Die Oper geht unaufhörlich in’s Breite
»Merlin.«
Operndichtung in drei Acten von Carl Goldmark. Text von Siegfried Lipiner.
II. Die Musik.
Goldmark ist von seinem Dichterdämon diesmal an ein wüstes, nordisches Textbuch geschmiedet worden. Seine Musik ist darum ein Dehnen und Strecken. Sie sehnt sich zurück aus den öden Felsklüften des britischen Hochlandes nach dem farbensatten Osten, wo die Liebe aus dem Gluthhauch der übermässigen Secunde spricht und sich in die weiche Triole des Orients bettet. Goldmark’s Musik ist dem Reichthum verwandter als der Stärke. Sie hat keine Eigenkraft, die im Volksthümlichen wurzelt. Und da ihr der volksthümliche Boden keine Säfte zuführt, so berauscht sie sich an Düften, »die Arabiens Luft versüssen«, spiegelt sie sich in den strahlenden Schätzen des Ophirlandes. Waldweben ist ihr fremd; sie zittert und flüstert mit den Myrthen stiller Haine. Sie meidet das Rauschen des Stromes und murmelt mit verschwiegenen Quellen. Ihr Jubeln ist ein Schwelgen, Fühlen ist ihr ein Ausströmen, Sprechen ein Ueberfliessen. Solcher Ueberschwang steht dem dramatischen Stile entgegen, der kein Verweilen im üppigen Gefühlsgenuss gestattet. Goldmark weiss meisterlich mit dramatischen Effecten zu glänzen, aber dramatisch ist seine Musik nicht zu nennen. Dazu fehlt ihr durchwegs vielsagende Knappheit und Prägnanz im Ausdruck. Wo Funken sprühen sollen, da schürt Goldmark bedächtig eine Flamme. In der »Königin von Saba« konnte uns die Musik über diesen Mangel hinwegtäuschen, da das undramatische Pathos der handelnden Personen mit ihrem Charakter harmonirte. In »Merlin« selbst liegt aber die beste Kritik jener ersten Oper Goldmark’s. Hier verlangt die Handlung ein schnelleres Tempo, hier könnte eine schärfere dramatische Luft wehen – aber die Musik schleicht wo sie schreiten, und schreitet wo sie stürmen soll. Und dies wird umso mehr fühlbar, als Goldmark sich in »Merlin« in vieler Hinsicht der Technik des musikalischen Dramas zu nähern suchte und sich von dem älteren Opernstil entfernte, der noch in lyrischen »Nummern« zu den Höhepunkten führte.
Ein feinfühliger Musikkenner hat »Merlin« ein Oratorium genannt. Diese treffende Bezeichnung charakterisirt zugleich die Mängel und Vorzüge der Oper. Sie ist eine Erklärung dafür, dass das Fortschreiten der Handlung so oft in Prophezeiung erstarrt; sie erklärt die überlangen, hemmenden Zwischenspiele, welche Goldmark gern dort einschiebt, wo es den Hörer am lebhaftesten vorwärts drängt; sie hilft uns über die mangelnde Consequenz der Logik in der Aufeinanderfolge der Scenen hinweg. Die Bezeichnung würdigt aber auch das liebevolle, bis in’s Kleinste dringende Ausmalen von Situationen, Erscheinungen und Stimmungen, worin Goldmark eigentlich vollendeter Meister ist. Aber selbst in einem Oratorium werden wir nicht vergebens einen Gipfelpunkt suchen, zu welchem über den Wechsel der einzelnen Scenen hinweg gleichsam eine gerade Luftlinie emporführt. Dieses Hindrängen zu einer höchsten Entscheidung, welches selbst in kleinen Kunstwerken wie bei der Fuge nicht zu entbehren ist, müssen wir in »Merlin« gänzlich vermissen. Die Oper geht unaufhörlich in’s Breite. Ihre Musik hat keine Engführung. Darin liegt der Fehler der ganzen Conception.
Geht nun durch die Oper auch kein einheitlicher, kräftiger Zug, so ist sie doch reich an schönen, hervorragenden Zügen. Das Vorspiel, stimmungsvoll und geistreich auf die wichtigsten Motive der Oper aufgebaut, lässt gleich ahnen, dass wir vor einem bedeutenden Werke stehen, wie seit Wagner bis heute solche nicht geschaffen wurden. Das Vorspiel lehnt sich gänzlich an die Wagner’sche Schreibweise. Die Motive in ihrer Rhythmik und Harmonik, die Instrumentirung, namentlich hinsichtlich des Bläserchors, viele durch Wagner typisch gewordene musikalische Wendungen – es steht Alles in dem gewaltigen Schatten dieses Riesengeistes. Dafür zeigt aber Goldmark in den charakteristischen Chören der Sumpfgeister, welche mit magischen Sextengängen ihre tückischen Kreise ziehen, seine Eigenart und Eigenstärke. Sein gewiegtes Können offenbart sich wieder in der wirkungsvollen, chorischen Steigerung des Aufzuges und in dem herrlichen Sextett, das mit dem fünf- bis achtstimmigen Gesammtchor sich vereinigt und ein contrapunktisches Meisterstück von hohem Werthe bildet … Die Betonung des ersten Wortes in der Phrase »In des Tages Glanze« eröffnet den Reigen hässlicher Declamationsfehler, an denen das Werk, welches doch nichts weniger als flüchtig gearbeitet wurde, seltsamerweise so reich ist. Am wunderlichsten declamirt der Componist, nämlich ganz dem Reime nach und gegen den Sinn, die Stelle:
Wer rief dich her? – mit wildem Gesang,
Was störtest du meiner Harfe Klang?
