… die Disposition klar, die Absicht immer verständlich

Concerte.
»Ich wollt’, meine Schmerzen ergössen sich all’ in ein einzig Wort!« … Was die Sprache dem Dichter verweigert, kann die Musik dem Tondichter gewähren, oder sie wäre wahrlich nicht die Kunst, welche sie ist, und der liebe Gott hätte statt der ohnmächtigen Musik lieber lauter mächtige Ästhetiker erschaffen müssen. In den ersten Harfen-Accord der Goldmark’schen »Ouvertüre zu Sappho« haben sich alle Schmerzen der edlen Dichterin ergossen. Es ist eine Dissonanz, die nicht weh thut, sondern nur auf Weh deutet. In genialer Weise läßt Goldmark in diesen ersten Accord die Dur- und Moll-Harmonie*) ineinanderfließen in der weichen, zitternden Klangfarbe der Harfen. So faßt dieser Accord, welcher sich überdies sofort in eine allseits befriedigende Consonanz auflöst, wie ein musikalisches Motto schon die Stimmung des ganzen Werkes zusammen, das Schwanken zwischen Dichterwonne und Liebesleid. Sollten ängstliche Gemüther sich an die Dissonanz zu Beginn des Werkes stoßen, so könnte man ihnen ein Register mustergiltiger Werke entgegenhalten, welche auch nicht freundlicher beginnen, vor Allen die Adagio-Einleitungen zu Beethoven’s erster Symphonie und dessen Prometheus-Ouverture. Beginnen nicht auch lyrische Gedichte mit einer Gedanken-Dissonanz, wenn etwa Heine sagt: »Der Sturm spielt auf zum Tanze?« Sturm und Tanzmusik scheinen erst unvereinbar. Oder: »König ist der Hirtenknabe« – die dissonirenden Begriffe »König« und »Hirtenknabe« lösen sich sofort in eine Consonanz der Gedanken auf, wenn der Dichter erklärend fortfährt: »Grüner Hügel ist sein Thron.« …

In den Harfen-Accorden, welche der neuen Ouvertüre Goldmark’s präludiren, glaubt man die Saiten der Sappho rauschen zu hören. Selbst ein Thema und Gesang, werden die Accorde Begleitung, indem eine elegische Melodie der Oboe sich darüber spannt. Wie alles Gold wurde, was König Midas berührte, so wird Alles, was Goldmark berührt, zur östlichen Triole. Die Melodien der Griechen oder gar der Griechinnen weiß heute Keiner nachzubilden. Darum läßt Goldmark die Sappho singen wie er selbst zu singen pflegt. Wollte man aber dem Componisten die orientalische Färbung der Sappho-Melodie ernstlich vorwerfen, so könnte er mit dem Hinweis ans Lesbos, die Heimat der Sappho, mit dem Hinweis auf die lesbische Schule erwidern, welche sicher mehr orientalischen als hellenischen Charakter zeigte. Wie Frankreich unsere Literatur beherrscht, wie italienische Einflüsse unverkennbar sind bei unseren Classikern, so hat der Orient der hellenischen Kunst Anstoß, Richtung und Farbe gegeben. … Das Leben der Sappho zeigt Goldmark in einem kunstreich und geistvoll, mit glühenden Farben ausgeführten Tongemälde: Das Hauptmotiv (Ges-dur) des Allegro-Satzes, welches sich frei und jubelnd aufschwingt, dann das innig schwärmerische Liebesmotiv in B-moll, welches tief in Schmerzen wühlende Harmonien Durchbrechen, das Aufwallen, leidenschaftliche Aufbäumen und Niedersinken und endlich der verhängnißvolle Sturz. Daß Sappho sich gerade vom leukadischen Felsen ins Meer stürzte, kann die Musik freilich nicht ausdrücken. Geographische Bestimmungen liegen ihr fern. Die Dynamik des Stürzens kann sie aber, wie in der Goldmark’schen Ouvertüre, umso sicherer zum Ausdruck bringen. Die abspringenden verminderten Intervalle, nach der machtvollen Entfaltung des Sappho-Themas kann man gar nicht anders denn als Orchestersturz bezeichnen. Die Symbolik der Töne, welche uns von aufsteigenden und niedersteigenden Tonfolgen, von Tonstufen, von Tonleitern sprechen läßt, drängt uns auch einen »Tonsturz« auf, und vermöge der Association unserer Vorstellungen kommt uns sofort der Sturz der Sappho in den Sinn. An diesen geheimnißvollen Beziehungen und Wirkungen der Musik wird eine im mißverstandenen Formalismus erstarrte, längst antiquirte Aesthetik nichts ändern können. Meisterlich sind die Themen der Goldmark’schen Ouvertüre durchgeführt; in immer neuer Färbung, von der Solo-Violine getragen, kehrt der Gesang der Sappho wieder, die Combinationen der Form und des Klanges scheinen unerschöpflich. Dabei ist die Disposition klar, die Absicht immer verständlich. Mit den Mitteln des Orchesters und der Harmonik spart Goldmark nicht. Bei ihm ist Alles höher getrieben, die Modulation sprunghaft, die Empfindung überhitzt. Man würde dem schlichten, liebenswürdigen Künstler stets nur ein freundliches F-durzutrauen, er hebt aber sofort mit sechs Versetzungszeichen an und jagt uns mit frischem Jugendmuth über Stock und Stein durch den ganzen Quintencirkel. Wer da marschfähig ist, wird den Wegen des Componisten in dem bedeutenden Werke stets angeregt und mit Bewunderung folgen. Das Publicum hat in dem dritten philharmonischen Concerte die Aufführung der Ouvertüre mit starkem Interesse begleitet und mit herzlichem Beifall, für welchen der Componist persönlich danken mußte, gelohnt. Den Fachmann setzte auch die rein technische Vollkommenheit der Aufführung in Staunen. Die virtuose Ausführung unter der Leitung Hans Richter’s ließ die ungewöhnlichen Schwierigkeiten der Partitur kaum ahnen. Die Philharmoniker haben wenig schwerere Werke im Archiv. Dem Concertmeister Rosé gebührt besondere Anerkennung für die Sicherheit, edle Kraft und Wärme seiner Soli. …

* Ges-dur und Es-moll, wie im Nebenseptimen-Accord der ersten Stufe.