… ein geradezu volksthümliches Gepräge …
»Das Heimchen am Herd« Oper in drei Abtheilungen (frei nach Dickens’ gleichnamiger Erzählung) von A. M. Willner . Musik von Karl Goldmark.
Ungefähr vor Jahresfrist gelangte die Kunde in das große Publicum, daß Karl Goldmark nach zehnjähriger Pause an einer neuen Oper arbeite, noch dazu an einer Vertonung des »Heimchen am Herd«, jener reizenden Weihnachtsidylle Dickens’, welche, wie selten eine Erzählung, geistiges Gemeingut aller Nationen geworden ist. Die Ueberraschung war eine große, da man dem pathetischen, der düsteren Tragik gerne zuneigenden Componisten, noch dazu in so vorgerücktem Alter, einen derartigen Frontwechsel kaum zugemuthet hätte. Sieht man nur näher zu, so kann man allerdings an diesem Entschlusse nichts so Überraschendes finden, da sich doch bereits in der »Ländlichen Hochzeit«, der »Frühlingsouverture«, einzelnen Kammermusiksätzen, sowie in einer Reihe der heute allerdings nicht mehr recht gewürdigten Clavierstücke des Meisters Lust und Fähigkeit manifestirte, auch dem idyllischen, heiteren, fein-komischen Elemente in der Musik vollkommen gerecht zu werden. Man wäre sogar beinahe versucht, den Nachweis zu erbringen, daß die geheimsten Saiten seiner im Wohllaute schwelgenden Seele ihn geradezu auf dieses Gebiet der natürlichsten, mit den reinsten musikalischen Mitteln arbeitenden Harmonie verweisen. Der Umstand, daß Goldmark in seinen beiden früheren Opern, der »Königin von Saba« sowohl, als auch im »Merlin«, einer sinnlich-schwülen, phantastischen, oft direct an’s Mystische streifenden Tragik formvollendeten Ausdruck verlieh, beweist eben nur, wie sehr ihm die Fähigkeit eigen, vollkommen in den zu vertonenden Stoff aufzugehen und mit großer Feinfühligkeit dem entwickeltsten technischen Können alles Wesentliche und Charakteristische desselben bis auf den letzten Rest herauszuarbeiten. Diejenigen, welche der »Königin von Saba« den Vorwurf machten, sie sei nichts weiter als ein opernhaftes Großziehen orientalischer, präciser ausgedrückt, jüdischer Melodik, haben dem Componisten ebenso Unrecht gethan, wie Jene, welche im »Merlin« nicht mehr als ein vollkommenes Aufgeben der eigenen Individualität zu Gunsten Wagner’scher Maximen erblicken wollten. Hier wie dort hat der Stoff, sollte er überhaupt musikalisch richtig zur Geltung kommen, zur absoluten Nothwendigkeit gemacht, was einseitig als Mangel ausgelegt wurde. Daß dieses Anpassungsvermögen des Componisten nicht etwa nur ein auf die vorerwähnten Gebiete begrenztes sei, hat er mit seiner jüngsten Oper auf das Glänzendste bewiesen, und vielleicht ist es gerade dem eigenartigen Reize, diesen Beweis zu erbringen, zuzuschreiben, daß er mit wahrem Feuereifer an diese Arbeit ging und sie in der Zeit von elf Monaten bis in die letzten Details vollendete.
Ein gewisser Parallelismus auffallender, bedeutender Erscheinungen wie auf manch’ anderem, so auch aus musikalischem Gebiete läßt sich bei dem Hinweise auf Verdi’s »Falstaff«, Johann Strauß’ »Waldmeister« und Goldmark’s »Heimchen am Herd« schwer leugnen. Alle landläufigen Begriffe über Senilismus in der Kunst werden durch diese drei Werke völlig verschoben, von denen jedes einzelne geradezu eine jugendliche Elasticität der Ausdrucksfähigkeit aufweist. Diese »alten Herren« sind aber nicht etwa auf das Anstaunen der Curiosität angewiesen, daß sie überhaupt noch leistungsfähig sind, und es hieße ihnen gleichmäßig Unrecht thun, wollte man an ihre jüngsten Werke bloß diesen relativen Maßstab anlegen. Ganz absolut genommen haben sie werthvolles Neues geschaffen und die beiden Tragiker speciell Johannistriebe der heiteren Muse an sich erlebt, die sie zu bedeutenden Schöpfungen begeisterten. Daß der jüngere Goldmark den älteren Verdi diesmal an Erfindungsgabe und Melodik weit überragt, sei gleich hier constatirt.
