Ist denn Liebe ein Verbrechen?

»Merlin«
(Oper in 3 Acten. Dichtung von Siegf. Lipiner , Musik von C. Goldmark. Zum ersten Male aufgeführt im k.k. Hofoperntheater am 19. d. M.)

Seit uralter Zeit hat die Volkspoesie, namentlich in England und in der Bretagne, einen ganzen Sagenkreis um den Namen Merlin’s gewoben, unter dem man sich bald einen tapfern Barden des sechsten Jahrhunderts (unter König Artus von Britannien), bald einen berühmten Zauberer noch älteren Datums zu denken hat. In ihrer Wanderung durch viele Länder und Zeiten verband sich die Sage von Merlin allmälig mit jener vom heiligen Gral, und bezieht sich in dieser erweiterten Form auch auf die Schicksale Parsifal’s und Lohengrin’s. Es ist wohl kaum zu bezweifeln, daß sich Goldmark durch die Kunstwerke R. Wagners angeregt fühlte, auch seinerseits einen Griff in diesen großen Sagenkreis zu machen und ein neues Stück Volksdichtung der Opernbühne zuzuführen. Ein solcher Gedanke muß an und für sich auf’s Entschiedenste gebilligt werden, allein die Frage, womit sich die Kritik zu befassen hat, lautet nicht: woher ist der Stoff genommen? sondern was ist der Stoff und wie wurde er dem dramatischen Zwecke dienstbar gemacht? Unseres Erachtens dürfte das heutige Theaterpublicum den Schicksalen Merlin’s und der religiösen Grundidee der betreffenden Sage so ferne stehen, daß Goldmark’s Oper eines kurzen literarischen Vorwortes umsoweniger entrathen kann, als zum wirklichen Verständnisse der Bühnenvorgänge das vorliegende Textbuch in der That nicht ganz ausreicht. Es existirt eine ganze Merlin-Literatur alter und neuer Zeit bei verschiedenen Nationen; auch Deutschland nimmt Theil daran. Wir wissen unserer Aufgabe nicht zweckmäßiger zu entsprechen, als indem wir Carl Immermann’s dramatisirte, aber nicht für die Bühne bestimmte Mythe »Merlin« zu Hilfe nehmen und daraus dasjenige hervorheben, was zur Dichtung Lipiners in nächster Beziehung steht. Vielleicht werden Manche dadurch veranlaßt, das geistreiche, in mehrfacher Beziehung interessante Werk Immermann’s selbst, dieses Product von Götheanisimus und verwegenster Romantik, zur Hand zu nehmen; sie werden darin jedenfalls den Hauptinhalt der Gesammtsage von Merlin in anregender literarischer Form concentrirt finden.

Gott und Satan, Christus und Antichrist, der Gegensatz zwischen der heiligenden Kraft geistiger Liebe und den verderblichen Wirkungen sinnlicher Liebe – das sind die Pole, um deren Achse sich die Begebenheiten der Merlinsage drehen; daher erscheinen auch die äußeren Ereignisse, insofern sie realen Boden berühren, nicht durch sich selbst bedeutsam, sondern als der irdische Reflex jenes Kampfes geistiger Potenzen. Unzufrieden mit dem Erfolge seiner Bemühungen, die Menschen durch den Teufel zu verderben, beschließt Satan, dem zur Erlösung der Welt menschgewordenen Gottessohne einen menschgewordenen Teufelssohn gegenüber zu stellen. »So wollen wir uns gleichfalls zeugen den Erben; der Mensch ist nur durch den Menschen zu werben.« Zum willenlosen Werkzeuge seiner Politik erwählt sich Satan ein unschuldiges Christenmädchen, das ihm einen Wunderknaben gebar. Allein das Teufelswerk gelang nur zur Hälfte. Zwar leuchteten die Augen des Knaben schon bei der Geburt „wie helle Grubenfackeln«, er konnte schon sprechen, brachte Zähne mit, redete wie ein Gelehrter und trank nicht die Muttermilch; das wornach er dürstete, war – die Taufe. Die Mutter starb, ein frommer Einsiedler taufte das Kind auf den Namen Merlin und zog es auf; den wirklichen Vater kannte Niemand. Merlin weiß alles und vermag alles; die Kräfte der Natur gehorchen seinem Willen. Er ruft eines Tags: »Mann will ich sein«, und der Knabe verwandelt sich sofort in einen Mann. Da geschah es, daß der Zauberer Klingsor am Hofe des Königs Artus von Britannien in den Sternen las, ein vaterloses Kind werde dein Fürsten und seiner »Tafelrunde« zu stetem Heile verhelfen. Dieses Kind wird nun eifrigst aufgesucht und endlich – in Merlin gefunden. Ehe er sich aber an den Königshof begibt, hat er noch eine Auseinandersetzung mit dem Satan, der ihn vergeblich auffordert, nunmehr dem Zwecke seines Daseins zu dienen und das Zerstörungswerk zu beginnen. Merlin gedenkt seiner frommen Mutter und spricht zu Satan: »Ich bin deiner und ihrer; deiner im Wissen, vielleicht im Wähnen, ihrer im Gebet, in Demuth und Thränen …. Deine Beute, sie ist dir entfloh’n, und über dein verfehltes Wagen hast du dich nur bei dir zu beklagen.«

