Großpapa übt …
Wiener Porträts.
XXXVIII.
Karl Goldmark
Karl Goldmark.
Ein bescheidenes Zimmer mit dem Ausblick auf graue Mauern und einen in Winterarmuth siechenden Garten, altväterliche Möbel, ein grünüberzogenes Bett, kleine Teppiche und einige Stiche an den Wänden; dann etwa noch ein offener Flügel, durchaus nicht erstclassiges Fabrikat. Hier wohnt Karl Goldmark. Es ist sein Logis, freilich nur einige Wintermonate über, denn während der anderen Jahreszeit haust er im Gmunden und hat sein Leben geregelt zur Promenade, zur Arbeit, zur Whistpartie.
Ein beweglicher, kleiner Mann kommt mir entgegen, der Kopf nicht zum Körper passend, schwer und breit, die Haare weiß und strähnig, am die Liszt-Mähne erinnernd. Breite Backenknochen und ein abfallender Schnurrbart nehmen dem Gesicht den Zug von Genialität, den man nach Stirn und Auge in ihm suchen möchte.
Ein engschließender grauer Ueberrock hält Goldmark warm, er ist noch im Negligé und schlürft behaglich mit den Hausschuhen über die Parketten. Er spricht mit mir erst über mein Handwerk, denn da hat er einmal trübe Erfahrungen gemacht. Ein Interviewer schrieb von Dingen, über die Goldmark niemals gesprochen hatte; das brachte dem Meister viele Ungelegenheiten, denn trotz aller Dementis bleibt immer etwas haften.
Er ist ein schüchterner Künstler, dem jedes Selbstbewußtsein mangelt. Er stockt darum oft im Erzählen, verschweigt Aussprüche großer Zeitgenossen über seine Kunst und spricht nicht gern von seinen Erfolgen. Wie wir von der »Königin von Saba« sprechen, jenem großen Werk, das er als ungeschulter Musiker componirte, sagt er: »Es war erstaunlich, daß mir Chor und Orchester so gelangen, ich glaube – ja, ich glaube, man kann sagen, daß das Talent war – – «
Er erzählt auf meine Bitte von seiner Jugendzeit, von den ersten Motiven, die ihn der Musik näher brachten. Und er erzählt gut und man gewinnt den Eindruck, daß diese fernen Tage mit ihren Kümmernissen ihm lebhaft in Erinnerung sind. »Meine ersten Kinderjahre,« beginnt der greise Meister, »verbrachte ich auf einem einsamen Dorf. Da gab es keine großen Eindrücke, die mich für die Musik gewonnen hätten. Aber einmal hörte ich eine Geige, auf der ein Gast einen Walzer kratzte. Dieser Mann war mein erster Lehrer. – Die Möglichkeit, im Violinspiel mich ausbilden zu können, wurde mir durch eine primitive Schule gegeben. Zwei Stunden mußte ich von meinem Heimatsdorf laufen, um nach Oedenburg zu kommen, aber ich ertrug Mühsal gern und bin zwei Stunden hin und zwei Stunden zurück gelaufen, um meiner Begeisterung für das Geigenspiel gerecht zu werden. – Da war ich denn sehr glücklich, als ich die Fortschritte in meinem Spiel bemerkte, als auch die Lehrer sie erkannten. Nun mußte ich nicht mehr aus Gläsern, die ich auf den Tisch stellte, Accorde locken, nun hatte ich ein Instrument und bekam Gewalt über Töne.«
Wann er zuerst in die Oeffentlichkeit trat?
