Öldrucke, wo Holzschnitte sein sollten

Theater und Kunst.
Götz von Berlichingen.

»Szenen ans Götz von Berlichingen« und »Die Geschichte Gottfriedens von Berlichingen« – die beiden Titel sprechen beredt, künden die Verlegenheit ihrer Schöpfer. Und schon in den Titeln liegt die eingestandene Unmöglichkeit, ans dem Götz-Stoff ein theaterwirksames, schlagkräftiges Bühnenstück zu schweißen. Was übrigens Goethe gewiß am klarsten erkannt hat; »meinem Sohn ist es nicht im Traum eingefallen, seinen Götz für die Bühne zu schreiben«, heißt es in einem Briefe der Frau Rat. Die späteren Umarbeitungen, die Goethe selbst vornahm, die ihn bis in sein höchstes Alter beschäftigten, sind sicher erst durch den einmal errungenen Theatererfolg zu erklären. Und wobei nicht zu vergessen ist, daß es sehr wohl Buchdramen geben kann (und die schönsten, erhabensten der deutschen Sprache gehören zu dieser, mit Unrecht gescholtenen Gattung), schwerlich aber Partituropern. Ist doch die seltsame Gattung der Oper trotz scheinbarer Unbeschränktheit des Stoffgebietes viel mehr an Regeln gekettet als das gesprochene Drama. Milieuschilderung, gedankliche Schönheiten, Überzeugungskonflikte – gerade die Hauptvorzüge des wundervollen Goetheschen Werkes – sind ausgeschlossen aus dem bloß sinnlichen Bereich der Oper. So fehlt das meisterliche Zeitkolorit des Götz-Dramas in einer Götz-Oper – muß fehlen, denn die Musik ist, von ganz geringfügigen Episoden abgesehen, nur geographischer, nicht historischer Differenzierungen fähig. Und gerade darin liegt ihre ewige Schönheit …

Betrachten wir also Herrn Willners »Szenen«: mit Ausnahme einer einzigen, der Heilbronner Gerichtsszene, muß man ihnen wenigstens zugestehen, daß sie nicht musikwidrige Stoffe bieten – ganz im Gegenteil, bricht eine gewisse gutbürgerliche Theatralik ziemlich unverhüllt hervor. Von logischer Verbindung, verständlichem Aufbau ist keine Rede, was freilich ein unbilliges Verlangen wäre für einen Bearbeiter der dialogisierten Götz-Historie. Unverhohlen laufen die beiden Handlungen, Götz und Adelheid, nebeneinander, kaum ist der Versuch einer engeren Verkettung gemacht; auf eine Götz-Szene folgt ein Adelheid-Auftritt. Was aber das Schlimmste ist: ein Verständnis der Dichtung ohne Kenntnis des Goetheschen Werkes, auf die bloßen szenischen Vorgänge hin, wäre völlig undenkbar. So wirkt das Ganze etwa wie eine bunte Bilderreihe aus Goethes Götz; aber es sind Öldrucke, wo Holzschnitte, sein sollten… Und in der Sprache ein bürgerliches, mit einigen Phrasen aufgedonnertes Librettistendeutsch für Goethes pfundschwere Prosa. Ein besonders häufig angewandtes Mittel dieser Sprache liegt in der Nennung der Personennamen; Franz sagt das auch in seinem urkomischen »Poem«: »O, wie beseligst du mich ganz, nennst du mich einmal deinen Franz!“ Worauf ihn Adelheid in einer Szene vierzehnmal mit solchen Namensaufrufen beseligt, doch man lasse die Poesie ganz der Musik gehorsame Tochter sein.

Goldmarks Musik, das ist der Gewinn der neuen Oper, und ein nicht gering zu veranschlagender. Der Meister braucht nicht nach Verlegenheitsbezeichnungen aus zuschauen, konnte sein Werk getrost »Oper« nennen. Die echte Goldmark-Oper, die die spezifischen Eigentümlichkeiten ihres Schöpfers so deutlich auf weist wie jede Komposition, die aus der Werkstatt des Meisters herausfindet. Einfache Rezitation – man beachte übrigens auch die Vorzüge von Goldmarks Rezitativ gegenüber dem modernen Komponisten – im Wechsel mit dem Arioso, sparsam unterbrochen von Chören und Ensemblestellen. Und was sonst noch zu einer rechten Goldmark-Oper gehört, findet sich auch im Götz: die aufsteigende oder niederprasselnde Geigenpassage, die Synkope, die Triole; und das Orchester, das in üppigster Schönheit, reichster Nuancierung und berauschendster Klangfülle schwelgt. Immer aufs neue überrascht ein geistreiches Detail, das doch nie um des bloßen Effektes willen erscheint, stets unaufdringlicher Charakteristik dient. Die Blechbläser sind in imposanter Stärke vertreten; und doch stört nichts das Ohr, bleibt immer der Singstimme ihr oberstes Recht gewahrt. Weil Goldmark nämlich überhaupt noch singen läßt …

