentation, die so häufig als ein besonderer Vorzug des Komponisten der »Königin von Saba« gepriesen wird. Dabei verkennt man gewöhnlich das, worauf es eben ankommt, daß nämlich die Instrumentalwirkung als solche für Goldmark gar keinen Wert hat, wenn sie nicht voll und ganz in ihrem Zwecke, das heißt im Dienste des dramatischen Ausdrucks aufgeht.

Daß Goldmark sich auch heute noch im Vollbesitze seiner technischen Meisterschaft befindet, ist nicht so sehr zu bewundern, wie die Frische der Erfindung, die Wärme der Tonsprache, die dramatische Energie, die sich in der Musik zum »Wintermärchen« offenbaren. Ich wüßte keinen lebenden Komponisten zu nennen, der ein ähnliches Werk zu schreiben imstande wäre. Goldmarks jüngste Oper hat nichts mit dem öden deklamatorischen Unverstand der Wagner-Epigonen gemein. Der ariose Stil herrscht darin vor und kristalliert sich wiederholt zu abgeschlossenen Formen von reizvollster Melodik. Insbesondere der zweite Akt mit seiner zum Teil absichtlich archaisirenden Tendenz bietet in den einstimmigen Gesängen wie in den Ensemblesätzen eine Fülle anmutigster und prächtigster Musik. Die Glanzpunkte der blütenreichen Oper Goldmarks bilden der tief ergreifende H-dur-Monolog des Polyxenes »O Menschenglück«, das derb-charakteristische Vorspiel zum zweiten Akt, das aus dem später vorkommenden Spottchor der jungen Schäfer und Schäferinnen kunstvoll gestaltet ist, der anmutige Mädchenchor in D-dur mit seinem leichten slawischen Anklang, Perditas brillantes Lied mit Chor, ihr schwungvoll gesteigertes Duett mit Florizel und ihr rührender Abschiedsgesang, die echt volkstümliche Tanzmusik, deren berauschender Walzer ebenso wie der stimmungsvolle Schluß des zweiten und der des dritten Aktes zu den genialsten Eingebungen des Meisters gehört.

Die Aufführung der Novität war eine wahrhaft glänzende. Man kann ihrer nur mit Worten uneingeschränkten Lobes gedenken. Herr Kapellmeister Walter hat die Novität mit größter künstlerischer Sorgfalt vorbereitet und mit hinreißendem Schwung dirigiert. Für die Hauptpartien wurden die schönsten Stimmen, die besten Kräfte unserer Hofoper herangezogen, die alle ihr ganzes Können für das Gelingen der Vorstellung einsetzten: die Damen Mildenburg< und Kurz, die Herren Slezak, Demut, Schrotter und Mayr. Auch die kleineren Rollen waren bei Fräulein Kittel und Kiurina sowie bei den Herren Haydter und Felix in sehr guten Händen. Der Erfolg war ein durchschlagender. Nach allen Aktschlüssen wurde der Komponist unzähligemal hervorgejubelt. Mehr als dieser äußere Erfolg läßt der innere Wert der Goldmarkschen Oper erhoffen, daß man von seinem »Wintermärchen« noch lange Zeit nicht »Es war einmal« erzählen wird. Rich. Robert
(Wiener Sonn- und Montagszeitung vom 6. Januar 1908)