Gleichwohl geht es mit Merlin bei Hofe nicht ganz so, wie es sollte. Zwar weiht er Artus zum Könige des heiligen Gral und unternimmt es, ihm sammt den übrigen Rittern der Tafelrunde den Weg zum Heiligthume zu weisen; aber unterwegs passirt dem Merlin etwas sehr Menschliches: er verliebt sich in eine Verwandte der Königin Ginevra, in die halb wilde, halb kokette Niniana (sonst gewöhnlich Viviana genannt). In ihrer Nähe vergißt er auf Artus und die Tafelrunde, auf den Gral und auf seine eigene Führerrolle. Während die Freunde, der Leitung beraubt, in einer Einöde verschmachten, ohne das Heilsland erreicht zu haben, flüstert er der Geliebten – freilich erst nach langem Weigern – ein Wort in’s Ohr, »das, wie er sagt, ihn bindet, ihn unlösbar fesselt, ihn der Stärke ganz beraubt«. Was dies für ein Wort sei, und woher seine verhängnißvolle Wirkung, das erfahren wir leider nicht. Kaum aber hat Niniane das Zauberwort leise wiederholt, da fühlt sich Merlin in unzerreißbare Ketten geschmiedet, sein Geist wird von den Banden des Wahnsinns umstrickt. Wohl löst der Satan diese Fesseln, aber er erzählt ihm auch von dem Untergange seiner Freunde und treibt ihn dadurch fast zur Verzweiflung. Augenblicklich diese Situation benützend, um den Sohn endlich für sich zu gewinnen, spricht der Teufel: »„Auf! werde mein! drei Schritt geh’ hinter dich! Verläugne Ihn und glaub’ an mich«. Doch Merlin wird nicht zum Gottesläugner; das Vaterunser betend sinkt er, vom Satan grimmig angerührt, nieder und stirbt. –

Das ist Immermann’s »Merlin«, von einer dramatischen Gestalt – wie Jeder einsieht – so weit als möglich entfernt. Um diesem Uebelstande einigermassen abzuhelfen, beschränkt Lipiner den Stoff seiner Operndichtung auf die Beziehungen Merlin’s, dessen Doppelwesen beibehalten wird, zu Artus, zur Tafelrunde und zu Viviane, alles beiseite lassend, was an den Gral erinnern könnte. Bei Lipiner ist Merlin der Barde, Seher und Waffenheld, der dem Artus in den Kämpfen der Briten gegen die heidnischen Sachsen beisteht. Gleich zu Anfang des 1. Actes rettet er das durch Verrath bedrohte britische Heer und entdeckt lediglich durch die Kraft seines Seherauges den Verräther. Aber nur mit Hilfe eines Dämons, der dem Teufelssohne dienen muß, sind die Feinde mit Blindheit geschlagen und besiegt worden. Der Dämon, der widerwillig gehorcht hat, beschwört die Wasserfee Morgana um Auskunft, wie das Auge Merlin’s zu blenden wäre; und Morgana verkündet, daß der arme Merlin bereits von einem Weibe geblendet worden sei. Dieses Weib ist Viviane. Merlin hat sie schon früher einmal gesehen, und obwohl er sich’s nicht eingestehen will, ist jene flüchtige Begegnung auf ihn nicht ohne Eindruck geblieben. Jetzt, mitten in der Feier des Siegesfestes, als der Barde eben den Preis der Helden singt, erscheint Viviane abermals, vor ihm. Verwirrung und bange Ahnung unbekannten Unheils ergreift die Beiden. Umsonst will er sich von diesem Schauer befreien und wieder in die Saiten der Harfe greifen: sie versagt ihm jeden Ton. Erschüttert von dieser ernsten Mahnung aus der Geisterwelt, stößt er Viviane als »Teufelin« (was sie entschieden nicht ist) von sich. Trotz dieser energischen Abweisung geht es im nächsten Acte ohne neuerliche Veranlassung noch weiter abwärts mit Merlin. Er verliert seine Sehergabe. Artus zieht auf Abenteuer aus und läßt seinen Neffen Modred als Reichsverweser zurück. Modred aber strebt nach der Krone und verbündet sich zu diesem Zwecke mit den Sachsen. Der Verrath ist Thatsache, aber Merlin vermag in Modred’s Antlitz keine Schuld zu lesen und Artus zieht beruhigt von dannen. Freilich sind Merlins Gedanken noch immer bei Viviane. Der Dämon bemerkt dies und beschließt, seinen Gebieter in die Arme des Mädchens zu treiben. Ueberflüssige Arbeit! Denn wir wissen ja schon aus dem Munde Morgana’s, daß Viviane für Merlin bestimmt ist. Der Dämon weiß es aber nicht: er hält sie nur ihrer Schönheit wegen für geeignet, Merlins Verderben zu werden.

