Seine melodische Erfindung ist keine sehr leichtflüssige
»Das Heimchen am Herd.«
(Oper in 3 Abtheilungen. Text – frei nach Dickens – von A. M. Willner. Musik von C. Goldmark.)
H. W. Mit all seinem liebenswürdigen Humor, mit meisterhafter Charakteristik und poetischer Feinheit erzählt Charles Dickens in dem Märchen »The cricket on the hearth« die Geschichte von der kleinen hübschen Fuhrmannsfrau Peerybingle, die von ihrem braven Manne John zu seinem herbsten Seelenschmerze für untreu gehalten wird, weil er sie einmal zur Nachtzeit in aller Heimlichkeit und unter Liebkosungen mit einem jungen Fremden verkehren sah, welcher als Greis verkleidet von John auf der Landstraße aufgelesen und unter Johns eigenem Dache beherbergt worden war. Dieser junge Mann ist aber Eduard, der seit Langem verschollene Sohn des blutarmen Spielwaarenarbeiters Caleb, ein kräftiger Matrose, der aus Südamerika heimkehrte und nun seinen alten Vater und seine blinde Schwester Bertha, die intimsten Freunde der Familie Peerybingle, freudig überraschen will. Eduard kommt zur rechten Zeit, um ein geliebtes Mädchen, das er bei der Abreise aus England leider nicht nach Amerika mitnehmen konnte, der bereits zur Trauung ausgestreckten Hand des herzlosen Spielwaarenhändlers Tackleton zu entreißen und für sich selbst zu behalten. Die Fuhrmannsfrau, welche Eduards Mummenspiel sofort durchschaut, ihm jedoch gutmüthig geholfen hatte, seine Rolle fortzuspielen, war dadurch die schuldlose Ursache von Johns Täuschung geworden, welche zum Glücke nur eine Nacht lang währt und mit einem Freudenrausche aller an der kleinen Begebenheit betheiligten Personen endet. Das ist nun freilich an und für sich gar nichts Märchenhaftes, und doch haben allerlei gute Feen ihre Hand dabei im Spiele, damit John nicht vorzeitig in Verzweiflung falle und an dem vermeintlichen Verführer der allerliebsten Frau Peerybingle einen Mord begehe. Die vornehmste dieser Feen ist aber – eine Grille, die in ihrem Häuschen am Peerybingle’schen Herde sitzt, wo sie gut gepflegt, in Ehren gehalten wird und fleißig zirpt. Dieses »Heimchen» ist eigentlich des Hauses Schutzgeist und sein Gesang glückbringend. Das erklärt sich auf ganz einfache Art damit, daß die Grille schon seit Peerybingle’s Verheiratung an seinem Herde sitzt und zirpt. So oft nun das trauliche Heimchen sich hören läßt, erinnern sich John und seine Frau all der glücklichen Stunden, welche diese zwei schlichten, ungebildeten, aber herzensguten Menschen miteinander am eigenen Herde schon durchlebten, und wie das Heimchen alle jene frohen Stunden mit seinem freundlichen Gezirpe begleitete. Solche Erinnerungen erweckt nun im Herzen des armen John der Grillengesang auch in jener schrecklichen Nacht, als John sich von der Untreue seiner Frau mit eigenen Augen überzeugt zu haben glaubt, und so wird das Heimchen Johns Retter; alle seine Vorstellungen nehmen vor seinen Augen Gestalt an und flößen dem gequälten Geiste Beruhigung ein. So etwas kann nun allerdings nur in einem Märchen vorkommen; denn hat Einer von uns jemals eine Grille, eine wirkliche Grille – Menschengestalt annehmen gesehen? Dickens treibt den Spaß aber noch weiter und läßt uns sogar annehmen, daß ihm die ganze Geschichte von einer Grille vorerzählt worden sei, denn er nennt die drei Capitel seines Märchens ausdrücklich »Gezirpe«. Was so einem Dichter doch Alles einfällt!
