Noch einmal klingt es auf
Nicht lange währte das Glück. Keine zwei Jahre nach dem »Glaubensbekenntnis« der ebenso kolossalen wie beeindruckenden Natursymphonie (1911) zerreißt der Tod die kreative Zweisamkeit, und der Komponist – jäh in die Rolle des »alleinerziehenden« Vaters eines einmonatigen Knaben gedrängt – hüllt sich in tiefstes Schweigen. Dieselbe Kompromißlosigkeit, die sein dirigentisches Wirken kennzeichnet, bewahrt ihn von jeglicher Halbheit: Wo das Biotop nicht reinlich ist, kann Hausegger nicht sein. 1906 etwa hatte er die Leitung der Frankfurter Museums-Konzerte aufgegeben, weil Kunst »keine Ware [ist], die feil geboten wird und den Wünschen der Käufer, also des Publikums, sich anpassen muß. Kunst ist kein Amüsement, der Gesellschaft als verfeinertster Luxusartikel dienstbar. Sie ist die hellste Emanation menschlichen Geistes und deshalb mit der wichtigste Kulturfaktor« (Kunst und Gesellschaft).
Daß diese Emanation ihrerseits der Inspiration bedarf, versteht sich aus diesem Blickwinkel von selbst. Wenn die Begeisterung (»Geist zum Geiste«) fehlt, gibt es auch nichts zu komponieren. Demzufolge werden wir in dem Wenigen, das Siegmund von Hausegger hinterlassen hat, keinerlei »Mache« finden. Ob wir in allen Punkten mit seiner Weltsicht einig sind oder nicht: Schon die versuchsweise Vorstellung, er könnte seine Natursymphonie in einem amerikanischen Kaufhaus dirigiert oder gegen Bares die Hymne zu irgendeiner kaiserlichen Festivität geschrieben haben, löst in uns antipathische Kräfte aus, weil wir spüren, daß derlei mit dem integren Charakter unvereinbar gewesen wäre.
So ist auch das letzte große Werk von entwaffnender Aufrichtigkeit. Nach der Geburt der Tochter Veronika und gewiß auch mit einem Blick auf den inzwischen fünfjährigen Friedrich schreibt Siegmund von Hausegger 1917 die Aufklänge über das Kinderlied »Schlaf, Kindchen, schlaf«, dem er eine schier unglaubliche Fülle an Erscheinungen ablauscht und die Gestalt eines musikalischen Traumes gibt: »Die alte Weise zaubert vor unsere Seele das Bild des schlummernden Kindes, das tausend Hoffnungen in uns aufblühen, aber auch tausend Töne stillen Glückes, geheimnisvollen Ahnens, tiefen Gedenkens aufklingen läßt. Wie ein Auftakt sind sie zu jenem kühnen Liede des Lebens, das einst die Brust des zukunftfrohen Jünglings, des tatenstarken Mannes mit seinen mächtigen Klängen brausend erfüllen wird,« heißt das schlichte Programm, dessen rührende Naivität zweifellos im umgekehrten Verhältnis zur künstlerischen Realisation des Ganzen und seiner Teile steht. Der wiederum bewunderungswürdige Umgang mit dem bedeutenden Orchester, das mit dreifachem Holz, sechs (!) Hörnern und drei Trompeten (ohne tiefes Blech) nebst Harfe, Celesta, Schlagwerk und Streichern ähnlich opulent besetzt ist wie die Dionysische Phantasie und Wieland der Schmied; die delikaten, außerordentlich natürlichen, mithin völlig organischen Übergänge zwischen den acht Variationen; die filigran in das scherzoartige Finale (ab 17’42) einfließenden Elemente des thematischen Vorwurfs, der sogar die Vogelwelt nach seiner Weise zwitschern läßt; und endlich der große Bogen von Abend zu Abend (»ein Tag«) machen diese Aufklänge nach meinem Empfinden zu einem Glanzpunkt auf dem Gebiete der symphonischen Variationen.
Und das nicht allein: Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, als habe Siegmund von Hausegger mit diesem fabelhaft ausgeführten Werk ein drittes (und letztes) Selbstportrait geschaffen, in dem er noch einmal auf sein eigenes Wolkenkuckucksheim und auf die Ideale zurückschaut, mit denen er dort gelebt hatte – ein Schwärmer vielleicht, dem die Heimatwelt abhanden gekommen ist und der sich den Verlust der Mitte eingestehen muß? Nur noch sehr selten unterbricht ein Lied die Stille. Der Jugendtraum vom Barbarossa ist ausgeträumt. Ein Alptraum zieht auf. zurück zum Anfang