Das ignorirte Parlament

Unsere Mittheilungen über die merkwürdige Behandlung, die sich unser Abgeordnetenhaus anläßlich der letzten Hoffestlichkeiten zu Ehren der Anwesenheit Kaiser Wilhelms gefallen lassen mußte, hat nicht nur in parlamentarischen Kreisen, wo sie noch nicht allgemein bekannt war, sondern auch in der gesammten Wiener Gesellschaft berechtigtes Aufsehen hervorgerufen. Die Mißbilligung des dem Abgeordnetenhause gegenüber beobachteten Vorgehens ist eine allgemeine, was auch daraus hervorgeht, daß das officiöse »Fremden-Blatt« sich bemüssigt sieht, in einer auf diesen Vorgang reflectirenden Darstellung den erwähnten Vorfall als »nicht entsprechend« zu bezeichnen. Das genannte Blatt ist allerdings bemüht, Erklärungen – keine Entschuldigungen, vorzubringen, die jedoch mit dem Thatbestände nicht in Uebereinstimmung stehen. Es schreibt:

»Die letzte Vorstellung von ›Heimchen am Herd‹ im Hofoperntheater, der Se. Majestät der Kaiser Franz Josef und die deutschen Majestäten beiwohnten, hatte gestern ein – parlamentarisches Nachspiel. Im Club der Vereinigten deutschen Linken führten nämlich einige Abgeordnete Beschwerde darüber, daß die Generalintendanz der Hoftheater dem Abgeordnetenhause zu dieser Vorstellung blos zehn Sitze, und noch dazu Galeriesitze, zur Verfügung gestellt habe. Die Clubleitung versprach auch, im Sinne der Interpellanten Schritte einzuleiten. Diese werden wohl bald die Ursache dieser der Bedeutung des Abgeordnetenhauses nicht entsprechenden Theilnahme an der erwähnten Opernvorstellung aufklären. Es wird vor Allem erhellen, daß die erwähnte Vorstellung keinen officiellen Festcharakter hatte, daß die Karten (mit Berücksichtigung der Abonnenten und Stammsitzinhaber) wie bei einer Suspenduvorstellung verkauft worden sind; weiters, daß das Abgeordnetenhaus, dem bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich Sitze reservirt werden, zur Zeit der Vorbereitung dieser Vorstellung nicht tagte, und daß diese zehn Galeriesitze – man placirt doch Abgeordnete gewöhn1ich nicht auf die Galerie – auf das durch ein berufenes Organ des Hauses ausdrücklich gestellte Verlangen ausgefolgt worden sind.«

Dieser Darstellung gegenüber ist vor Allem richtigzustellen, das Abgeordnetenhaus zur Zeit der »Vorbereitung« nicht tagte, wohl aber am Tage der Vorstellung zu seiner ersten Sitzung versammelt war, eine Thatsache, die selbstverständlich bekannt sein mußte. Die vorgefallene Ungeschicklichkeit ist nicht milder zu beurtheilen, wenn ein »berufenes Organ« des Abgeordnetenhauses an derselben mitschuldig war. Die Herren von den Hofämtern müssen sich doch selber darüber klar gewesen sein, daß man Abgeordnete auch dann, wenn das Haus nicht tagt, nicht auf die vierte Galerie placiren kann. Es erweist sich in diesem Falle als höchst unzweckmäßig, daß ein untergeordnetes staatliches Organ den Herrn und Meister in der Mißachtung des Parlamentarismus copirt. Übrigens hat Graf Badeni die »Führung« nur für das parlamentarische Theater beansprucht; es ist ihm aber gewiß nicht beigefallen, so weit zu gehen wie sein Famulus, welcher es versucht hat, die Volksvertreter auf die vierte Galerie des Opernhauses zu führen.
(Neues Wiener Journal vom 18. April 1896)