Der Zaubergarten des zweiten Aktes

Zufällig geräth sie in Merlins Zaubergarten und trifft auf eine verschlossene Tempelpforte, die sich – wie der Dämon versichert – nur dem Meister und dem, der ihn bezwingt, eröffnet. Siehe da, auf Vivianes einfache Bitte thut sich die Pforte, die in Merlins Heiligthum führt, von selbst auf. Ueber den Altar des Tempels ist ein Zauberschleier gebreitet, und wessen Haupt dieser Schleier berührt, der muß von unlösbaren Ketten gefesselt zeitlebens in einem Felsenkerker schmachten. Zunächst entwickelt sich aus dem in die Höhe fliegenden Schleier freilich nur – ein Feenballet, aber das Schlimme folgt allsogleich. Während des Geisterreigens erscheint Merlin. Jetzt oder nie muß es zu einer Liebesscene kommen. Lange halten sie sich umarmt, da stürmt von draußen der Aufruhr herein und Modred wird zum Könige ausgerufen. Zu spät erkennt Merlin die Wandlung, die mit ihm vorgegangen. »Weh, betrogen! Der Fürst durch mich belogen! Mein Seheraug’ ist mir geraubt, die Gnade wich von meinem Haupt!« Für immer will er sich von dem unseligen Weibe trennen; aber Viviane läßt ihn nicht mehr los, und um sich seiner zu versichern, wirft sie ihm schließlich den verhängnißvollen Schleier über das Haupt. Augenblicklich wirkt der Zauber und wir sehen im nächsten Momente Merlin – mit feurig glühenden Ketten an einen Felsen geschmiedet daliegen. – Trostlos wacht und träumt Viviane am Unglücksorte. Morgana erscheint und richtet sie mit den Worten auf:

»Wenn am dunklen Scheidepfad
Jauchzend der Verderber naht:
Liebe, stärker als der Tod,
Wird des Unheils Mächte zwingen,
ew’ges Heil dem Freund erringen.«

Dies ist das Programm des letzten Actes, der die Sache rasch zu Ende führt. Artus hat gegen Modred und die Sachsen zum Schwerte gegriffen, befindet sich aber in größer Roth, und Merlin, der allein helfen könnte, ist verschwunden. Ueberall gesucht, wird Merlin endlich – selbst in hilflosester Lage – aufgefunden. Um Fürst und Volk zu retten, schreit er nach Erlösung aus der Haft, sei es auch um den Preis der ewigen Seligkeit. Da fallen ihm plötzlich die Ketten ab, er eilt fort in die Schlacht und wendet sie zum Siege für Artus, zum Tode für sich selbst. An seinem Sterbelager machen sich Viviane und der Dämon den Besitz Merlins streitig. Da ruft Viviane: »Mein bist Du im Tod und nach dem Tod« und durchbohrt sich mit einem Dolche. Der Dämon versinkt, Morgana’s Spruch hat sich erfüllt, die Liebe den Sieg über die Hölle errungen.