»Mit zwölf Jahren,« antwortet Goldmark « da gab er ein Concert in Oedenburg, er bewies viel Fertigkeit auf der Geige und man versprach ihm viel Gutes für die Zukunft. ,,Sehen Sie,« sagt der Meister, »was der Zufall für Launen hat; vor einiger Zeit hat man in Oedenburg mein ›Heimchen‹ aufgeführt und just an demselben Tage, an dem ich vor sechzig Jahren zum erstenmal öffentlich spielte.«
Er spricht dann von seinem Werdegang in Wien, von der höheren Ausbildung, von den Lehrjahren, von der Revolutionszeit, in der sein Bruder eine Rolle spielte. Erst im Jahre 1847 trat Goldmark ins Conservatorium ein, mit den musikalischen Studien mußte er aber auch gleichzeitig die technischen vereinen, denn die Musik wurde als zu geringe Basis für eine Existenz erachtet. – In diese Zeit fällt die erste Idee des Schaffens. Natürlich componirt er nur für die Geige, zumeist Duoscenen, dann aber auch Quartette. Das Freiheitsringen der Völker, die Revolution unterbricht sein Studium und Goldmark muß im Orchester Stellung suchen, um einen Erwerb zu finden. Er weilt in ungarischen Städten, kehrt dann nach Wien zurück und wendet sich hier eifrig dem Clavierstudium zu. Nun erst kann er ans Componiren denken. Und 1857 gab er sein erstes Compositionsconcert. Es wird bei dieser Gelegenheit interessiren, zu erfahren, daß Karl Goldmark bis zu seinem zwölften Jahre überhaupt kein Clavier zu Gesicht bekommen hatte, daß er erst in späteren Jahren sich dem Studium dieses Instruments widmen konnte. Erst nach anderen Concerten, nachdem er viele Schwierigkeiten zu überwinden hatte, wurden die Goldmark’schen Sachen für echt genommen, erschien Opus 1 endlich auch im Druck. 1865 kam »Sakuntala« und dann der große Erfolg seines Lebens »Die Königin von Saba«.
Ich bitte ihn, zu erzählen, wie er zu diesem Stoff gekommen ist?
Und er antwortet mir: »Zufall, reiner Zufall, da mir aber eben das Motiv einfällt, will ich davon sprechen. Meine Schülerin, die später berühmte Sängerin Frau Gomperz-Bettelheim, kam einmal nach Hause und sagte: »Der Regisseur hat heute gemeint, ich sei die ganze Königin von Saba.« Es waren nur wenige Worte, aber ich griff sie auf und im Moment entstand der Plan in mir, eine Oper zu componiren, die die Königin von Saba zum Vorwurf hatte. – Und daß die Arbeit gelang, scheint mir wie ein großes Wunder, denn ich hatte keine Idee von Chorbehandlung und den anderen großen Schwierigkeiten eines solchen Werkes.«
Er erzählt dann von Texten überhaupt, sie sind, seiner Ansicht nach, das größte Hemmniß für den Componisten, denn sie passen nie und die Intentionen des Librettisten klappen nie mit denen des Componisten zusammen. Goldmark ist darum bei allen Werken auch textlich sein Hauptmitarbeiter.
Ob die »König von Saba« sein Lieblingswerk ist?
Nein, mit dem Erfolg hat die Vorliebe für ein Werk nichts zu thun. Wenn Goldmark von einem »Liebling« unter seinen Opern sprechen kann, dann ist es »Die Kriegsgefangene«, der Briseïs-Stoff, der ihn musikalisch so gewaltig anzog, der aber dem Verständnis der großen Massen nicht entsprach. – Ich frage, ob er nie daran gedacht hat, das orientalische Milieu der »Königin von Saba festzuhalten und – schon dem großen Erfolg zuliebe – ein Pendant zu dieser Oper zu schaffen?
Er antwortet lebhaft »Nein, ich vermag es nicht, einen Stoff zweimal zu behandeln. Achten Sie doch auf die Unterschiede: »Königin von Saba« – »Merlin« – »Heimchen am Herd« – »Götz«, das muß mich packen, muß mir immer neue Eindrücke bringen. – Nach der »Königin von Saba« kamen mir Hunderte von Textbüchern zu, alle Dichter meinten, ich würde gewiß wieder einen orientalischen Stoff suchen, aber ich sandte die Bücher zurück, Salomo und sein Hof waren für mich abgethan.«
Welche Ereignisse und welche Musik für seine Kunst von entscheidendem Einfluß waren?
Er denkt nach und sagt dann, den zu beiden Seiten abfallenden Schnurrbart streichend: »Ich muß da wieder weit in die Vergangenheit zurückgreifen, in die erste Zeit meines Oedenburger Studiums. Da gab es ein Theater und man führte den »Verschwender« auf. Ich stand oben auf der Galerie, hatte zwei Stunden mühevoller Wanderung hinter mir und die Aussicht aus einen holprigen Weg inmitten der Nacht vor mir. Es mochte draußen stürmen und toben, hier sah ich Zauberbilder vor mir, Feen, Genien, hörte eine andere Sprache und sah mit leuchtenden Augen in eine andere Welt. Damals war es, daß ich mir sagte: Wie wunderbar ist das, über Stimmungen zu herrschen. Und dann waren es lange, lange nachher »Die Meistersinger«, die mich so sehr fesselten, die ich hoch über alle andere Kunst stellte.«
Ob es Wagner allein war, der seinen »Merlin« beeinflußte?
