Aus dem Orchester klingt und singt es

Feuilleton.
(Nachdruck verboten.)
Karl Goldmark und sein »Götz von Berlichingen«.

Karl Goldmark hat vorige Woche – von allen Seiten geehrt und gefeiert – seinen achtzigsten Geburtstag begangen. Nicht als ein müder Mann, der gewissermaßen seinen eigenen Nachruhm erlebt, sondern rüstig und tatenlustig inmitten rastlosen künstlerischen Schaffens. Eine Reihe Lieder, Klavierstücke, eine Konzertouvertüre ruhen, bereits fertiggestellt, in seiner Schreibtischlade und auch als Opernkomponist hat er mit dem »Wintermärchen« noch nicht das letzte Wort gesprochen. Besser als ihn seine Freunde und Verehrer feiern können, ehrt er sich selbst durch die ihm innewohnende Kraft, die vom Aelterwerden nichts wissen will und stets bereit ist, den erworbenen Ruhm durch frisches Schaffen zu verteidigt. Goldmark hat lange gelebt, aber noch hat er keine Zeit gehabt, alt zu werden. Auch das liebe, freundliche Antlitz mit den hellen, blitzenden Augen des genialen Mannes läßt nichts von achtzig Jahren erkennen und verrät nichts von dem harten Kämpferleben des später so Gefeierten.

Es ist etwas anderes, ob man einen Komponisten erst in reiferen Jahren kennen und verehren lernt oder ob dies in der Jugend geschieht. Das eine gleicht dem ruhigen Glück einer harmonischen Ehe, das andere ist wie der Sturm der ersten Liebe, deren Gegenstand uns durch die Erinnerung an diese Zeit für das ganze Leben in verklärtem Lichte erscheint. Karl Goldmark ist eine solche musikalische Jugendliebe von mir, und deshalb habe ich jedes seiner Werke, das ich neu kennen lernte, mit einer fast zärtlichen Empfindung in mich aufgenommen. Als halbwüchsiger Junge wohnte ich der Premiere der »Königin von Saba« – natürlich von der vierten Galerie aus – bei. Glänzend aufgeführt (Königin-Materna, Sulamith-Wilt, König Salomo-Beck, Hohepriester-Rokitansky, Assad-Walter), versetzte mich die Oper in einen förmlichen Paroxysmus des Entzückens. Nach der Vorstellung irrte ich in meinem Begeisterungsrausch eine Stunde lang in den Straßen herum und ging dann – stärker kann sich der Enthusiasmus eines Vierzehnjährigen nicht äußern! – zu Bette, ohne einen Bissen gegessen zu haben.

Seit jener Zeit ist mir der Name Goldmark teuer geblieben und die Liebe und Verehrung für ihn hat sich mit der zunehmenden Erkenntnis seiner Meisterschaft nur gesteigert.