Für den Dichter des Operntextes war es allerdings räthlich, dem Schatten Richard Wagner’s aus dem Wege zu gehen, aus den dramatischen Begebenheiten jede Beziehung auf den Gral auszumerzen und aus dem weisen Merlin einen Kriegshelden zu machen. Leider hört man in der Oper von seinem Heldenthume nur reden, König Artus und die Ritter der Tafelrunde sind vollkommene Nullen, und was wir Merlin selbst vollbringen sehen, das bringt er als Sohn des Teufels mit Hilfe seines Herrn Vaters und eines Unterteufels zuwege. Wenn ihn Der im Stiche ließe, müßte der »Held« Merlin vor Gott, dem Teufel und den Menschen zu Schanden werden. Viviane muß sich seiner annehmen, um ihm die Seele zu retten, aber auf der Bühne hat dies leider geringen Werth und seit Meyerbeer’s »Robert dem Teufel«, dem liederlich gewordenen normanischen Geistesverwandten Merlins, ist der Streit um den Besitz der Seele in der Oper nicht einmal etwas Neues. Welches Blatt des Lipiner’schen Textbuches man aufschlagen mag: Schicksal, nichts als Schicksal, alle möglichen überirdischen Gewalten greifen ein, und der Held des Dramas, der Mensch – thut gar nichts. Freilich, wenn er auch handeln wollte, er könnte nicht, denn es ist ja vom Schicksale vorher bestimmt, was er thun und lassen wird. Daß Merlin sich verlieben, daß ihn diese Liebe um seine Scherkraft bringen wird, daß ihn der Opfertod der Geliebten schließlich aus den Krallen des Teufels erretten wird, das erzählen uns Lipiner’s Dämonen und Feen lange bevor es wirklich geschieht, und sie können es leicht sagen, denn sie wissen es ja im vorhinein. Viviane’s Dolchstoß ist die einzige, aus freiem Entschlusse hervorgehende Handlung des Stückes, und dann fällt sogleich der Vorhang. Das Hantieren mit Zauberapparaten (wie mit dem Schleier) wird man doch nicht als Handlung gelten lassen müssen? Wir wollen aber soweit gehen, selbst die im Schicksalsbuche registrirte Liebe Merlins eine wirkliche, dramatisch giltige Handlung zu nennen; nur drängt sich dann die Frage auf: ist denn Liebe ein Verbrechen? und warum soll denn gerade Merlins Liebe zu Viviane eines sein? Lipiner verliert kein Wort darüber, und wir dürfen daher wohl das Gleiche thun. In der Sage hat die Liebe zum Weibe freilich eine ganz besondere Bedeutung, aber beim Zuschneiden der Sage zum dramatischen Gebrauche ist das Gegenstück zur sinnlichen Liebe abhanden gekommen. – Genug; wir sind auf dem Umwege über die Stationen Meyerbeer und Wagner heute glücklich wieder bei der alten Zauberoper angelangt, die dem Publicum nicht viel zu denken, dafür aber dem Maschinisten und dem Componisten desto mehr zu thun gibt. Es hat uns interessirt, den gedankenreichen Inhalt der Merlinsage als eine literarhistorische Erscheinung ins Auge zu fassen; über den dramatischen Werth der Lipiner’schen Operndichtung brauchen wir uns nach dem Vorausgeschickten den Kopf nicht zu zerbrechen. Möge Goldmark’s »Merlin« so alt werden wie die »Zauberflöte!«

