… viel mehr Befriedigendes als Ungenügendes

Das Heimchen am Herd.

Oper in 3 Abtheilungen (frei nach Dickens’ gleichnamiger Erzählung) von A. M, Willner. Musik von Carl Goldmark.
Erstmalige Aufführung im Neuen Stadttheater zu Leipzig am 9. October 1896.

Auf ihrem Wege über die Bühnen Deutschlands und Oesterreich-Ungarns ist Carl Goldmarks neueste Oper »Das Heimchen am Herd« nun auch in Leipzig angelangt und von der Direction des dortigen Stadttheaters am 9. October erstmalig dem Publicum dargeboten worden. Es ist nicht das erste musikalisch-dramatische Erzeugniß Goldmark’s, um das es sich hier handelt, sondern das dritte, und mit dem zuerst an das Lampenlicht getretenen – der „Königin van Saba“ – hat Leipzig bereits vor längeren Jahren Bekanntschaft gemacht, während das zweiterschienene – »Merlin« – der genannten Stadt vorenthalten geblieben ist (und allem Anschein nach auch wohl bleiben wird). Inzwischen hat Goldmark als Instrumental-Componist sich in Leipzig (und auch anderwärts) noch manchen nennenswerthen Erfolg geholt und seinen Ruf als schaffender Tonkünstler mehr und mehr befestigt, so daß man auch seiner neuesten operistischen Bethätigung mit Spannung und Interesse entgegen sehen durfte. Und in der That sind die Erwartungen nicht getäuscht worden, und man hat der Musik zum »Heimchen am Herd« manchen hocherfreulichen Genuß zu verdanken.

Paula Doenges (»May«)

Zuvörderst ist betreffs dieser Musik zu bemerken, daß Goldmark nicht nur, wie es in seinen beiden ersten Opern vorwiegend der Fall ist, dem Ausdruck des Hochpathetischen, Mystischen, Sinnlichberauschenden und Tiefleidenschaftlichen zu fröhnen, sondern auch Töne des Naiven, Schalkhaften, Freundlichen und Volksthümlichen anzuschlagen weiß. Sodann rührt die Musik zum »Heimchen« von einem so eminenten Kunstverstande und so souveränen Beherrschung der Darstellungsmittel her, daß man insonderheit durch die entzückend feine Meisterhaftigkeit der Orchesterbehandlung wohl hie und da über vorkommende Unzulänglichkeiten der Erfindung und Absonderlichkeiten des Harmonisch-Modulatorischen ebenso hinweggetäuscht wird wie über einiges Ueberspannte und Corrupte der Characterisirung. Alles in Allem genommen weißt [!] die Partitur viel mehr Befriedigendes als Ungenügendes auf und in allen drei Acten der Oper ist der Komponist dem Willner’schen Libretto – halb Dorfgeschichte, halb Märchenspiel – nicht nur bis auf Weniges in verständnißvoller Weise gerecht geworden, sondern hat es sogar auch über seine (des Libretto) nicht grade erhebliche Vorzüglichkeit, wenn auch nicht grade Ungeschicktheit in der scenischen Verwerthung des reizenden Dickens’schen Novellenstoffes, wesentlich emporgehoben. Ein kleiner Vorwurf, der dem Componisten noch zu machen wäre, ist der, daß er manche der Nummern etwas zu breit angelegt und ausgeführt hat, namentlich die, in welchen das zirpende Heimchen seine Rolle spielt.

Der Erfolg, den Goldmark’s Oper bei ihrer ersten Leipziger Aufführung erzielte, war ein ausgesprochen günstiger, besonders nach dem 2. und 3. Acte. Die Darstellenden hatten sich zahlreicher Hervorrufe zu erfreuen – für die Damen fehlten auch die üblichen Blumenspenden nicht – und das instrumentale Vorspiel zum 3. Acte, in der That eine der reizendsten Nummern der Oper, wurde zur Wiederholung begehrt und diese mit der zweiten Hälfte auch gewährt.

Otto Schelper (»John«)

Die Ausführung selbst – unter Leitung des Herrn Kapellmeisters Panzner – war sorgfältig vorbereitet und ging mit meist befriedigender Rundung und Präcision von Statten. Das Orchester löste seine nicht eben leichte Aufgabe mit Feinheit und Verve, und dem Chor ist recht Gutes nachzusagen. Von den Interpretirenden verdienen Herr Schelper (John), Fräulein Kernic (Dot), Herr Neldel (Tackleton) und Fräulein Osborne Heimchen) die Palme; Fräulein Dönges(May) und Herr Merkel(Edward Plummer) hatten wenigstens gute Momente in Gesang und Spiel. Die Inscenirung war eine ebenso sinnige wie glänzende, und besonders die neuen Decorationen fanden allgemeinste Zustimmung. E. Bernsdorf

(Signale für die musikalische Welt vom 13. Oktober 1896, Nr. 50)