Der »andere« Merlin − das ist reiner unverfälschter Wagner

Berliner Brief.
(Erste Aufführung des »Merlin« von Philip Rufer [!].)
12. März 1887.

Nun herrscht hier wieder eitel Lust und Freude. Das Septennat ist angenommen, sagte sich Bismarck befriedigt und gab seinen Freunden ein Diner. Das Septennat ist angenommen, sagte ein Vorstadttheater-Director, zu einem jungen Autor und Ihr Stück ist es auch; denn mein lieber Freund, was nützen mir all Ihre glänzenden Ein- und Ausfälle, wenn ich kein Publicum habe, das sie hören will? Nun aber kehrt das Publicum reuig zurück, und entschädigt sich für die Tage der Franzosenfurcht und Kriegsangst in reichlichem Maße, und den vollen Ton des allgemeinen Jubels vermag nicht einmal der scharfkritische Kassandraruf autoritärer Schwarzseher abzudämpfen.

Die Direction der königlichen Hofoper hatte daher zur Aufführung einer neuen Oper keinen günstige[re]n Zeitpunkt wählen können. Jetzt besitzt das Publicum noch ungetrübte Empfänglichkeit; mit der Begier eines Durstgepeinigten greift es nach jedem Mittel der Erholung, und genießt es in raschen, vollen Zügen, ohne sich durch kritische Bedenken stören zu lassen. Solche sind aber auch nur wenig und in eingeschränktester Weise laut geworden. Die Berliner Theaterreporter besitzen einen starken Zug nationaler Kameraderie, und in Momenten, wie der gegebene, kommt er sichtbar zur Geltung. Vollends, wenn sich dieser Rücksicht auf die politische Lage, und das eklatante, keine kritische Beeinträchtigung duldende Vergnügungsbedürfniß die Thatsache hinzugesellt, daß ein Mann vom deutschen Stamme es ist, dessen Werk dem Publicum geboten würde. Der vielleicht dunkle Werth eines Stückes wird dann mit der Aureole des Nationalruhmes geschmückt, und von diesem bestrahlt, leuchtet der Ruhm des Autors, so lange der Freudentaumel währt.

Nun aber, er wird vorübergehen, und die Erkenntniß wird einkehren in allen Orten. Das mag Goldmark zum Troste dienen in seiner Betrübniß. Denn wahrhafte Betrübniß muß ihn erfüllen angesichts der Thatsache, welche die Zeitungen lobfreudig und beifallseifrig verkündeten: »Auf, wir haben einen ›Merlin‹, und was für einen! Goldmark’s ›Merlin‹ ist ein Gewirre von Kunstrichtungen, bald Wagner, bald sanft Mozart, bald historischer Tritt, bald romantischer Schritt. Unser Merlin aber, das ist reiner unverfälschter Wagner. Wagner sans parail«. Nun das trifft zu. Soviel ich aus den seinerzeit gelesenen Berichten über die Aufführung des Goldmark’schen Werkes ertheilen kann, hat Goldmark sein Opus nicht streng in einem Style gedacht und geführt. Allein unsere Stubengelehrten vergessen, daß das System erst das Resultat einer Reihe von Productionen und nicht etwas Ursprüngliches ist, und daß, wenn etwas nicht klipp und klar in ein bestehendes System, in ein feststehendes Schema sich einschachteln läßt, damit nur bewiesen ist, daß das Werk eben nicht in jene Schematisirung paßt. Aber es zum Vorwurfe stempeln, daß ein Componist die ausgetretenen Pfade anderer meidet, und seinen eigenen Weg wandelt, daß er er unternimmt, anscheinend widersprechende Kunstformen in einem Werke harmonisch zu vereinigen, unbekümmert darum, ob man ihm da ein Tropfen Wagner, dort einen Tropfen Rosini [!] nachweist – das ist engherzig, das ist kleinlich, und kritisirt die Kritik deutlich und scharf.

Wenige waren unvoreingenommen genug, sich dies offen und rückhaltslos zu gestehen, und von diesen Wenigen, war es Heinrich Ehrlich, der bekannte Musikrecensent, am lautesten. Er unterließ es nicht, darauf hinzuweisen, daß der Unterbau der Oper, das textliche Gerüste zu lose gefügt, und zu schwach construirt sei um das Werk lange zu tragen. Und wenn Ehrlich dies auch nicht so unverhüllt ausgesprochen, so trifft sein Urtheil das Wesen des Libretto denn doch an seinem wunden Punkte. »Triviale Handlung« nennt Ehrlich schonungsvoll, was schlechterdings sich nicht anders, als unvernünftig und reizlos bezeichnen läßt. Und wenn auch der einsichtsvolle Kritiker dies damit zu erklären sucht, daß Immermanns poetische Erzählung sich trotz aller Versuche nicht dramatisiren lassen könne, so übersieht er, daß Lipiner, der phantasievolle Dichter des »Promotheus«[!] die Schwierigkeiten der Dramatisirung in seinem »Merlin« (dem Libretto der Goldmark’schen Oper) zum großen Theile überwunden hat, und es bleibt sehr in Frage gestellt, ob die geringen Mängel der Bearbeitung nicht Rücksichten musikalischer Natur geschuldet sind; eine Frage, deren Beantwortung ich nicht versuchen kann, weil ich wohl das Textbuch von Lipiner gelesen, aber die Goldmark’sche Oper noch nicht gehört habe.

Von dem musikalischen Theile des »Merlin« von Philipp Rufer ließe sich mancherlei sagen. Doch es hieße dies nicht anderes, als die alte Streitfrage pro oder contra Wagner? aufwerfen, und dies erläßt man uns gewiß gerne. Bei Rufer ist – so wenig gerne er dies auch bekennen zu wollen scheint – eine fast sclavische Anschmiegung an den Bayreuther Tondichter nachzuweisen, und daß diese sich vornehmlich auf das rein Aeußerliche erstreckt, ist lediglich ein allen Copisten gemeinsamer Zug, welcher, wie auch hier, zur Folge hat, daß das Verständnis, und darum auch die Nachbildung der inneren und wesentlichen Eigenthümlichkeiten des Originales, überhaupt nicht zum Durchbruche kommt.

Die Besetzung der Oper war eine vorzügliche. Frl. Lola Beeth errang einen durchschlagenden Erfolg. Herr Nothmüller stellte der Vivane, des Frl. Beeth einen vollendeten Merlin zur Seite. Die übrigen Mitwirkenden genügten ihrer Aufgabe. – lie –