… großen deutschen Vorbildern Gefolgschaft geleistet

Szenen aus Götz von Berlichingen.
Oper in fünf Akten (neun Bildern) von Karl Goldmark. Text (frei nach Goethe) von A. M. Willner.

(Zum erstenmal aufgeführt in der Hofoper am 18. Mai 1910.)

Was sich Italiener und Franzosen durch Verballhornung der Dramen der deutschen Dichterfürsten Schiller und Goethe zu Opernbüchern an den beiden Olympiern in schrankenloser Kühnheit versündigt haben, das suchten bisher die Deutschen dadurch zu sühnen, daß sie in heiliger Scheu vor der Größe der Werke und ihrer Schöpfer nicht an die Dichtungen herantraten, um sie zu neuen Zwecken auszunützen. Selbst gewaltige deutsche Meister des Tones, ebenbürtig den Heroen der Dichtkunst, Meister, die imstande gewesen wären, der herrlichen Sprache, den wundervollen Gedanken und den großartigen dramatischen Vorgängen ein gleichwertiges kostbares Klanggewand anzulegen, haben es nicht gewagt. Beethoven hat eine Schauspielmusik zu »Egmont« geschrieben, mehr nicht. Schumann vertonte einige Szenen aus »Faust«, eine Oper »Faust« zu schaffen, lag ihm jedoch ferne und der einzige, der es vermocht hätte, den »Faust« zu einem Musikdrama zu gestalten, Richard Wagner, er ließ es bei einer »Faust«-Ouvertüre bewenden.

Wie ein sorgfältig gehüteter Tempelschatz ruhten die Bühnenwerke Schillers und Goethes und weder deutsche Komponisten noch Librettisten getrauten sich, danach die Hände auszustrecken. Da drang plötzlich vor einigen Jahren ein Wiener Schriftsteller, der früher Ballettpoeme geschrieben hat und gegenwärtig aus Bahnen wandelt, auf welchen Grafen von Luxenburg [!], schöne Gardisten und von Zigeunerliebe singende Pußtasöhne schreiten, in das Heiligtum und plünderte. Mit keckem Griffe bemächtigte er sich des Kleinodes »Götz von Berlichingen«, das wie eine herrliche Nürnberger Goldschmiedearbeit in reicher Gliederung den deutschen Kunstschrein ziert. Mit keckem Griffe zerstückelte er die Kette und schweißte sie, vieles Prächtige weglassend, mit eigenen Formen zu einem neuen Gebilde zusammen. A. M. Willner ist der Kühne, der seinen mit Sperlingsflügeln behafteten Dichtergaul dem stolzen, goldene Adlerfittiche breitenden Pegasus Goethes zuzugesellen wagte. Vor acht Jahren schrieb Willner sein Libretto »Szenen aus Götz von Berlichingen« für Karl Goldmark. Zweifellos durch die glutvolle Gestalt der Adelheid angeregt, deren buhlerisches Getriebe, deren Verbrechen und dessen grausige Sühne zu musikalischer Illustrierung reizt, hat sich Goldmark bestimmt gefühlt, an Goethes Werk heranzutreten. Götz selbst, der im Schauspiele wohl als historische Hauptfigur erscheint, aber streng nach dramatischen Gesetzen gemessen, in der Handlung eigentlich nur episodistisch verwertet ist, dürfte ihn kaum zur Komposition bewogen haben. Um diesen herrlichen Mann voll Mark und Lauterkeit übrigens musikalisch vollwertig zu charakterisieren, dazu hätte eine deutsche, eine eiserne Hand gehört und nicht die eines Tondichters, der am besten von den Zedern des Libanon, vom salomonischen Tempel oder den indischen Märchen des Kalidasa zu singen versteht.