Aber an was muß erst Carl Goldmark gedacht haben, als er den Entschluß faßte, das Grillengezirpe in Musik zu übertragen und eine Oper daraus zu machen! Freilich, im Dickens’schen Märchen gibt es außer dem »Gesang« des Heimchens noch anderes musikalisches Geräusch. Auch der brodelnde Kessel am Herde »singt« – nun ja, ein Engländer mag das für Gesang halten ; – der Fuhrmann Peerybingle singt, und zwar ein Lied, natürlich ein Fuhrmannslied – was für andere Lieder könnte John über seine rauhe Kehle bringen! Die blinde Bertha spielt auf ihrer Harfe – der Autor selbst sagt, der alte, schlottrige Caleb habe dieses Instrument für seine Tochter »roh« gearbeitet, er, der Schnitzer von Nußknackern, Puppen und Pferdchen mit Pfeifenschwänzen. Das Kindsmädchen im Peerybingle’schen Hause, »Fräulein Tolpatsch«, singt dem Wickelkinde des glücklichen Ehe- und Elternpaares die scheußlichsten Ammenlieder vor, während das Baby brüllt. Ganz nette Anhaltspunkte, an denen sich die Phantasie eines Componisten emporranken kann. Und die Handlung – ja wo ist denn eine? Ein unwissender Fuhrmann, der in sein junges Weibchen verliebt ist, ganz einer von jenen plumpen Leuten, die neben ihren Lastwägen, über und über bestaubt, auf der Landstraße dahinziehen, mit der Peitsche knallen und den elenden Knaster verqualmen; dann Caleb, der arme hungernde, alte Kerl, der seine Tochter fröhlich erhält, indem er ihr vorlügt, das elende Loch, das sie bewohnen, sei ein hübsches Zimmer; sein Sackleinwandkleid sei ein eleganter Anzug und der filzige Brodherr, der kalte Tackleton sei ein wohlwollender, hilfreicher Mann. Das sind die Helden des Märchens. Dann des Fuhrmanns Frau mit dem Kosenamen Dot, deren einzige Beschäftigung es ist, ihren John lieb zu haben – und die blinde Bertha, das bis zur Durchsichtigkeit zarte Mädchen, das nichts Anderes zu thun hat, als durch Blindheit zu rühren – das sind die Heldinnen. Sehen nun diese Hauptpersonen der Geschichte wie dramatis personae aus? Gewiß nicht; und die Uebrigen selbstverständlich noch weniger, insbesondere Eduard, den, der Dichter keine andere Bühnenaufgabe zuwies, als so lange den tauben Greis zu spielen und zu schlafen, bis er, sein Liebchen am Arme, mit der Erklärung eintreten kann, er habe soeben geheiratet. Wenn Goldmark trotzdem nicht davor zurückschreckte, auf solchen Fundamenten eine Oper aufzubauen, so mögen in des Tonkünstlers Herzen wohl einige jener Töne, die aus den Herzen der Dickens’schen Märchengestalten hervorquellen, ein Echo gefunden haben, und in den Gemüthern der oben genannten Menschen gehen allerdings große Dinge vor, da entwickelt sich vor dem Auge des Psychologen ein bedeutsames Schauspiel, das mit Macht nach musikalischem Ausdrucke drängt, nicht ein Schauspiel äußerer Thaten, sondern innerer seelischer Vorgänge. Wer nach dieser Richtung hin jemals etwas Herrliches, Ergreifendes, Erhebendes und rein Menschliches in der poetischen Literatur gefunden hat, der vergleiche damit die Scene, welche der durch die vermeinte Untreue seiner Frau zerschmetterte John in einsamer Nacht an seinem häuslichen Herde erlebt, nur umgeben von den Gestalten seiner Erinnerung, die des Heimchens Zirpen in ihm aufsteigen läßt. Diese Scene kann den Vergleich mit Allem, was die Kunst Hehres geschaffen hat, kühn aushalten. Und was muß diese Scene für einen Musiker, ja gerade für einen dramatischen Componisten sein! Aber – aber – welch ein Tondichter gehört dann auch für diese Scene! … Gelingt es ihm ferners, die übrigen Vorgänge des Märchens gut zu gruppiren, die Charaktere zu individualisiren, keine Monotonie auskommen zu lassen, dem Ernste und der Wehmuth das Heilere und Drollige, dem kargen Alltagsdasein den Reichthum des Gemüthslebens, dem Elende den Trost an die Seite zu stellen – gelingt ihm das Alles, dann darf er sich das »Heimchen am Herde« zum Opernstoffe wählen. Er wird auch dann noch darauf verzichten müssen, ans dem Dickens’schen Märchen ein Drama zu machen, wird aber doch aus größtmögliche Anschaulichkeit der Vorgänge bedacht sein und sich nicht einer abstracten Musik in die Arme werfen. Denn es handelt sich um die Darstellung von poetischer Realität, nicht um philosophisch-moralische Reflexionen; und bei seinem Unternehmen wird er den größten Vortheil daraus ziehen, den vom Dichter gewiesenen Weg zu betreten, auf der Bühne auch die Bilder der Phantasie jene lebendige Gestalt annehmen zu lassen, deren uralte Heimat eben die Märchenwelt ist. So denken wir uns das »Heimchen am Herde« als Oper, an der es für den Textdichter wie für den Componisten genug zu arbeiten gibt, wenn sie das Ziel vor Augen haben, die Originalerzählung in eine bühnengerechte Form zu kleiden, ohne der tiefen Poesie des Dickens’schen Gedichtes Eintrag zu thun. Die Schale muß zerbrochen, der Kern aber unverletzt erhalten werden.
