… endgiltig begraben worden …

Feuilleton.
Hofoperntheater.<

(»Der polnische Jude.« Text nach Erckmann- Chatrian von Henri Cain und P. B. Gheusi. Musik von Camille Erlanger.

Wahrhaftig, ich beneide diesen elsässischen Bürgermeister und Gastwirt Mathis! Ihm ist »der polnische Jude’« erst nach fünfzehn, mir schon nach vier Jahren wieder erschienen. Und ich habe den musikalischen Ahasver nicht einmal erschlagen, als er seinerzeit im Theater an der Wien bei uns zum erstenmal seine Einkehr hielt. Die alte Kolportagegeschichte, schon von Erckmann-Chatrian dramatisiert, war damals von Viktor Leon zu einem immerhin spannenden, vor allem straff geführten (zweiaktigen) Opernbuch gestaltet worden und die Partitur des jungen Prager Komponisten Karl Weis ließ die Hand eines begabten und tüchtigen Musikers erkennen.

Diese Vorzüge kann man der jüngsten Novität der Hofoper beim besten Willen nicht nachrühmen. Das Libretto ist von bleierner Langweile. Der erste Aufzug, in welchem alle nacheinander eintretenden Personen ihren Pelz vom Schnee säubern und über das schlechte Wetter jammern, ließe sich bequem in eine einzige Szene zusammenziehen, und der zweite Akt, in dem gar nichts vorgeht – die Leute unterhalten sich hier nicht einmal vom Wetter – könnte vollständig wegbleiben. Im dritten Akt beginnt dann mit der gruseligen Traumszene der brutale Ansturm auf die Nerven der Zuhörer. Im magischen Lichte spielen sich vor uns die fürchterlichen Vorgänge ab, die Mathis träumt: er steht vor dem Tribunal, des Mordes vor fünfzehn Jahren angeklagt, und ein grotesk aussehender Hypnotiseur zwingt ihn, das begangene Verbrechen mit allen Einzelheiten zu gestehen. Des Morgens findet ihn die Familie entseelt im Bette. Schade, daß Erckmann und Chatrian auch nicht mehr am Leben sind, sonst hätte man die Frage an sie richten können, woher man denn wisse, was der vom Schlage gerührte Schläfer geträumt hat.

Camille Erlanger, der zuwenig »Musik hat in sich selbst«, um diese dramatisierte »Muritat« durch seine Vertonung genießbar zu machen, sucht das Problem zu lösen, ob man wohl ohne die Fähigkeit, Melodien zu erfinden, ohne die Fähigkeiten, Stimmen und Harmonien logisch zu führen, eine Oper schaffen könne. Wer diese Voraussetzungen als berechtigt gelten läßt, der muß zugeben, daß der kühne Neuerer die selbstgestellte Aufgabe mit großer Originalität bewältigt hat. Nur einigemal stoßen ihm atavistische Rückfälle zu, nämlich dort, wo er deutsche Volkslieder verwendet. Dem Liebesduett liegt die Melodie »Du, Du liegst mir im Herzen« zugrunde, bei dem Zwiegespräch, welches Mathis mit seiner Frau führt, erklingt »O, Du lieber Augustin«, das ganze zweite Finale ist auf dem bekannten Ländler »Z’Lauterbach hab’ ich mein’ Strumpf verloren« aufgebaut und so fort mit Grazie und ohne Skrupel. Auch die Geister der verschiedensten Komponisten werden unaufhörlich zitiert, und zwar ohne nationale Vorurteile. Die Musik zum »Polnischen Juden« ist ein Pürschgang in den Revieren deutscher, französischer und italienischer Meister; eigene Jagdgründe scheint Monsieur Erlanger nicht zu besitzen.

Der Schwerpunkt seiner Oper liegt im Orchester. Der vokale Teil ist mit wenigen Ausnahmen rezitativisch gehalten; das Arioso tritt so selten in den Vordergrund, daß man alle Ursache hat, anzunehmen, der Komponist habe hier aus der Not eine vermeintliche Tugend gemacht. Während bei Richard Wagner – der Bayreuther Meister ist in der einem Autographenalbum gleichenden Partitur besonders oft vertreten – die Singstimmen mit dem Orchester auf das innigste verbunden sind, so daß beide gleichsam einen Körper bilden, werden sie bei Erlanger zur bloßen Staffage degradiert. Es fehlt dem Autor unserer jüngsten Novität, der sich vergebens zum musikalischen Dramatiker auszurenken versucht, an der Kraft und Phantasie, scharf zu profilieren und im großen zu gestalten. Alles trägt bei ihm den Charakter des Zerstückelten, künstlerisch Unfertigen, denn bald nimmt er, durch den Stoff verleitet, seine Zuflucht zu grobem, krassem Effekt, bald erreicht cr nicht einmal die Grenze, wo das Rezitativ charakteristisch, also zur Musik wird. Dem Hörer drängt sich da die Frage auf, weshalb denn der Komponist dieser Dekorationsmusik den kleinen Schritt zum Melodram gescheut hat?

