Neun Bilder – für eine Oper wahrlich genug

Götz von Berlichingen.
Eine Einführung in Dichtung und Musik von Johannes Brandt.

In einem Brief an seinen Straßburger Freund Johann Daniel Salzmann schrieb Goethe am 28. November 1771: »Ich dramatisiere die Geschichte eines der edelsten Deutschen, rette das Andenken eines braven Mannes, und die viele Arbeit, die mich’s kostet, macht mir einen wahren Zeitvertreib, den ich hier so nötig habe; denn es ist traurig, an einem Ort zu leben, wo unsere ganze Wirksamkeit in sich selbst summen muß*) … Aber eben das wäre eine traurige Gesellschaft, wenn ich nicht alle Stärke, die ich in mir selbst fühle, auf ein Objekt würfe und das zu packen und zu tragen suchte, so viel nur möglich, und was nicht gebt, schlepp’ ich. Wenn’s fertig ist, sollen Sie’s haben und ich hoff’ Sie nicht wenig zu vergnügen, da ich Ihnen einen edlen Vorfahr, die wir leider nur von ihren Grabsteinen kennen, im Leben darstelle.« Noch vor Ablauf desselben Jahres war das Werk, an dem Goethe mit solcher Liebe hing, beendet.

Bei der Wandlung vom gesprochenen Drama zum Operntext mußten naturgemäß zahlreiche Umformungen, teilweise von einschneidender Bedeutung, vorgenommen werden. Vor allein stand der reiche Szenenwechsel den opermäßigen Gestalten hindernd im Wege. Hier mußte gekürzt, vereinfacht, zusammengezogen werden, sollte nicht der Komponist immer und immer wieder auf seinem Wege aufgehalten und zu einem mosaikartigen Aneinanderreihen kontrastierender Stimmungsbildchen gezwungen werden. Viele Einzelheiten wurden fallen gelassen, manche Hauptmomente teils auf ein Mindestmaß zurückgeführt, teils gänzlich eliminiert. Bezeichnend trägt daher die Oper nicht den Titel des Dramas, sondern ganz bescheiden die Überschrift: »Szenen aus Goethes ›Götz von Berlichingen‹.« Neun verschiedene Bilder sind immerhin noch geblieben, für eine Oper wahrlich genug.

Den Spuren des Textbuches folgt die Musik. Der Teil der Handlung, die sich um Götz dreht, bedingte ein Vorherrschen des Sprechgesanges, um den verschiedenen Phasen gerecht zu werden. Goldmarks starkes melodisches Empfinden aber blieb dabei nicht stehen. Wo es nur möglich ist, da erhebt sich das Rezitativ zum Arioso, das Arioso zur warmen, schön geschwungenen Melodie: Götzens Ansprache an Weisungen im ersten Akt und sein Schmerz über des Freundes Treubruch sind hier die ragenden Höhepunkte. Mit üppigeren Farben konnte die Liebe Weislingens zu Maria, die Leidenschaftlichkeit des Franz, die ganze Gestalt Adelheids gemalt werden, die ja auch textlich, wie schon erwähnt, in der Oper zu Hauptpersonen geworden sind. In der musikalischen Gestaltung dieser Figuren und Stimmungen konnte sich Goldmark voll und ganz ausleben, ihnen konnte er um so reicher spenden, was er den anderen notgedrungen versagen mußte. Womit aber nicht gesagt sein soll, daß jene darum auch weniger gelungen seien. Vom musikdramatischen Standpunkt betrachtet, sind auch sie mit plastischer Schärfe gezeichnet, nur tritt bei ihnen mehr die reale-musikalische Charakteristik, dort hingegen die ideale Schönheit der Linie und Farbe hervor. Und beiderseits ist diese Behandlung logisch bedingt.

Die Einheitlichkeit im musikalischen Aufbau konnte im »Götz« nicht so streng durchgeführt werden wie in einer anderen, mehr nach einem einzigen Ziele strebenden Oper, immer wieder bedurfte es einer Abbiegung, einer Rückung, um dem Wechselspiel der kontrastierenden dramatischen. Motive folgen zu können. Die meisten Szenen verlangten eine in sich geschlossene Form, bald stehen wir mit Götz im Feld oder vor dem Tribunal, bald sehen wir den Hof des Bischofs von Bamberg, bald Adelheid in ihrem trügerischen Doppelspiel mit Weislingen und Franz, bald erblicken wir die traute Häuslichkeit, darin Frau Elisabeth waltet, bald das grausige Gericht der Feme. Das geschäftige Treiben der Pagen wechselt mit den weihevollen Klängen des »Kyrie«, die atembeklemmende Erdrosselung Adelheids mit dem verklärten Tode Götzens. Ein kunstreiches Gewebe von Leitmotiven hätte diese Fülle verschiedener Elemente verstandesmäßig miteinander verknüpfen können, doch Goldmark verzichtete auf das wohlfeile, in diesem Falle nur äußerliche Mittel und suchte durch ein einheitliche, durch die ganze Oper straff geführte Zeichnung der einzelnen Charaktere die Brücke zu schlagen. Völlig freilich läßt er auch hier dieses Auskunftsmittel logischer Verbindung nicht beiseite, aber nur das kraftvolle, männliche Motiv des Götz, in zwei Gestalten:


und

das zärtlich schmiegsame Thema Adelheids:


und ihr aalglatt sich schlängelnder, plötzlich in die Oktave hinaufschießender Lockruf:

gewinnt größere Bedeutung, im übrigen folgt die musikalische Diktion den schon oben angedeuteten Prinzipien.

Bezeichnend für den »Götz« wie überhaupt für Goldmarks Opern ist die große Rolle, die hier dem in der modernen Oper mit Unrecht meist vernachlässigten Chore zufällt. Die Sologesänge sind reichlich durch Chöre unterbrochen, die, teils homophon, wie der Abschiedschor im ersten Akt oder das »Kyrie«, teils in kontrapunktischer, mitunter fugierter Führung (Pagenchor) für wohlangebrachte Abwechslung sorgen. Nicht minder sind die zahlreich eingestreuten, schlicht volkstümlichen Gesänge in ihrer einfachen, aber dennoch, tief empfundenen Herzlichkeit für die ästhetische Grundlage Goldmarkscher Opernmusik charakteristisch. Wie überall, so finden wir eben auch im »Götz« so ganz unseren Goldmark wieder.
*) Es war kurz nach seinem Abschied von Friederike Brion.
(Der Morgen. Wiener Montagblatt vom 16. Mai 1910)