… mitten in der Stadt Neapel
Theater- und Kunstnachrichten
Wien, 25. Januar.
[Philharmonisches Konzert und Hofoperntheater.] Goldmarks neue Ouvertüre ist knapp vor Neujahr beendet. Noch feucht von der Tinte, hat man Meister die Partitur aus den Händen gerissen. Nichts erfreulicher, auch nichts begreiflicher als dieser Eifer; danken sich doch gegenseitig Goldmark und das philharmonische Orchester ihre schönsten Erfolge. Eine glänzende Reihe von Vorgängern schreitet speziell einer neuen Konzertouverture Goldmarks voran: »,Sakuntala«, »Penthesilea«, »Sappho«, »Prometheus«, »Im Frühling« – fast ebensoviel Siege wie Werke. Etwa in der Nähe der »Frühlings«-Ouverture hält sich in Stimmung und Ausdruck das neue »In Italien« betitelte Werk ,»Italien« und »Frühling« – bedeutet das nicht überhaupt dieselbe Musik? Beides hat man seinerzeit herauszuhören vermocht aus Mendelssohns A-dur-Symphonie. In Goldmarks neuer Orchesterkomposition herrscht warmes Leben, heitere Bewegtheit. Jene Abkehr von dem schweren Pathos von ehemals, das Streben nach leichteren, luftigeren, auch knapperen Formen, die den letzten Arbeiten des greisen Meisters eigentümlich sind, sind auch in der neuen Ouvertüre zu finden, die in glücklicher Stunde ersonnen ist. In beschwingtem Zwölfachteltakt, der, in den Sechsachteltakt zerlegt, Tarantellacharakter verrät, rauscht lärmend, tosend und doch in den weichen Terzen des Themas heimlichen Gesang in sich tragend, die Woge italienischen Straßenlebens auf.Bald nickt uns ein schelmisches Gassenhauerchen zu, recht manierlich, in reizendster Sorglosigkeit hüpfend. Kein Zweifel, wir sind »mitten in der Stadt Neapel«, und es ist hier ohne Frage viel hübscher als »mitten in der Stadt London«, wohin uns erst kürzlich englische Komponistenphantasie geführt hat. Neapel! »An des Genusses Arm Schlendert das süße Nichtstun durch den Schwarm, Und toller Leichtsinn tanzt dem Paar zur Seite,« singt Paul Heyse. Goldmarks musikalisches Straßenbild leiht weder für Genuß noch für tollen Leichtsinn bei der Musik der Straße. Er benützt nicht einmal das »Funiculi, funicu1a«, die beliebte musikalische Drahtseilbahn, ohne die die letzten symphonischen Italienreisenden nicht fortkommen zu können glaubten.
Nach dem feurigen Anfang mäßigt sich die Bewegung in einem langsameren Mittelsatz in As-dur. Dem italienischen Tag folgt die italienische Nacht. Sie liegt gerade so schwül über dem Lorbeerhain draußen vor der Stadt wie etwa über dem Garten der Königin von Saba. Die schmachtende Melodie der Oboen verrät uns verschwiegenes Liebesgekose; eine Solovioline sendet süße, zärtliche Töne durch die heilige Stille, in zarten Holzbläsertrillerchen seufzen sich allerlei Heimlichkeiten aus. Und die Harfe vervollständigt den Zauber, geheimnisvoll an die Goldmark-Triole die Goldmark- Synkope fügend. Aber von neuem rückt das brausende Leben, und nur noch stürmischer, heran. Stecken wir da nicht mitten im »wimmelnden Volkskehrichthaufen« Santa Lucia? Alles Schlagwerk heraus! Und jetzt wieder scheinen wir in einem vornehmeren Viertel angelangt, angesichts der kunstvollen Durchführung der Themen: Korso in der Chiaja. Das Liebesthema blitzt auf: die Liebenden aus der verflossenen Nacht haben einander in kurzer verstohlener Begegnung einen flammenden Blick des Einverständnisses zugeworfen. Dann wieder toller und tollster Wirbel, immer gesteigert bis zum Ende. Goldmarks italienische Ouvertüre erreicht an Kraft und Originalität gewiß nicht Berlioz’ »Römischen Karneval«. Ob aber Berlioz mit 72 Jahren ein Werk von so sprühendem Leben, von so erstaunlicher Frische hätte schaffen können? Die Ouverture ist glänzend instrumentiert und zeigt in jedem Takte die Hand eines Meisters, der seinen eigenen Ton hat. Die Aufnahme bedeutete einen Triumph für den anwesenden Komponisten. Er dankte mehrmals aus der Direktionsloge herab; aber der rauschende Beifall holte ihn auf das Podium hinunter. Gespielt wurde die Novität mit der vollen Virtuosität der Philharmoniker. Ernst v. Schuch, zum drittenmal unser Gast und ein immer willkommener, lief sich förmlich heiß an dem Werke. – J.K.