Für das Zusammenwirken des Textdichters und Componisten ist es sehr bezeichnend, dass der musikalische Höhepunkt des ersten Actes (im Septett) nicht mit dem Gipfelpunkt der Dichtung im ersten Acte zusammenfällt. Wenn Dichter und Componist nicht, wie Wagner fordert, in einer Person vereinigt sind, so müssten sie doch wenigstens eines Geistes und eines Sinnes sein. Dafür lässt später im selben Acte bei der höchsten dramatischen Steigerung (bei dem Verstummen der Harfe) der Componist den Dichter im Stich … Wir finden es vom ästhetischen Standpunkt nicht gerechtfertigt, dass der Componist beim Verstummen der Harfe auch das Orchester schweigen lässt. Wol erzielt er damit die beabsichtigte peinliche Wirkung, aber nicht durch ein reines künstlerisches Mittel. Wenn wir uns Rechenschaft zu geben suchen, so müssen wir erkennen, dass schliesslich nicht der Vorgang auf der Bühne, sondern der Umstand auf uns wirkt, dass der Componist uns plötzlich mit einem Rucke neben die Oper stellt. Die Musik kann allerdings das Verstummen nicht illustriren. Das soll sie auch nicht. Wol aber hat sie die inneren Regungen Merlin’s und der Umstehenden bei diesem Vorgang zum Ausdruck zu bringen, wofern sie ihre Bedeutung im musikalischen Drama nicht selbst negiren will. Wagner hätte bei dieser Stelle sicherlich ein Leitmotiv im Orchester ertönen lassen, das uns an den Fluch des Dämon oder an die Weissagung der Morgana erinnert und die Tragweite des Ereignisses furchtbar und grell beleuchtet hätte. Das ist eben Wagner’s dramatische Kunst, dass er durch ein einziges Motiv eine ganze Scene in das rechte Licht rückt und den Hörer zwingt, das Vorausgegangene klar zu überblicken und das Folgende dunkel zu ahnen.
Der zweite Act steht, wenn wir von dem in ungetrübtem Glanze strahlenden Orchester absehen, musikalisch nicht auf der Höhe des ersten. Wir glaubten, wenigstens in dem grossen Liebesduett wieder Goldmark’s eigenthümliche Sprache vernehmen zu können – aber siehe, er liess sich von dem Dichter wirklich in die Netze des Wagner’schen Tristan ziehen. Das Duett verliert schon durch die überaus umständliche Vorbereitung seine Wirkung. Der Dichter hat es überdies mit wenig Geschick aufgebaut. Es ist aus blossen Anläufen zusammengesetzt und scheint ein Liebesduett um seiner selbst willen auch deshalb, weil der Componist es unterlassen hat, im Orchester bei dem höchsten Liebestaumel auch bange Ahnungen herbeizuführen, die in dramatischer Weise auf die Weiterentwicklung deuten. Auch hier hat der Componist von Wagner zu wenig gelernt, und man würde zu diesem Vorwurfe nicht hingeleitet werden, wenn Goldmark nicht selbst durch viele Anklänge und manche Aeusserlichkeit an dieses Vorbild gemahnt hätte. Mag übrigens das grosse Liebesduett auch nicht durch eine folgerichtige Steigerung oder durch originelle Auffassung und Erfindung seinen Werth erhalten, so ist es doch von grosser Wärme durchströmt, die sich allerdings schliesslich in sinnliche Glut verwandelt. Diese Glut wird unheimlich, da der Componist die Töne begehrlicher Sehnsucht nicht voll und kräftig anzuschlagen pflegt, sondern bis zum völligen Ersterben und Verhauchen in Liebeswonne erzittern lässt.
In dem Schluss des zweiten Actes und im Vorspiel zum letzten Act hat Goldmark Treffliches geboten. Der dritte Act ist reich an musikalischen Schönheiten. Wir heben die Frauenchöre und Vivianen’s Jubelgesang besonders hervor. In diesem Wonnejauchzen (Ges-Dur) und in der Hymne des Merlin im ersten Acte nimmt die Musik Goldmark’s wirklich einmal einen freien Aufschwung, den wir in der Hymne jedoch durch einen trivialen Schluss erkaufen müssen. Der Trauermarsch, in welchem zu den Zwischenmotiven die Holzbläser äusserst originell verwendet sind, ist von tiefgehender Wirkung.
Dass Goldmark schon in seiner zweiten Oper in den Bannkreis Wagner’s gezogen wurde, hat leider seine Bedeutung als Operncomponist sehr vermindert. In der »Königin von Saba« zeigte Goldmark eine Eigenart, die man für Stil halten konnte, zumal diese Oper in ihrer musikalischen Richtung neben den Wagner’schen Musikdramen einen eigenen Weg zu verfolgen schien. Diejenigen, welche aber damals schon nur von geistreicher Manier sprachen, haben Recht behalten. »Merlin« hat es gezeigt, dass Goldmark, der einzige berufene Operncomponist unserer Tage, keinen Stil habe. Denn wo er nicht orientalisch sein konnte, ist er wagnerisch geworden.
Dr. Robert Hirschfeld.