Keszthely nennt sich der Geburtsort Goldmarks. Ich kenne mich aus dem ungarischen Globus nicht so genau aus, um die Gegend näher bestimmen zu können. Aber eine Gegend muß es sein, wo man es singen und klingen läßt! In Goldmarks Elternhaus gab es wohl auch sonst genug Leben; einundzwanzig Kinder waren da, er selbst in der Reihe der achtzehnte. 1847 kam er nach Wien ins Konservatorium, das aber im Jahre darauf wegen der politischen Unruhen gesperrt wurde. Von da an war er Autodidakt, und man muß anerkennen, daß er bei sich was Rechtes gelernt hat. Nachdem Goldmark schon eine größere Anzahl von Liedern und Klavierstücken veröffentlicht hatte, lenkte die Ausführung der in glühendster Farbenpracht leuchtenden »Sakuntala«-Ouvertüre bei den Philharmonikern die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf den jungen Musiker. Mosenthal verstand sich dazu, ihm ein Opernbuch zu schreiben. Aber fast ein Jahrzehnt verging, ehe dieses Werk das Licht der Rampe erblickte. Es war »Die Königin von Saba«, die 1876 in der Hofoper ihre sensationelle Erstaufführung erlebte. Noch heute zuckt es wehmütig um den Mund des Komponisten, wenn er von den Kabalen und Intrigen erzählt, welche die Ausführung seiner ersten Oper, von deren Erfolg er felsenfest überzeugt war, zu vereiteln suchten. In verhältnismäßig späten Jahren, aber nun doch mit einem Schlage war Goldmark berühmt. Sorgenfrei konnte er jetzt weiterschaffen. Er bewährte sich auf den verschiedensten Gebieten der Komposition in gleicher Weise als hervorragender Meister. Elf Jahre nach der »Königin von Saba« brachte Goldmark erst seine zweite Oper »Merlin«. Er hat nicht träge ans seinen ersten Lorbeern geruht; jedoch eine gewisse Bedachtsamkeit des Arbeitens, die rigoroseste Selbstkritik hemmten den Fluß seiner Feder. Mit einem tiefen Ernst, den kein Takt des Werkes verkennen läßt, ist der Komponist hier auf seinen Gegenstand eingegangen. Das Fremdländische ist aus seiner Musik gewichen, sie hat sich zu einem einheitlichen deutschen Charakter erhoben. Zugleich ist er in der Form, in der Bewältigung großer Massen bedeutend gewachsen und sein Orchester hat er zu einem Werkzeug ausgebildet, das jedem Druck der Hand, jeder starken und zarten Empfindung zu Willen steht. Seine Instrumentation in »Merlin« ist voll Farbe und die jedesmalige Wahl der Farbe bekundet eine Meisterhand.

Im Jahre 1896 erschien seine reizende, poesieumflossene Märchenoper »Das Heimchen am Herd«, zwei Jahre darauf die an Schönheiten reiche »Kriegsgefangene«, 1902 vollendete er den »Götz von Berlichingen« und vor zwei Jahren ging »Das Wintermärchen« in Szene. Die Wiener Hofoper war die Wiege sämtlicher dramatischer Schöpfungen Goldmarks, mit Ausnahme des »Götz«. Sie haben sich gegenseitig Ruhm und Ehre eingebracht.

Gustav Mahler war nicht dazu zu bewegen, den »Götz« auszuführen; er konnte sich über die Verballhornung des Goetheschen Dramas, welche das Textbuch von Willner involviert, nicht hinwegsetzen. Und in der Tat ist das auch keine leichte Aufgabe. Der Librettist hat das kraftstrotzende Jugendwerk des Olympiers wie einen Klumpen Goldes in Stücke zerschlagen, um kleinen Operntand daraus zu machen. In der textlichen Verdichtung des Originals zu einem losen Gefüge von neun Bildern ist jeder dramatische, fast aller logische Zusammenhang verlorengegangen, die herrliche Gestalt des Götz selbst ist platt- und flachgedrückt, jeder Größe entkleidet und die prächtigen Charakterfiguren des Stückes erscheinen zu Episodenmarionetten verwässert. Da hilft es denn sehr wenig, daß der Librettist sich durch die Bezeichnung »Szenen« aus »Götz von Berlichingen« von jeder Verantwortung freimachen will. Wir fordern keine Klassifikation, wir fordern Inhalt und Wert.