Wagner’sche Kunst unbedingt, aber er möchte da an eine alte Kritik Speidel’s erinnern, der das Richtige getroffen hatte. Der schrieb: »Goldmark geht in ›Merlin‹ mitten durch Wagner hinaus.« Das gibt der Meister gern zu. Wagner’scher Einfluß, Wagner’sche Richtung, aber ein eigenes Ziel. – Goldmark preist Richard Wagner als eine der bedeutendsten Erscheinungen, dessen Machtstellung für alle Schaffenden bahngebend war. Und hauptsächlich darum, weil er dem Text so große Sorgfalt zuwandte, ihn in der Declamation so hoch emporhob.
Wie lange er an seinen Werken arbeitet?
Das scheint ihm nicht bestimmbar, aber ein leichter Arbeiter ist er nicht, und wenn ein Werk fertig ist, ganz fertig, dann muß es erst liegen bleiben, damit er es nach einem Jahre unbefangen übersehen kann; oft wird es dann wieder zurückgelegt, bis es ihm vollkommen erscheint. Sieben volle Jahre hatte die »Königin von Saba« erfordert, jeder Act wurde zweimal geschrieben und zweimal componirt, denn er war ohne Ahnung von den großen Schwierigkeiten der Oper ans Werk gegangen und corrigirte dann die Mängel, die aus seiner mangelnden Vorbildung erwachsen waren. »Briseïs, die Kriegsgefangene«, war das Werk, das ihm am schnellsten gelang, denn er vollendete die Oper in fünf Monaten. Zwischen seinen Opern sind immer lange Pausen, daran aber sind die Textdichter schuld, die ihm nie etwas recht machen. Volle zehn Jahre hatte er nach »Merlin« kein Buch und solche Intervalle gibt es nach jeder neuen Sache bei ihm.
Wir sprechen vom »Götz«, seinem jüngsten Werk, und er erzählt davon, wie ihn das Thema seit einem halben Jahrhundert verfolgt, wie es das erste Buch war, das er in Wien aus der Bibliothek seines Bruders bekam Anno 1846, und wie der Gedanke gleich damals in ihm aufkeimte, dieses große, gewaltige Werk in Musik gesetzt zu sehen. Er freut sich der großen Wirkung, die sein« »Götz« in Budapest und Frankfurt hatte und über der Freude des musikalischen Gelingens steht ihm noch das Gefühl, daß der gewaltige Goethe’sche »Götz« nicht gelitten hat. – Um Anfeindungen ans dem Wege zu gehen, hat er die Oper »Scenen aus Götz von Berlichingen« benannt, aber die Frankfurter haben einstimmig erkannt, daß dem großen Dichterwerk kein Leid in der musikalischen Bearbeitung widerfuhr, und heute hat die neue Goldmark’sche Oper schon den ihr zustehenden Titel »Götz von Berlichingen.«
Welche Stoffe es sonst noch sind, die dem Componisten in die Seele greifen?
Sogleich antwortet er mir: Die Faust-Sage, die nun so vielfach schon componirt wurde, und Shakespeare, dessen »Romeo« und »Othello«, Liebes- uud Leidenschaftsmomente bergend, dem Componisten, der sie erfaßte, die herrlichsten Stoffe boten. Auch der »Lear« hat ihn lange ergriffen, bis er den Stoff für die Musik nicht geeignet erkannte.
Seine Lehrmeister?
Bach und Beethoven, Mendelssohn und später Schumann, schließlich Wagner. Wie er sich eben auch gleich anderen Musikern der Modeströmung anschließen mußte.
Der Einfluß der Stimmung auf die Arbeit?
Er kennt die Disciplin. Im Sommer früh Morgens ein Spaziergang im Garten und dann Vormittags Arbeit. Kommen die Melodien nicht, dann werden technische Bedingungen erfüllt, und ist die Inspiration da, dann ruhen die mechanischen Arbeiten. Und vor Allem stets Gehirnschärfung, Gedächtnißübung.
Wie er das thut?