Willner, der Verfasser des Textbuches, hat nun bei Umgestaltung des Stoffes einige recht zweckmäßige Aenderungen vorgenommen. Das sentimentale Paar Caleb und Bertha ist eliminirt, Fräulein Tolpatsch desgleichen. Daß auch das Wickelkind aus der Welt geschafft und der Dot sammt ihrem Manne nur die Hoffnung auf einen Sprößling gelassen wurde, das gefällt uns weniger. Denn nicht die Hoffnung, sondern die Erinnerung ist der beruhigende Balsam, welchen Dickens in Johns wunde Brust träufelt. Das Kind braucht ihm nicht erst versprochen zu werden, er hat es ja schon als theures Liebespfand von seiner Dot erhalten. Daß Eduard und seine Geliebte als Bühnenfiguren mehr in den Vordergrund gerückt werden, ist begreiflich; bloß durch Taubsein und Schlafen empfiehlt sich kein Liebhaber dem Theaterpublicum. Nur vermag uns das Liebespaar Eduard und May auch in der ihm vom Librettisten eingeräumten bevorzugten Stellung kein dramatisches Interesse abzugewinnen. Die zwei Liebenden nehmen den Raum von Hauptfiguren des Stückes ein, ohne in Wirklichkeit solche zu sein, denn der Schwerpunkt der Situation liegt ja ganz anderswo. Das Verhältniß Eduards zu May hat für den Sinn des Märchens gar keinen Belang, Eduards poetische Existenz erscheint einzig und allein darin begründet, daß er der Dot Anlaß gibt, ohne ihr Wissen und Wollen die Eifersucht ihres Mannes zu erregen. Da die Art, wie der englische Dichter dies bewerkstelligt, scenisch nicht gut durchführbar wäre, kam Willner auf den glücklichen Einfall, die weibliche Eitelkeit der jungen Frau als Hebel zu benützen. Eduard hat nämlich aus Amerika Schmucksachen mitgebracht, die er – noch als Greis verkleidet – vor Dot und May ausbreitet, und an denen das Weibchen, wie John ungern bemerkt, lebhaftes Gefallen findet. Dann entfernt sich der Fuhrmann, um seine Frau im Verkehre mit dem Fremden heimlich zu belauschen. Mittlerweile erkennt jedoch Dot in dem Greise den jungen, ihr nahe befreundeten Eduard, und da ihr nicht entgeht, daß John auf der Lauer steht, so erlaubt sie sich den Scherz, ihren Gatten ein bischen eifersüchtig zu machen. Das ist gut ersonnen. Leider bleibt dann die Seme, in welcher sich beim braven John die böse Wirkung des übereilten Spaßes äußert, und die Art, wie das Heimchen den Armen tröstet, sehr weit hinter der des englischen Originals zurück. Was bedeutet Willner’s Elfenreigen gegenüber dem Dickens’schen Elfenchore, der vor Johns Augen die Bilder seines mit Dot erlebten Glückes vorüberziehen läßt und an ihn bei jedem Bilde die so einfache, und doch so ergreifende Frage richtet: »Ist es Diese, die Dich betrogen hat?« Nein, Willner zeigt uns kein Seelenerlebniß, sondern eine gewöhnliche Opernfeerie, und das thut uns um des »Heimchens« willen sehr leid. Daß zum Schluße Alles gut abläuft, ist selbstverständlich; es geht recht lustig zu wie bei einer anderen komischen Oper. Den hübschen Gedanken, alle Gestalten des Märchens nach dem heiteren Ende der Geschichte in Nichts zerfließen zu lassen, hat bekanntlich schon Dickens gehabt.