Die einzige wirkliche Gestalt des Willnerschen Buches ist Adelheid; diese hätte auch der Oper ihren Namen geben sollen. Ihrer hat sich der Komponist mit ganz besonderer Liebe angenommen und sie mit bewundernswerter Schärfe gezeichnet. Ueberhaupt zeigt Goldmarks»Götz« innerhalb des streng gewahrten Rahmens einer festen Individualität doch auch das Streben nach neuen Wegen, nach einer dem Stoffe entsprechenden Charakteristik der musikalischen Gestaltung. Man hat manchmal die Empfindung einer gewissen biederen Geradlinigkeit der Musik, einer edlen Naivität, die in ihren Quellen direkt auf die rhythmischen Elemente des deutschen Volksliedes zurückgeht. Alles trägt den Stempel hohen künstlerischen Ernstes, formellen und inhaltlichen Adels und sichert dem Meister verehrungsvolle Bewunderung auch dort, wo sie nicht zugleich jene warme Liebe weckt, die ihm sonst willig und reichlich entgegengebracht wird. Aus dem Orchester klingt und singt es aber überall, daß man seine Freude hat; dabei ist das prachtvolle Farbenspiel der glanzvoll schimmernden Instrumentation niemals Selbstzweck, sondern stets aus der Situation heraus geboren. Und diese Feinheit der künstlerischen Arbeit, diese natürliche Harmonik, deren schneidendste Dissonanzen musikalischer Logik entspringen und nie in Kakophonie ausarten! Ein prächtiges, breit angelegtes Musikstück ist die Ouvertüre mit ihrem feurig gesteigerten Schluß. Es folgt eine fein untermalte Szene zwischen Weislingen und Maria, welche durch ihre hingebungsvolle Sentimentalität und auch in der zart abgetönten musikalischen Illustration wie eine Halbschwester der »Briseïs« anmutet. Ein markiges Thema meldet das Auftreten Götzens. Beim Erscheinen des Knappen Franz weht es wie ein heißer Atem vom Libanon auf die Szene. Seine Schilderung der Schönheit Adelheids, ein Seitenstück zu der Erzählung Assads, ist umzuckt von dem sinnlich glühenden Wetterleuchten aus der »Saba«. Die berühmte Goldmarksche Verführungstriole äußert auch hier ihren berückenden Zauber. Ueberaus wirkungsvoll findet die Szene auf Jaxthausen mit dem klangschönen Oktett ihren Abschluß. Sehr hübsch ist das im Volkstone gehaltene Strophenlied des Franz und durch die graziöse Musik der kleinen Pantomime der Pagen geht ein Zug freundlichen Humors. Reizend erfunden ist auch das liebliche B-dur-Andante Adelheids (»Zwei Blüten am Baume des Lebens«), die dann später im Einleitungsteile ihres letzten Monologs einen Gesang von überraschender Zartheit und Innigkeit erklingen läßt. Die Urteilsszene der Femrichter ist bei aller Charakteristik sehr maßvoll illustriert. Hier mildert die Musik die Schauer des Bühnenvorganges. Die Höhepunkte der Oper bilden aber die Szene zwischen Adelheid und Franz, ein wundervolles, prachtvoll aufgebautes und gesteigertes Stück von schönem melodischen Fluß, starkem rhythmischen Schwung und glühender Erotik des Ausdruckes, und die ergreifende Klage Götzens um Marias verlorenes Liebesglück. Warm und voll strömt dieser Sang und verbreitet den unwiderstehlichen Zauber des Erlebten. Das ist Musik, echte Musik, die empfunden, und nicht bloß erfunden ist. An die Aufführung des »Götz« wurde in der Hofoper viel hingebungsvolle Sorgfalt verwendet. Frau Weidt führte die Partie der Adelheid mit überraschender Meisterschaft durch. Sie schließt zwei Personen in sich: eine Sängerin und eine Schauspielerin, und damit ist man eine ganze dramatische Sängerin. Herr Weidemann versuchte den Götz von Willners Gnaden durch ritterliche Haltung ins Goethesche zurückzuübersetzen und sang seine beiden Monologe mit überzeugender Wärme und poetischer Empfindung. Schade, daß er sonst zu sehr forciert. Auch der sympathische Franz des stimmbegabten Herrn Leuer kam, wenn er feurig wurde, manchmal ins Schreien. Ein liebes Kerlchen war der Georg der Frau Kiurina; nur klingt ihre hübsche Stimme zu kindlich für den tapferen Jungen. Den Weislingen gab Herr Brand. Auch einem reiferen Künstler als diesem überaus begabten Anfänger würde es nicht gelingen, die puppenhafte Figur irgendwie interessant zu gestalten. In kleineren Partien leisteten die Damen Windhäuser und Kittel sowie die Herren Mayr, Corvinus, Haydter und Stehmann durchaus Anerkennenswertes. Ganz ausgezeichnet klangen die Chöre und das Orchester entwickelte unter Weingartners Leitung einen unvergleichlichen Glanz. Rich. Robert
(Wiener Sonn- und Montagszeitung vom 23. Mai 1910)