Enger als in der »Königin von Saba« hat sich der Componist in seiner neuen Oper an die zweite Stylperiode Wagner’s (»Tannhäuser und Lohengrin«) angeschlossen, ohne jedoch sein Vorbild ängstlich zu copiren oder resolut zu plündern. Der musikalische Ausdruck findet in der meisterhaften Behandlung des Orchesters das farbige Colorit und die Vertiefung, aber er ist nicht dem Orchester allein überlassen. Goldmark vergönnt auch dem Sänger die Melodie, die ariose Sprache, deren Formen freilich keinen besonderen Reichthum der Erfindung verrathen. In der Musik pulsirt lebhaftes Temperament und in jeder Scene bethätigt sich ein offener Sinn für Bühneneffecte, in denen mitunter wohl des Guten auch etwas zu viel geschieht. Um so seltsamer ist es, daß Goldmark den wichtigen Moment, wo Merlin den Verlust seiner Sehergabe bemerkt, ganz fallen läßt, und daß bei der ersten Warnung, welche Merlin aus der Geisterwelt erhält, nicht nur seine Harfe, sondern auch das Orchester verstummt. Die schwankende Haltung Viviane’s im 1. Acte, wie sie das Textbuch vorschreibt, ist der musikalischen Charakterisirung. welche mehr Consequenz fordert als im recitirenden Drama der Fall ist, nicht günstig, und Goldmark’s Musik läßt uns nicht daran glauben, daß Viviane bei aller Reizbarkeit, aus der die noch unbewußte Liebe spricht, doch durchaus naiv handelt. Und eben darum, weil Viviane anfangs gar redselig ist, ohne zu überzeugen, erscheint die Scene, in der sie zum ersten Male die Bühne betritt, viel zu lang ausgesponnen. Verständige Kürzungen werden hier, wie wohl auch an einigen anderen Stellen der Partitur dem Eindrucke des Ganzen förderlich sein, das für Ohr und Auge genug des Interessanten und – fast scheuen wir uns, es zu sagen – auch des Unterhaltenden bietet. Merlinsage und Unterhaltung sind himmelweit verschiedene Dinge, aber Goldmark’s »Merlin« ist ja eine – Zauberoper, die ihren ernsten Ursprung nur von sehr ferne ahnen läßt. Daß Lipiner aus den geistigen Banden des Wahnsinns, in welche Merlin zufolge seiner Abirrung vom Pfade hoher Pflicht geschlagen wurde, rothglühende Handketten machte, ist freilich eine recht plumpe Zauberei. Der Dämon der diese Handschellen löst, hätte ja ebenso leicht den Helden aus den Fesseln des Wahnsinns erlösen können. Wenn die Merlinsage nur dadurch bühnenfähig gemacht werden kann, daß man ihr den religiös-ethischen Kern raubt, dann wäre es allerdings besser, dieselbe von den Operndichtern und Operncomponisten unbeachtet zu wissen. Ob die Verstümmelung nothwendig sei, mag hier unerörtert bleiben. Göthe, der die »„Faust-Tragödie« geschrieben, würde die Frage kaum ohneweiters bejaht haben. Aber woher den Dichter einer Merlin-Tragödie nehmen? Und selbst wenn wir einen hätten, wir bekämen trotzdem wahrscheinlich ebensowenig eine Merlin-Oper, als wir bis jetzt die Faust-Oper besitzen. Unter solchen Umständen ist es immerhin ein Glück, daß Lipiner’s Textbuch in Goldmark’s Hände gerieth. Wie schön und phantasiereich wird das »dämonische« Leitmotiv, welches die Oper sozusagen beherrscht, bei jeder schicklichen Gelegenheit verwendet! Nur müssen wir uns die Bemerkung gestatten, daß das Urbild dieses Motiv’s in den drei ersten Noten der bekannten Löwe’schen Ballade »Archibald Douglas« zu finden ist. Im l. Acte erhebt sich Goldmark’s Werk zu solcher Kraft und Bedeutung, daß er dem 1. Acte des »Lohengrin« näher kommt als irgend eine andere Erscheinung am Opernhimmel. Auf dieser Höhe halten sich die folgenden Acte freilich nicht; die musikalische Rede sinkt mitunter zu einem ziemlich gewöhnlichen Tone herab, und namentlich die große Liebesscene enthält – mit Ausnahme der schönen Stelle: »Das ist der Sehnsucht stille Stunde« – vorwiegend conventionelle Ausdrucksformen und Wendungen. Der letzte Act bietet in musikalischer Hinsicht außer der Erscheinung Morgana’s und dem allerdings etwas prätentiösen Hervortreten des Frauenchors kaum einen Moment von erheblichem Interesse. Im Ganzen jedoch hat Goldmark in seinem »Merlin« etwas geschaffen, was ihn zweifellos in die vorderste Reihe der modernen Operncomponisten stellt und seiner Schöpfung ein langes, rühmliches Leben garantirt.

Die Novität wurde musikalisch von Director Jahn, und scenisch von Regisseur Tetzlaff aufs Sorgfältigste vorbereitet. Unter den Darstellern excellirt Herr Winkelmann (Merlin), zwar nicht als Schauspieler, aber doch als dramatischer Sänger, dessen Organ in der That den Merlin als jenen Helden charakterisirt, der er sein soll. Frau Materna verwendete auf die Rolle der Viviane ihr ganzes Können, doch machte sie unwillkürlich eine Isolde daraus und eignet sich schon ihrer Erscheinung nach nicht recht zur Repräsentantin eines pürschenden Mägdleins. Dem Dämon vermochte Herr Reichenberg so wenig als wir selbst ein wirkliches Interesse entgegenzubringen: er trug seine gesanglich nicht undankbare Rolle gut vor, spreizte so oft als möglich die Arme aus und versank. Unter den Nebenrollen läßt sich wohl nur jene der Fee Morgana (Frau Kaulich) hervorheben; aber auch die übrigen, obwohl für das Drama bedeutungslos, erfreuten sich seitens der Darsteller (der Herren Sommer, Schrödter, Horwitz u. s. w.) des dankenswerthesten Eifers. Das Publicum blieb mit seinem lebhaften Danke für den Componisten, die Mitwirkenden und die wahrhaft glänzende Scenirung auch keinen Augenblick in Rückstand, und so bedeutete denn die erste Aufführung des »Merlin“ für unsere Hofoper eine in jeder Hinsicht erfolgreiche That.
Florestan.