Das soll ländlich sein?

… wenn das Datum der Besprechung (26. Dezember) vom Verfasser derselben richtig angegeben wurde, das »Abonnementconcert «des ersten Weihnachtstages »mit der neuen fünfsätzigen Symphonie von Goldmark: ›Ländliche Hochzeit‹. Das Werk ist durchweg interessant, in einigen Abschnitten sehr schön, verlangt aber, da es den Geigern wie den Bläsern manches Schwierige zumuthet, die sorgfältigste Vorbereitung, welche ihm auch unter Abert’s Leitung zutheil geworden war. Die fein nüancierte Aufführung fand vielen Beifall; nur schüttelten die Leute den Kopf über den Titel und fragten sich: das soll ländlich sein? Nun, eine richtige Bauernhochzeit hat Goldmark sicherlich nicht schildern wollen, dazu schreibt man keine grosse Symphonie; der Componist hegte bei der allerdings zweideutigen Aufschrift ohne Zweifel das Vertrauen, im Publikum werde man auf eine verständige Auslegung von selbst kommen. Ehe ich meine eigene Auslegung angebe, will ich die einzelnen Ueberschriften der fünf Sätze herschreiben. 1) Hochzeitsmarsch (mit Variationen), 2) Brautlied (Intermezzo), 3) Serenade (Scherzo), 4) Im Garten (Andante), 5) Tanz (Finale). Der schönste Satz ist der vierte, wo das Brautpaar, abseits vom Schwarm der Gäste, Empfindungen austauscht. Wer bei diesen zarten, innigen Klängen an einen Bauernburschen und sein Mädchen denken zu müssen glaubt, würde nicht den Componisten, sondern sich selber lächerlich machen. Herr Goldmark wird recht gut wissen, dass man bis zu solcher Höhe die Gefühle dörflicher Herzen schlechterdings nicht idealisiren darf. Eine ›ländliche‹ Hochzeit ist noch keine ›Bauernhochzeit‹; ich denke mir, dass der Gutsherr eine Tochter verheirathet und den Dorfbewohnern es vergönnt, auf ihre Weise das Fest mit zu feiern, was dann in der ersten und in der letzten Nummer geschieht. Den Marsch des ersten Satzes kann man wirklich im Charakter bäuerlicher Musik finden; die auf ihn folgenden (zwölf) Variationen, welche das Thema ziemlich frei behandeln, haben mit der Hochzeit, so oder so verstanden, nichts zu thun, sind ein ausserhalb des Programms stehender Excurs; vielleicht hat zu ihrer Entstehung der Gedanke an die Brahms’schen Variationen über ein Thema von Haydn den Anstoss gegeben. Da aber das Aggregat dieser Variationen nicht einen Symphoniesatz im gewohnten Sinne vorstellen kann, so fehlt eigentlich der Symphonie der ›erste‹ Satz, gewissermassen das Haupt. Das ›Brautlied‹ wird gewiss nicht von Landleuten dargebracht, eher noch die ›Serenade‹, bei welcher aber dann die natürwüchsigen Marschbläser schon höchlich civilisirt erscheinen würden, also mehr ideell zu fassen wären. Der Schlusssatz liefert, ohne eigentliche Tanzweisen, ein Gemälde brausender, jauchzender Lust, welches mit einigen realistischen Zügen allerdings auf tanzende und stampfende Bauern hinweist, sonst aber in künstlerischem Sinne entworfen ist, wie sich gebührt. Einmal wird das lustige Treiben des Orchesters durch eine Reminiscenz aus dem vierten Satz unterbrochen; möglicherweise soll damit der Contrast zwischen dem glücklichen Behagen des ausgelassenen Landsvolks und dem stillen Glück des vornehmen Liebespaares aufgezeigt sein, was freilich für entbehrliche Lehrhaftigkeit zu halten wäre. Dass im Wesentlichen meine Deutung der Symphonie das Wahre treffen werde, dafür spricht die Logik; mir ist undenkbar, wie ein Musiker von Geschmack und unverkennbar hoher Bildung eine handgreifliche Albernheit sollte begehen können. Die immerhin vorhandene Möglichkeit einer Missdeutung möge aber wieder an die Gefahren der Programm-Musik erinnern.« (Allgemeine musikalische Zeitung vom 2. Januar 1878)