Sein Librettist A. M. Willner hat von der Dickensschen Erzählung eigentlich nur den Titel und das spärliche Knochengerüste der Handlung herübergenommen. Der bleibende Werth dieses Hausmärchens beruht in allerletzter Linie nicht aus derselben, sondern aus der unübertrefflichen Zeichnung und Färbung gerade jener Figuren, die in der Oper entweder gar nicht oder nur ganz verstümmelt vorkommen. Es ließe sich darüber streiten, ob die Freiheit in der Bearbeitung wirklich bis an diese äußerste Grenze gehen mußte und ob der Autor, der bisher nur gewöhnt war, mit dem Auge des Balletdichters zu sehen, nichts von jener rührenden Poesie, in sein Buch hätte hinüberretten können, an der das Original so reich ist. Um dem so verbleibenden Rest die gebührende Länge eines Theaterabends zu verleihen, war es nothwendig, wiederholt retardirende Momente eintreten zu lassen, welche die, wie gesagt, ohnehin dürftige Handlung über Gebühr zerdehnten. Allerdings wurde dadurch die Gelegenheit zur Entfaltung einer echt märchenhaften Pracht in der Traumscene und der streng genommen ganz opernwidrigen Apotheose, welche zum großen Erfolge des Werkes unleugbar ihr Theil beigetragen hat. Außerdem hat Herr Willner eine Reihe sehr sanglicher, der Eigenart des Componisten glücklich angepaßter Liedertexte beigestellt und, abgesehen von einigen starken Unwahrscheinlichkeiten, seine Handlung so vernünftig und vor Allem bühnenwirksam gegliedert, daß sein Verdienst nicht geschmälert werden soll.
Wenn die Rückkehr zur ausgesprochenen, natürlichen, jeder krankhaften Verzerrung abholden Melodie wirklich – wie gewisse Kreise zu meinen scheinen – einen Rückschritt in der Entwicklung der dramatischen Tonkunst bedeutet, dann darf Goldmark das in diesem Falle gewiß nur schmeichelhafte Prädicat eines entschiedenen Reactionärs für sich in Anspruch nehmen. Wie es der Stoff mit sich bringt, zeigen die meisten seiner Motive ein geradezu volksthümliches Gepräge – volksthümlich freilich in jenem höheren Sinne, dessen Grad nicht an der Leierkastenpopularität bemessen werden kann – ja in dem symphonischen Vorspiele zum dritten Acte und den Chören desselben erscheint das deutsche Lied »„Weißt Du, wie viel Sterne steh’n« direct verwendet. Nur weiß der Componist auch der einfachen und schlichten Melodie in der Orchesterbegleitung ein durchaus modernes Gewand zu geben. Ohne der menschlichen Stimme irgend gefährlich zu werden, mit einer leuchtenden Klarheit, voll Witz und Humor, erscheint das Orchester verwendet, dem Gesänge nicht übergeordnet, aber vollwerthig gleichgestellt. Seit langer Zeit läßt sich wieder das Ereigniß verzeichnen, daß das Publicum auch wirklich verstanden hat, was ihm die Sänger zu singen und zu sagen haben. Dabei ist es dem Componisten gelungen, den an immer neuen, interessanten Wendungen reichen Charakter seiner Musik festzuhalten und so trotz der vielen disparaten Momente eine Einheitlichkeit des Styles zu erzielen, die es beinahe als Unrecht erscheinen läßt, Einzelnes auf Kosten des Ganzen hervorzuheben. Merkwürdiger Weise ist gerade dort, wo sich in der Verzweiflungsarie des John über die vermeintliche Untreue seines Weibes die Musik zu jener pathetischen Tragik aufschwingt, die angeblich des Componisten ureigenste Domäne sein sollte, lange nicht jene Wirkung zu verzeichnen, welche sowohl den lyrischen, als den humoristischen Partien der Oper den ganzen Abend über treu blieb. Die Wucht dieser Tragik fällt eben etwas aus dem Rahmen der sonst so glücklich festgehaltenen, einfachen Tonweise und ist weder im Charakter des Dickens’schen John, noch in der Entwicklung der Oper genügend begründet. In diesem einen Momente hört die Musik auf, jene innere Wahrheit des Ausdruckes zu zeigen, welche die ganze übrige Partitur auszeichnet.