Wir haben dem dichterischen Grundstoffe der Goldmark’schen Oper und seiner Bearbeitung zum Textbuch deswegen eine eingehende Beachtung geschenkt, weil uns jener durch seine volksthümliche und wahrhaft sittliche-schöne Idee ebenso anzog wie durch die Vortheile und Schwierigkeiten, die er für eine operistische Behandlung darbietet, während aus der Vergleichung des Operntextes mit der englischen Erzählung klar hervorgeht, wie sich der Librettist und der Componist zum Urbilde ihres Kunstwerkes stellten, wie sie es auffaßten und was sie nicht wollten. Sie erblickten im »Heimchen« eine willkommene Unterlage für eine mannigfaltige, charakteristische und allgemein ansprechende Musik; Graziöses und Groteskes, leichte Sentimentalität und frische Natürlichkeit, Lied und Chorlyrik, heitere und ernste Momente boten sich ungezwungen dar, nur sollte der Ernst nicht so ernsthaft sein, wie Dickens ihn nahm, es sollten die Gefühle im Gleichgewichte bleiben, und darum sollte aus dem »Heimchen« kein Seelengemälde und Stimmungsbild »nach Dickens«, sondern eben – eine komische Oper werden, welche einem gesellschaftlich angenehmen Mittelmaß von Gefühlen Ausdruck gibt und wohl auch gestattet, daß der Schatten einer Wetterwolke über die lachenden Gefilde episodisch dahinfliege. Goldmark stellte also das »Heimchen« – vielleicht des sichereren Erfolges wegen – um eine Stufe niedriger als wir aus idealen Kunstrücksichten gewünscht hätten; es geschah dies jedoch ohne Zweifel nicht zufällig, sondern mit Absicht, denn daß er als Operncomponist von Hause aus ein Tragiker ist, hat er mit der »Königin von Saba« und mit »Merlin« bewiesen. Und eben darum war ein heiteres Bühnenwerk Goldmark’s für das große Publicum gewiß eine Ueberraschung. Doch nicht auch für uns; wir wissen ja, daß seine Muse zuweilen auch glitzernde Schmetterlingsflügel trägt, und so hatte er kein Bedenken, sie mit denselben zur Abwechslung einmal auch über die Bühne fliegen zu lassen. Seine melodische Erfindung ist keine sehr leichtflüssige, und wie uns scheint, hat er sich in seinem neuesten Werke zu sehr damit begnügt, nur die Oberfläche der Erscheinungen zu beleuchten und sich als Musiker an die conventionellen Ausdrucksweisen einer romantisch-komischen Oper zu halten. Was indessen die äußere Wirkung betrifft, so ist es ihm allerdings gelungen, dem »Heimchen am Herd« eine gefällige, farbenreiche Gestalt zu verleihen, mit der er darauf rechnen kann, dem Theaterpublicum und den Operndirectionen Freude zu machen. Die Sicherheit, womit Goldmark die den »dramatischen« Componisten unentbehrlichen Behelfe und Erfahrungen dem praktischen Zwecke seines Schaffens nutzbar macht, berührt entschieden wohlthuend; nur beim Handwerker ist auch die Routine bloßes Handwerk; der Künstler bedarf ihrer so gut wie jener, adelt sie aber durch seinen Geist und erhebt sie zum wichtigen Factor eines Kunstwerkes. Auch dem Kritiker ist es angenehm, sicheren Boden zu finden; das erleichtert ihm seine Arbeit, er kann mit Beiseitelassung von Einzelnheiten und Nebendingen direct auf die Hauptsache losgehen.
Ueber die erste Aufführung des »Heimchen am Herd« im Wiener Hofoperntheater und über die Aufnahme, die das interessante Werk beim hiesigen Publicum gefunden hat, berichten wir an anderer Stelle.
(Wiener Sonn- und Montags-Zeitung vom 23. März 1896)