Das Buch hat Willner möglichst getreu nach der Bühneneinrichtung des »Götz von Berlichingen« gehalten. Aus der Fülle der losen Szenen mußte er Zusammenziehungen und Umgestaltungen vornehmen, um ein festes Gefüge zu erzielen und dennoch hat er fünf Akte (neun Bilder) gebraucht, um den Stoff in die Opernform zu pressen. Der gewählte Titel »Szenen aus Götz von Berlichingen« soll das Fragmentarische des Librettos, wie auch das Fehlen mancher wichtigen Szene des Originales entschuldigen. Unentschuldigt bleiben aber mehrere Hinzudichtungen Willners, die nicht notwendig gewesen wären. Der erste Akt der Oper spielt in Götzens Schloß Jaxthausen, wo der gefangene Weislingen um Maria freit und von seinem Knappen Franz nach Bamberg abberufen wird, während Götz vor das Gericht nach Hei[l]bronn gefordert wird. Der zweite Akt bringt die Heilbronner Gerichtsszene, dann die Bischofsresidenz zu Bamberg mit Adelheid von Waldorf’s Sieg über Weislingen. Was Georg im Originale Götz über seine Botschaft an Weislingen und von den »seidenen Buben« im Vorsaale des bischöflichen Palastes erzählt, hat Willner hier zum szenischen Vorgänge gemacht. Georgs Erscheinen mag hingehen, die Hineindichtung und übermäßige Ausdehnung der Pagenszenen, wovon die stumme Unterrichtsepisode durch den Pagenmeister in die Sphäre des Ballettes übergreift, ist zu verurteilen. Durch diesen unnötigen Aufenthalt fehlt es dem Librettisten später an Zeit für Wichtigeres. Der dritte Akt enthält die Gefangennahme der Nürnberger Kaufleute, Georgs Kunde von Weislingens Treubruch an Maria und Götzens edle Handlung an dem jungen Nürnberger, der zu seiner Braut zieht. Die zweite Abteilung spielt am kaiserlichen Hofe zu Augsburg. Adelheid gewinnt Franz beim Mummenschanz zur Ausführung des Giftmordes an Weislingen. Im vierten Akte findet sich die Unterhandlung der aufrührerischen Bauern mit Götz. Hier hat sich Willner Goethe gegenüber die Freiheit gestattet, Georg auf der Szene sterben zu lassen. Der fünfte Akt besteht aus drei Bildern. Das erste bietet die Femgerichtsszene. Wieder ein unnötiger Aufenthalt. Laube hat seinerzeit bei den Aufführungen des »Götz« im Wiener Stadttheater diese Szene gestrichen, indem er von der richtigen Anschauung ausging, daß das Erscheinen des Rächers mit Dolch und Strang bei Adelheid sogar einem Nichtkenner des Goetheschen Werkes einleuchtend genug sein müsse, daß die Feme einen erfolgten Richtspruch vollziehe. Willner hat dafür unbegreiflicher- und unverzeihlicherweise einen der schönsten und ergreifendsten Momente des Werkes: Weislingens Tod im Beisein der verzeihenden Maria und Franzens Reue und Selbstsühne, gestrichen. Unbegreiflich erscheint es auch, daß nicht der Komponist auf die Beibehaltung dieser hochwichtigen Szenen gedrungen hat, denn gerade sie hätten eine reiche Entfaltung der musikalischen Ausdrucksmittel zugelassen, während das Gericht der Feme hiezu keinen besonderen Anlaß bietet. Das zweite Bild bringt die Hauptszene des ganzen Werkes, Adelheids Erwartung Franzens, die Ankunft des Rächers, ihre Verzweiflung und ihr Ende. Das dritte und letzte Bild schildert das Sterben des Götz im Gärtlein am Turm.