Der erste Act mit seiner etwas zu breit gerathenen Exposition bringt nach einem stimmungsvollen Prologe des unsichtbaren Elfenchores, der von dem zu einer Art Fee personificirtcn Heimchen in einer lieblichen Ariette ergänzt wird, jene Arie der Dot, welche, im dritten Acte wiederkehrend, nebst dem Quintette des zweiten Actes wohl als die musikalisch gehaltvollste Nummer der Partitur zu bezeichnen ist. Die folgende Scene der May leitet mit ihrem besonders im Orchester sehr geistreich festgehaltenen Conversationston zu einem frischen Fuhrmannslied des John über, an welches sich nach dem im volksthümlichen Ausdrucke besonders glücklichen Liede Eduard’s an die Heimat der außerordentlich wirkungsvolle Chor der Dorfleute schließt, die in den Ensemblesätzen sowohl, als in einigen kleinen Solis die ungeduldige Erwartung jener Zeit, in welcher das Erscheinen der Post noch zum Ereigniß wurde, sehr charakteristisch wiedergeben. Das Heimchen, dem eigentlich sämmtliche Actschlüsse zufallen, zieht mit einigen neckischen Tacten den Vorhang des ersten Actes zu. Der zweite Act bringt an größeren selbstständigen Nummern nach dem feinkomischen Entréelied Tackleton’s eine zweite, im Stimmungswechsel ergreifende Arie Eduard’s. Das Walzerrondo der Frau Dot hat in seiner frischen Melodik allgemein die Erinnerung an besten Strauß wachgerufen. Ueber das Quintett, sowie die große Arie John’s wurde das Wesentlichste bereits erwähnt. Die nun folgenden Elfenchöre, sowie das Traumbild lassen Goldmark in der oft bewährten Meisterschaft, dem Orchester das glänzendste, farbenreichste Colorit zu geben, feiner Musik wirklich eine Art von überirdischem Zauber zu verleihen, erscheinen. Hier sowie in dem enthusiastisch zur Wiederholung erzwungenen Vorspiele zum dritten Acte feiert eigentlich der Symphoniker die größten Triumphe. Was dem Componistcn seit vielen Jahren die ungetheilte Bewunderung des Publicums gewann, findet sich in diesen Nummern wieder; Erfindung, Schwung und Feuer des Rhythmus, die souveräne Beherrschung einer vollendeten, niemals über die Grenzen des besten Geschmackes hinausgehenden Technik reichen sich gleichmäßig die Hano zu einem wahrhaft sinnberückenden Ensemble. Aus dem dritten Acte sind die auf Motive des Vorspieles aufgebauten Chöre, das Seemannslied Eduard’s, sowie die Schlußmusik besonders zu erwähnen. Das Duett der endlich vereinten Liebenden hat durch die Unzulänglichkeit der Stimmmittel des Frl. Abendroth viel von der Wirkung eingebüßt, die es, Dank seiner vornehmen Innerlichkeit, verdient.
Die Novität fand eine seit Jahren nicht mehr dagewesene enthusiastische Aufnahme. Die Mitwirkenden mit dem Componisten, endlich dieser allein, wurden immer wieder vor die Rampe gejubelt. Da half kein Sträuben des vor jeder Ovation ängstlich zurückscheuenden Meisters; von seinen Bundesgenossen – aber auch nur in diesem Augenblicke – im Stiche gelassen, mußte er immer wieder sein graues Haupt mit den jugendlich leuchtenden Augen dem Publicum preisgeben, das nicht müde wurde, dieser so reichen Künstlernatur seine aufrichtigen Huldigungen darzubringen. Die Aufführung selbst gestaltete sich zu einer jener Großthaten, welche den Ruhm unserer Oper in immer weitere Kreise zu tragen geeignet erscheinen. Fräulein Renard als Dot voll sinniger Liebenswürdigkeit und neckischer Laune, Frau Forster, welcher als Heimchen der ganze liebreizende Zauber ihrer Erscheinung besonders zu Gute kam, die Herren Schrödter, Ritter und Reichenberg, gleich vollkommen in Spiel und Gesang, sind mit höchstem Lobe zu nennen. Fräulein Abendroth mit ihrer trockenen, kalten Stimme, ihrem conventionellen, ausdruckslosen Mi[e]nenspiel blieb in der Wirkung weit hinter den Genannten zurück. Der Regie sei wegen der äußerst stimmungsvollen Inscenirung der Hauptscenen ein in der Wahl der Einrichtung und Costüme gleich störender Anachronismus nicht zu hoch angerechnet. Direktor Jahn führte das Orchester zu einem jener Siege, welche, so sehr wir auch an ähnliche gewöhnt sein mögen, jedesmal den Charakter der freudigsten Ueberraschung an sich tragen. Moriz Baumfeld.
(Wiener Montags-Journal vom 23. März 1896)