Goldmark schickt der Oper eine längere Ouvertüre voran; sie ist dem Ritter mit der eisernen Faust gewidmet, nicht Adelheid, verwendet hauptsächlich Motive aus den Berlichingen-Szenen. So herrscht ein gedrungener, trotziger Ton vor, nur zweimal mahnt ein zartes Geigenmotiv an die verführerische Frau. Das prunkvoll instrumentierte Stück endigt mit einer ungewöhnlich lang vorbereiteten Stretta, ist mit seiner Blechbläserparade am Schluß der Wirkung sicher. Ein leicht bewegtes B-Dur-Motiv, das dann blitzschnell nach D-Dur geht, malt Götzens behagliche Häuslichkeit. Es folgt eine kurze Liebesszene Maria-Weislingen, in die Georg das bekannte Goethesche Liedchen einstreut, ein pikant rhythmisiertes, pizzicato begleitetes Stückchen. Marias inniger Fis-Moll-Gesang ist nicht zu übersehen, das einzige Hervortreten dieser liebenswürdigen Gestalt. Ein schwer wuchtendes Thema kündigt Götz an; in einer längeren Erzählung versenkt er sich in die Tage der Jugend, erinnert sich mit einem freundlichen Terzenmotiv in C-Dur an die Freundschaft mit Weislingen. Ein scharf punktiertes Thema, wie mit schweren Reiterstiefeln stapfend, besorgt die Tafelmusik. Franz, Weislingens Bube, kommt an auf Jaxthausen; voran eilt ihm Adelheids Verführungsmotiv, die wichtigste Erinnerungsmelodie der Oper: eine überaus glücklich und charakteristisch erfundene Phrase, die sich schlängelnde Triole, der Aufschwung in die Oktave, die lange Haltung, die pianissimo Paukenschläge wie das Pochen des aufgeregten Herzens. Sie bestreitet auch die Schilderung von Adelheids Reizen, die der betörte Bube entwirft und die dann in ein aufgeregtes Es-Dur-Thema mündet. Ein klangschönes langsames Oktett schließt den Akt.

Der dritte Akt – wir folgen der Einteilung des Klavierauszuges – bedeutet den Höhepunkt der neuen Oper; zwei ganz verschiedene Szenen treffen sich da in der Genialität der Erfindung, der Prägnanz des Ausdruckes. Schon dieser dritte Akt genügte, dem Götz dauernd eine Stelle zu sichern in der Opernliteratur … Ein Staccato-Thema der Streicher eröffnet ihn, sich kontrapunktisch zu gewaltiger Steigerung auftürmend. Dann ist die erste Hälfte des Aktes fast nur ein großes Solo des Götz, die »scène à faire« der Oper. Ein wühlender B-Moll-Satz führt über das Terzenmotiv des ersten Aktes zu einem kühn rhythmisierten F-Dur-Thema – Götz in der Erniedrigung – das noch einmal in der Oper auftaucht. Wundervoll ist dann der Übergang dargestellt von der lodernden Wut zu abgeklärter Milde und Weichheit. Die Eis-Moll-Episode Marias erscheint, sanfter Wohllaut strahlt aus dem Orchester; ein ganz entzückend erfundenes G-Dur-Sätzchen, die Triole nützend, schließt sich an und mündet in ein breit ausladendes Geigensolo, das in lichte Höhen emporführt. Es liegt Goldmarksche Milde über dieser Szene, die Milde des Greises … Die Kraft des Jünglings spricht aus dem folgenden Auftritt; hier kann der Dramatiker alle Minen springen lassen und da bricht auch Goldmarks Theaterblut stürmisch hervor – es ist ein Stückchen Arabien im mittelalterlichen Deutschland. Adelheids graziöses Liedchen will erwähnt sein; wieder züngelt die Triole ihres Motives, stets verändert in der Klangfarbe, lockend, schmeichelnd, begehrend. Ein langsames Arioso »,Dann gute Nacht, ihr reizend holden Stunden« darf ebensowenig übersehen sein wie das kanonisch gebaute Duett.

Eine finstere, dissonanzenreiche Einleitung malt die Schrecken des Bauernkrieges. Sonst ist diese Szene überhaupt für opernhafte Behandlung wohl nicht geeignet, verliert durch Opernchöre viel von ihrer Größe und Gewalt. Ein düsteres Nachtbild auch die folgende Szene; das heimliche Gericht. Chromatische Schauer, offene Quinten; ein rasender Gewittersturm folgt, der rechte Tummelplatz für Goldmarks chromatische Gänge. Dann brechen wie sanfte Mondstrahlen aus finsterem Gewölk langgehaltene Akkorde hervor, ruhiges E-Dur leitet Adelheids großen Monolog ein. Ein wundervoller Ges-Dur-Satz fällt auf in dem reichen melodischen Bau der Szene, Reminiszenzen an das Liebesduett folgen; mit atembeklemmender Schärfe ist Adelheids Grauen vor dem Fehmrichter gekennzeichnet, die Tat des Henkers wird zum Glück musikalisch gemildert. Das Nachspiel verwendet wieder das Motiv der Fehme und leitet dann in ein sanftes idyllisches Bild, »Götzens Sterben«, über; hier ist mit Glück Goethe beibehalten und kongenial schwingt sich der große Musiker neben den großen Dichter. Ein inniger Es-Moll-Satz, der dann in Fis-Moll erscheint, erfreut und erwärmt, die Deklamation ist von rührendem Ausdruck. Mit einer aufsteigendenTremoloreihe schwingt sich Götzens Seele empor zur Freiheit und himmlischen Lust. Und herrlich verklärend setzt der G-Dur Gedanke aus dem dritten Akt ein, der die Oper in edelster Schönheit schließt. Schon ist der Bericht stattlich angeschwollen und noch ließe sich viel über den Götz reden. Und doch wird immer ein Kern ungelöst bleiben, wie bei jedem Musiker von Gottes Gnaden – der göttliche Funken des Genies. Im »Götz von Berlichingen« heißt es einmal: »Es ist eine Wollust, einen großen Mann zu sehen«. Es ist aber auch eine Wollust ihn zu hören. Fritz Petschau.
(Sport & Salon vom 28. Mai 1910)