Goldmark, der als Zweiundsiebzigjähriger den »Götz« komponierte, hat sich mit Eifer bemüht, seiner Musik ein deutsches Gepräge zu verleihen und es ist ihm insoferne auch gelungen, als er großen deutschen Vorbildern Gefolgschaft geleistet hat. Die große Beseelung, die markige Kraft aber, die nur aus deutschem Gemüte und Geiste sprießen können, fehlen ihm. Darüber hilft ihm seine Routine, die unleugbar die eines Meisters ist, hinweg. Was andere mit mühevoller Klügelei zustande bringen, das ist ihm anscheinend ein Leichtes. Seine Musik kündet den Fluß dahinströmender Gedanken, die durch kein Hemmnis aufgehalten werden. Seine Musik ist überhaupt noch Musik, fern von allen modernen Einflüssen. Kein wüstes Schreien auf der Bühne, keine Tonexzesse im Orchester, sondern ein ruhiges Maßhalten in allem und jedem. Und daß er noch die Kühnheit besitzt, Ensemblesätze und ein regelrechtes Duett zu schreiben, ist ihm in unserer heutigen Musiköde, die jeden mehrstimmigen Gesang »veralteter« Form verpönt, hoch anzurechnen. Das letzte Werk Goldmarks, das »Wintermärchen«, steht unzweifelhaft über seinem »Götz«, und mit »Merlin« oder der »Königin von Saba« kann er in keinen Vergleich kommen. Wie denn überhaupt das Phantastische, von einem orientalischen Hauch Durchwehte die künstlerische Domäne Goldmarks ist und bleibt. Es ist mir leider kein Klavierauszug des »Götz« zu Gebote gestanden und ich kann daher nichts Eingehenderes über das Werk schreiben. Der Eindruck des Ganzen ist ein befriedigender und Einzelnes ragt in besonderer Schönheit daraus hervor. Erwähnenswert in dieser Beziehung ist in erster Linie der stimmungsvolle Schluß des vierten Bildes (dritter Akt, erste Abteilung), wo Götz Georg befiehlt, den jungen Nürnberger ziehen zu lassen: »Und einen Gruß vom Ritter Götz dazu!« Hier schlägt der Komponist innige Töne an. Vielleicht erscheint dadurch Götz zu sentimental, aber die Musik an und für sich ist schön und wirkungsvoll. Die große Verführungsszene zwischen Adelheid und Franz und ebenso das Ende der Adelheid sind Goldmark am besten gelungen. Für das Buhlen des heißblütigen Weibes, wie auch für ihre Verzweiflung und fürchterliche Angst fehlt es dem Komponisten nicht an überzeugendem musikalischen Kolorit. Hübsch ist das Lied des Franz »Beim alten Herrn von Wanzenau«, das die geschlossene Form aufweist, und klangschön entwickeln sich die beiden Ensembles zum Schlusse des ersten und zweiten Aktes, wovon vornehmlich das zweite mit dem Ausklingen in das »Kyrie eleison« hervorgehoben sein soll. Von den leitenden Motiven ist das des Franz als das besterfundene zu bezeichnen. Als besonders ausfallend sei noch erwähnt, daß die Introduktion zum vierten Akte eine ganz merkwürdige nahe Verwandtschaft mit dem einleitenden Vorspiele zum ersten Akte von Gounods »Margarete« (Faust) besitzt.

Das unter Mahler zur Aufführung nicht zugelassene Werk erlebte gestern unter Weingartner zur Feier des 80. Geburtstages des Komponisten seine Wiener Premiere. Der Erfolg war ein dem Anlasse entsprechender, nämlich ein überaus stürmischer und ovationenreicher. War doch auch alles anwesend, was den greisen Tondichter zu feiern berechtigt ist. Aller Jubel aber konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Werk, dessen Längen sehr ermüdend wirkten, nur einen Achtungserfolg errungen hat. Die Aufführung, von Direktor v. Weingartner sorgsam vorbereitet und gediegen geleitet, war eine vortreffliche. Herr Weidemann, der Gestalt nach ein echter Götz, sang und spielte die Titelpartie würdig, voll Kraft und Gemütstiefe. Nur die Höhen der Partie bereiteten dem Künstler Schwierigkeiten. Eine ausgezeichnete Adelheid bot Frau Weidt, gesanglich und darstellerisch von gleicher Güte. In der großen Szene vor Erscheinen des Femrichters wuchs ihre schauspielerische Leistung zu gewaltiger Höhe hinan und ihr Schrei, wenn auch kein Wolter-Schrei, vermochte zu erschüttern. Ein Franz, wie geschaffen, war Herr Leuer und einen lieben, stimmfrischen Georg stellte Frau Kiurina auf die Bühne. Den Weislingen sang Herr Brand an Stelle des erkrankten Herrn Schwarz mit schönem Gelingen. In kleineren Partien des Werkes ragten die Damen Windheuser, Kittel und die Herren Mayr, Corvinus, Betetto, Haydter und Breuer aus dem Ensemble hervor. Man gab die Oper gestern in drei Akten zu je drei Bildern und verwendete zum schnelleren Verwandeln der Szene die Drehbühne. Die Ausstattung, nicht vollständig neu, brachte einige schöne Dekorationen und stilvolle Kostüme. Gänzlich unpassend erschien der Saal am kaiserlichen Hofe zu Augsburg, und zwar nicht allein der unrichtigen Architektur, sondern auch des »Wintergartens« wegen. Daß es zu Kaiser Maximilian I. Zeiten schon Glashäuser mit tropischen Gewächsen gegeben hat, war bisher noch ganz unbekannt. Im letzten Bilde wurde durch einen argen szenischen Fehler – die drei Teile eines Baumes klafften, statt verbunden zu sein, weit auseinander – die Schlußszene sehr beeinträchtigt. Goldmark wurde zum Schlusse wiederholt gerufen und einige Lorbeerkränze und Blumenspenden wurden ihm gereicht. Er dankte mit einigen Worten dem Publikum für alle ihm zugewendete Güte und Nachsicht. Die Vorstellung endete nahe an 1/4 12 Uhr. Karl Schreder.
(Deutsches Volksblatt vom 19. Mai 1910)