… musikalische Deklamation ist seine schwächste Seite
Operntheater. Karl Goldmark’s neueste Oper »Die Kriegsgefangene« erzielte bei ihrer gestrigen Erstaufführung einen Achtungserfolg. Das Buch von Emil Schlicht – Pseudonym, unter welchem sich der evangelische Pfarrer Alfred Formey bis zum Tage der Aufführung verbarg – behandelt Motive aua Homer’s Iliade und ist so uninteressant und undramatisch wie nur möglich. Den Einen wird es mißfallen, weil sie die Iliade kennen, die Anderen wird es langweilen, weil sie sie nicht kennen. Leider bietet uns auch Goldmark mit seiner Musik für die Mängel des Buches keine Entschädigung. Er behandelt in seinem jüngsten Werk die Singstimmen vorwiegend deklamatorisch, und musikalische Deklamation ist seine schwächste Seite. Aber auch die großangelegten Gesänge bringen es im günstigsten Falle nur zu äußerer Wirkung durch schönen Stimmklang, ohne uns zu erwärmen oder gar hinzureißen. Am günstigsten wirken noch die Chöre – ein Kriegerchor und der Gesang der Nereiden –, und das Orchester hat einige schöne Momente, aber beiweitem nicht so viele wie sonst bei Goldmark. Die von Direktor Mahlee musterhaft vorbereitete und geleitete Ausführung war durchaus vorzüglich, und die Träger der Hauptpartien. Fräulein Renard (Brisëis), die Herren Reichmann (Achilles) und Hesch (Priamus), ferner Fräulein Walker (Thetis), Herr Neidl (Agamemnon), Herr Pacal (Automedon) sowie Chor und Orchester wetteiferten in dem Bemühen, dem Werke zu einem Erfolg zu verhelfen. Aeußerlich kam auch ein solcher zustande, und die Hauptdarsteller wie der hochgeschätzte Komponist hatten nach den beiden Aktschlüssen wiederholt Gelegenheit, sich für den gespendeten Beifall zu bedanken. Aber ein echter Erfolg war dies nicht. Wir kommen auf Werk und Aufführung noch zurück. – Die zweite Hälfte des Abends wurde durch das gute alte Ballet »Melusine« in angenehmer Weise ausgefüllt. j.s.
(Arbeiter Zeitung vom 18. Januar 1899)