Der französische Tonsetzer spielt nur die Rolle des Koloristen, der mit den Farbentöpfen in der Hand hier ein Fleckchen rot, dort blau und gelb aufsetzt, und so ist diese ganze Musik nicht mehr als ein Nebenher, ein derbes Ornament der Bühnenvorgänge, keine Neuschöpfung aus den Möglichkeiten eines Materials heraus. Ein Mosaik ohne Zeichnung, aber in grellen, schreienden Farben. Wenn es Erlanger nicht immer glückt, den Ausdruck wirklich charakteristisch zu färben und zu steigern und wenn sein Werk der inneren Wärme ermangelt, so liegt dies in der Art seiner Begabung nicht minder wie in seinem beschränkten Können. Er ist keine produktive, selbstständig schaffende, sondern eine anempfindende Natur. Die Musik zum »Polnischen Juden« gleicht einem stets wechselnden Farbenspiel, dem feste Umrisse fehlen. Sie malt mehr die äußerliche als die innerliche Bewegung; der Komponist arbeitet nicht auf den Gemütsausdruck hin, sondern bloß auf das Anschauliche. Er führt uns glatt über die Oberfläche der Ereignisse.

Erlanger huldigt selbstverständlich dem Prinzip des Leitmotivs. Gibt es doch keinen bequemeren dramatischen Behelf als den, jeder Person einer Oper ein paar Noten als Erkennungszeichen anzuheften. Dabei dokumentiert er in der Erfindung seiner physiognomielosen musikalischen Formeln einen erschreckenden Mangel an Charakterisierungskraft, ebenso wie ihre Verwertung eine geradezu dilettantische Unbeholfenheit ausweist. Keine Spur einer Weiterentwicklung oder polyphonen Kombination. Ein für allemal bleiben diese Leitmotive die gleichen. Es sind bloße Phrasen für den unmittelbaren Herzenserguß, äußerliche Gebärden für lebensvolle Wahrheit. In harmonischer Beziehung vermeidet er krampfhaft natürliche und gerade Wege, jeder Akkord wird mit allerlei Alteration und Tonstacheln versehen, die perversesten Harmonieverbindungen und Modulationen werden ausgeführt, den Tonfolgen ist keine ruhige Linie gegönnt. Das soll wahrscheinlich den Eindruck des Originellen machen, läßt aber in der sinnlosen Willkür und Planlosigkeit nur Dilettantismus erkennen. Welche Wirkung derartige zufällig gebildete Kakophonien hervorbringen, kann nur der ermessen, der es schaudernd selbst erfahren hat.

Die Mühe und Sorgfalt, die man der Aufführung des »Polnischen Juden« in der Hofoper angedeihen ließ, stand in umgekehrtem Verhältnis zu dem Wert des Werkes. Herr Kapellmeister Walter nahm sich der Oper mit einem Feuereifer an, der einer besseren Sache würdig gewesen wäre; unter seiner schwung- und energievollen Leitung erstrahlte das Orchester in seinem vollen Glanze. Herr Demuth sang den Mathis mit prächtiger Stimme und nahm für diese Figur, die gar kein menschliches Interesse einzuflößen geeignet ist, wenigstens künstlerische Teilnahme in Anspruch. Der üppig quellende Sopran des Fräulein Förstel kam der weiblichen Hauptpartie (Annette) sehr zustatten und wacker stand ihr Herr Maikl als Bräutigam zur Seite. In gleicher Weise erstritten Fräulein Kittel sowie die Herren Mahr, Preuß, Zawilowski, Wissiak und Stehmann einen Erfolg der Darstellung. Regie und Ausstattung ließen nichts zu wünschen übrig.

»Der polnische Jude« wird nun nicht bloß erschlagen, sondern auch – in Wien wenigstens – endgiltig begraben worden sein. Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich mich in der Verurteilung von Erlangers Illustrationsmusik einer Meinung mit Herrn Direktor Mahler weiß. Und er, der Meister Goldmark mit »Götz von Berlichingen« vergebens an die Pforten des Hofoperntheaters klopfen ließ, hat sie dennoch aufgeführt. So sage ich denn ähnlich wie jener Abgeordnete zum Minister: »Ich kenne Ihre Gründe nicht, verehrte Direktion, aber ich mißbillige sie.«
Rich. Robert.
(Wiener Sonn- und Montagszeitung vom 8. Oktober 1906)