»Ich lerne Sprachen,« antwortet er, »ich habe Italienisch und Englisch gelernt, und jetzt nehme ich Französisch vor. Das geht ganz leicht. Ich memorire, erlerne Vocabeln und vermag es, die Sprache nach kurzer Zeit vollständig zu beherrschen. So stärke ich mein Gedächtniß.«
Goldmark hat Liszt und Rubinstein gekannt und war mit Brahms befreundet. Er gibt über Liszt, den Menschen, ein enthusiastisches Urtheil ab, »er war die Schlichtheit selbst,« sagt er, »ein wohlwollender, genialer Mensch, für die ganze Welt von Güte beseelt.« Eines Abends, sagt Goldmark, »war ich bei ihm, es wurde Musik gemacht« – Goldmark erzählt nicht weiter, augenscheinlich müßte er den ihm gespendeten Lobesworten Erwähnung thun, und das will der bescheidene Mann nicht. Rubinstein nennt er einen weichen Menschen, der trotzdem leidenschaftlich sein konnte und seine sarmatische Natur nicht verleugnete. Aber die Verhältnisse hatten ihn verbittert, und Rubinstein, der außerordentliche Mensch und Musiker, der sich nicht erkannt, nicht verstanden sah, wurde ungerecht gegen die Anderen, denen es vergönnt war, sich im Ruhm zu sonnen.
Und Richard Wagner!
»Wir haben uns einmal gesehen,« erzählt der Meister, »wir traten uns niemals näher, die Verhältnisse waren nicht danach. Meine Freunde waren auch die seinigen, das war Alles. Ich selbst habe Gelegenheit gehabt, für ihn Partei zu ergreifen, ich war Musikreferent der »Constitutionellen Zeitung«, und das war eine Stelle, an der ich oft und oft für ihn eintrat. Gesehen haben wir uns auch einmal, es war aber eine sonderliche Begegnung. Auf einem freien Feld zwischen Penzing und Hietzing traf ich während einer Wanderung einen Mann – es war Richard Wagner – – «
Und Goldmark schweigt wieder. Es scheint ihm nicht recht passend, über diese Begegnung Näheres mitzutheilen, aber er will vielleicht selbst einmal zur Feder greifen und dann aus seinem Leben einiges erzählen. – Ich darf also nicht weiter in ihn dringen und er sagt mir nur: »Wir haben uns nach dieser Begegnung nicht mehr gesehen.«
Seine Meinung über die Wiener Hofoper und ihre künstlerische Leitung?
»Ohne Zweifel ist unsere Oper die erste der Welt,« sagt er mir, »das hat mit den Kräften nichts zu thun, die ja immer wechseln und unter denen man ja immer das Beste nimmt, aber die künstlerische Leitung, Chor, Orchester und Ensemble sind nicht zu überbieten. Das muß man festhalten.«
Goldmark ist ein einsamer Mensch, er lebt abseits vom Weltgetriebe, er mischt sich nicht gern in Zänkereien, er ist ein friedlicher, friedliebender Herr. Mit allem Kampf meidet er auch die Menschen und dabei fühlt er sich wohl. »Man verflüchtigt sich zu sehr, wenn man in der Welt lebt«, sagt er. Das ist auch der Grund, warum er über die Musiker des letzten Jahrzehnts nichts sagt. »Sehen Sie,« sagt Goldmark, »man würde mir antworten und ich könnte mich nicht vertheidigen, könnte meine Meinung nicht verfechten, denn ich will nicht schreiben. Er arbeitet nur im Sommer, im Winter ruht er: Wien bringt ihm nicht genug Ruhe und Abgeschlossenheit. Zur Zeit bosselt er noch am »Merlin«, und seine nächste große Freude wäre es, den »Götz« an unserer Hofoper zu sehen.
Seine Wohnung birgt nicht viel Kunstschätze, eine Beethoven-Maske über dem Schreibtisch, ein Beethoven-Stich an der Wand und ein anderer über dem Lager. Auf dem Piano befinden sich Noten, Anfangsgründe des Clavierspiels.
»Das ist mir ein großes Vergnügen,« sagt der Meister, »ich unterrichte meinen Enkel im Clavierspielen.«
Und es mag ihm wohl eine starke Freude sein, am Lebensabend ein Talent aufkeimen zu sehen und es selbst nach seinem Geist zu bilden. So kann man bei den verdienten Lorbeeren, die ihm sein Schaffen brachte, bei der Freude am Wirken, die ihn heute noch erfüllt, von einem abgerundeten, wohlangewandten Leben sprechen. Da ich ihn verlasse, tönen mir die Scalen nach … Großpapa übt. A. D.-G.
(Neues Wiener Journal vom 15. Februar 1903)