Ein beruhigendes und versöhnendes warmes Dämmerlicht

Hofoperntheater.
»Goetz von Berlichingen«, Oper in drei Akten von A. W. Willner (frei nach Goethe), Musik von Karl Goldmark

Goldmarks »Götz« muß es sich gefallen lassen, ein problematisches Kunstwerk genannt zu werden. Poesie und Musik, welche die Probleme der Kunst und des Lebens lösen sollen, zeigten sich ihrer Sendung hier um so weniger gewachsen, als es schon Goethe, dem Urdichter des »Götz«, nicht geglückt war, die »Geschichte Gottfriedens von Berlichingen« zum Drama zusammenzufassen. Er füllte, wie Lessing hart, aber gerecht sagte, Därme mit Sand und verkaufte sie für Stricke, brachte den Lebenslauf eines Mannes in Dialoge und schrie das Ding für ein Drama aus.

Nach Goethe auf die alte Autobiographie des ehrenfesten Ritters zurückgreifen und das operngerechte Buch eines neuen »Götz« daraus formen wollte Willner, der Librettist Goldmarks, begreiflicherweise nicht. Ein straffes Szenarium aus dem dreimal bearbeiteten Stoffe konstruieren aber konnte er trotz aller möglichen Um- und Unterstellungen nicht. Hier wie dort trat dem Librettisten der Dichter störend in den Weg. Willner und Goethe wurden schließlich wort- und handgemein; sie gerieten so hart aneinander, daß Unkundige ihre Versfüße verwechselten, daß untergeschobene Schuldgericht Adelheids für Goethe, die echten Versus memoriales Franzens für Willner hielten. Schmeichelhafteres mag sich ein Librettist kaum wünschen. Wir aber würden Willner seine zierlichen Reime schenken, wenn er, anstatt dein Lyriker mit artigen Einschiebseln gefällig zu sein, sich den Dramatiker ernstlicher verpflichtet hätte. Von den vielen notwendigen Szenen des Stückes konnte er nur wenige für seine Zwecke gebrauchen, und doch vermehrte er sie um eine unnötige, die gänzlich aus dem Geiste der Dichtung herausfällt. Die »seidenen Buben« des Bamberger Bischofshofes, die Georg bei Goethe in seinem Bericht erwähnt, entfalteten sich in Willners üppiger Phantasie zu einer ganzen Pagerie von drallen Trikotschönen. Daß die allerliebsten Racker bei den chorisch wie harmonisch ziemlich gewagten Exerzitien dem Publikum ostentativ den Rücken kehren, soll gewiß keine Anspielung auf das von Literaturkennern der Oper schmerzlich vermißte Götzzitat sein.

Das Schauspiel Goethes zu einem rechtschaffenen Opernbuche umzugestalten ist dem Librettisten nicht gelungen, konnte ihm nicht gelingen. Ueber den Zwiespalt der mit einer Unmenge von kleinen Nebenhandlungen lose verknüpften beiden Hauptaktionen kam er nicht hinweg. Götzens Streit mit den inneren Feinden des Reiches und Weislingens Treubruch, Liebe und Untergang, die eigentlich nichts miteinander zu schaffen haben, lassen sich nicht voneinander trennen. Das Männerdrama, schon in Adelheids fesselnder Erscheinung zum Intrigenstück abschweifend, geht vollends zur Weiberoper über, wenn die verführerische Buhlerin mit der Hauptszene das letzte Wort behält. Das »Ewig-Weibliche« des Goetheschen Theaters wird für den Dichter verhängnisvoll, sobald ihm die Musik zu Hilfe kommt. Margarete drängte den Faust, Mignon den Wilhelm Meister, Adelheid den Götz in den Hintergrund. Für die Titularansprüche des Ritters mit der eisernen Hand tritt bei Goldmark vor allem das ergreifende Bild ein, welches uns Götz im Walde zeigt, wie er, von Weislingens Abfall unterrichtet, den schönsten Sieg seines streitlustigen Lebens, den über sich selbst, erringt, wie er sich seiner Wut schämt, die er an Unschuldigen auslassen wollte, wie er der betrogenen Schwester Maria gedenkt, die nun keinen Brautschmuck mehr braucht, und dem jungen Kaufherrn resigniert die goldene Kette mit einem Gruß übersendet. Hier, aber auch hier allein, kommt der Musiker als wahrer Herzenskündiger dem Goetheschen Vorbilde nahe. Er brauchte mehr derartige Stellen, um uns den »Götz« vergessen zu machen, der ihm seine besten Veranstaltungen durchkreuzt!

Aber wollte er das? Konnte er das wollen? Sind diese mit melodischen Einfällen und harmonischen Ueberraschungen gesegneten orchestralen Vor- und Zwischenspiele, diese warm zum Herzen sprechenden Liedsätze, diese mächtig gesteigerten Ensembles und Chöre, dieses bunte, mit zurückleitenden und vorbereitenden Motiven sinnig durchwobene, an scharf umwirkten Gestalten reiche Gespinst von Tönen, das bald im Seidenglanze eines orientalischen Teppichs aufleuchtet, bald zu den vornehm ruhigen Farben eines alten Gobelins sich abdämpfend von verschollenen Zeiten zu uns redet, sind all diese Zeichen und Mittel hoher Kunst nur dazu in Bewegung gesetzt worden, um an einer höheren zu scheitern? Gewiß nicht. Beim Beschauen und Anhören der fein kolorierten »Szenen aus Götz von Berlichingen« sollen wir uns wie bei einem andern von Künstlerhand entworfenen, liebevoll ausgeführten Illustrationswerke an das herrliche Schauspiel des jungen Goethe erinnern, das uns mit der Jugend des größten deutschen Dichters unsre eigene, von Sturm und Drang befreit, zurückbringt. Lebhaft wieder empfinden sollen wir für den »edelsten Deutschen, den braven Mann«, dessen Andenken der einundzwanzigjährige Goethe geweckt hat, damit wir das herrliche Werk des Jünglings milder beurteilen, als der zum Klassiker herangereifte Altmeister, so milde wie der von ihm begeisterte und erwärmte Musiker, der es uns in seinem Sinne, nach seiner Art und zu seiner Freude erneuerte.

Neben dem jungen Goethe steht der alte Goldmark, und wir lernen beide von neuem lieben in ihrem »Götz«. Das lückenhafte Kunstwerk, das weder als Drama noch als Oper besteht, vollendete sich im schöpferischen Eifer der mitwirkenden Künstler, und das Problem wurde von der Liebe der Zuhörer gelöst. Ein beruhigendes und versöhnendes warmes Dämmerlicht schien über die Szenen der Oper hingegossen, und ein eigener, fast mystischer Zauber ging von ihnen aus, der die Empfindung eines wunderbaren, von der Logik und Folgerichtigkeit losgebundenen Traumes hervorrief. Weingartner hatte die Partitur mit seinem Stabe berührt. Max Kalbeck.
(Neues Wiener Tagblatt vom 21. Mai 1910)