Die Ländliche Hochzeit (II)
Der vierte Satz der Goldmark’schen Symphonie »Ländliche Hochzeit« mit seinen geistvollen, wenn auch nicht immer scharflogisch vermittelten Oscillationen zwischen G und Esmoll, mit seinem träumerisch-zarten Weben der Melodie und Harmonie, endlich mit seinen unstäten und doch im Grunde leicht auf einen gemeinsamen Mittelpunkt zurückführbaren Rhythmen ist ein Stück Schwärmerlebens.
Dies letztere ist etwa im Sinne Schumann’scher Horizontesart zu deuten. Dieser Satz kommt mir beiläufig wie ein Nachhall aus jener Zeit der Romantik vor, deren Entschwinden wir Zeitsöhne, die wir noch die letzten Ausläufer dieser Epoche miterlebt, zu beweinen uns gar oft noch gedrängt fühlen. Sind wir ja doch – abgesehen von Bach, Mozart, Beethoven – an den Quellen Schubert’s, Spohr’s, Webers, Marschner’s und vollends an jenen Mendelssohn’s und Schumann’s großgezogen, also eigentlich zu dem geworden, was wir jetzt sind und vorstellen. Solche uns zu Zeiten überkommende Sehnsuchtsanwandlungen nach dem in ursprünglicher Gestalt nun einmal unwiederbringlichen Einst sind also ganz psychologisch begründet. Allein gar bald tagt, solchem Sehnsuchtsweh nach dem – wie eben bemerkt – in solcher Gestalt, wie es einst und vor nicht gar Langem noch geblüht, jetzt unwiederbringlich Gestorbenen, deßungeachtet aber immer noch Schönen und durch seine Schönheit mächtig Lockenden gegenüber, gar bald das Erkennen in uns empor, daß ja diese künstlerische Lebensperiode, die unserer von ganz anderen Prämissen ausgehenden und zu wesentlich anderen Ergebnissen hindurchgedrungenen Zeit nothwendig die Stelle räumen mußte, doch nicht eigentlich vergangen sei. Selbe ist vielmehr nur aufgegangen oder übergeströmt in eine weit höhere, tiefergehende, das gesammte Menschenleben, also selbstverständlich auch den Schwärmer- und Träumermenschen, mit starkem, nicht blos, wie einst, mit lediglich sanft-sirenenhaftem Arme umfassenden Epoche.
Aus dieser hehren Errungenschaft unserer unmittelbarsten Gegenwart wird denn auch in diesem Goldmark’schen Symphoniesatze ein Wucherzinsen abwerfendes Capital – wenn solch’ materialistisch klingender, aber ins Schwarze treffender Ausdruck hier gestattet sein sollte – geschlagen. Es vollbringt sich nämlich dieser hier mit offenkundigem Siegesglücke hingestellte Einigungsvorgang der alt- und neuromantischen Tonanschauungs- und Gestaltungart in dem Sinn, daß an dieser Stelle, neben den überall durchschimmernden Anregungen und Einflüssen der älteren Tonromantik, auch der Standpunkt Schumanns mit jenen Berlioz’s, Wagner s und Liszt’s auf das Engste gepaart wird, also einer vom anderen innigst durchdrungen sich ergiebt. Wenn ich hier, neben den absoluten Symphonien Berlioz und Liszt, auch R. Wagner’s Einwirkungen auf Goldmark’s Schaffen dieses specifisch orchestralen Satzes als unwiderlegbar existent hervorhebe so beziehe ich diese Parallele auf jene musikalischen Verherrlichungen, die Goldmark hier, nach R. Wagner’s preiswürdigem Vorgange, den lebenskräftigen und wahren Zeichnungen des Seelenlebens im Allgemeinen und speciell jenen des Gefühls der Liebe des Mannes zum Weibe und umgekehrt dieses zu jenem, zu Theil werden läßt. Daß ihm Goldmark da vornehmlich eine Berlioz’sche Romeo-Julie- und eine Liszt’sche Faust-Gretchen-Monas typisch vorgeschwebt, bedarf für den zwischen den Zeilen Lesenkönnenden wohl keines weitwendigen Beweises. Man fasse indeß die hier aufgestellten Parallelen ja nicht im Sinne von etwa dem Componisten angemutheten Plagiaten! Im Gegentheil trägt Goldmark eben an dieser Stelle ungemein Viel von seinem Eigenselbst in dieses specielle Tonstück, und hierdurch in das ganze vorliegende Op. 26 hinein. Dieses Goldmark’sche Selbst hat sich uns aber schon längst als ein mit reichhaltigem Gedankeninhalte, ergiebigem Formengeschicke und mit der Gabe, eben diesen Formen Geist und Leben aller möglichen Art einzuhauchen, ausgestattete Schöpferkraft erwiesen. Wenn ich von Goldmark’s musikalischen Formengeschicke hier rede, so gilt dieser letztere Ausspruch mit der selbstverständlichen, weil gleichfalls schon längst erwähnten und durch Belege mannichfacher Art motivirten Einschränkung, daß eben dieser Gewandtheit eine bestimmte Aeußerungsart oder Seite vom Hause wie von der Schule aus beinahe ganz und gar abgehe: daß also nach dieser bestimmten, sogleich näher zu bezeichnenden Richtung hin besehen, alle Goldmark’schen Werke eine wunde Stelle oder ein Brachfeld ausgesprochensten Charakters uns zeigen. Es ist dies das gründliche Wissen von und das organische Gestaltenkönnen in contrapunctischen Formen. Dieses kommt übrigens hier an dieser bestimmten Stelle ganz und gar nicht zur Anwendung, daher denn von selbem hier gänzlich Umgang genommen und dieser Symphoniesatz, im Sinnes eines Aphorisma betrachtet, ebenso unumwunden als Meisterwerk seiner bestimmten Art hingestellt werden kann und darf, wie dessen unmittelbare Vorausgänge.
Der Schlußsatz dieser Symphonie (Esdur, Allabrevetact, Allegro molto) zeigt schon durch die ihm weiter beigegebene specielle Ueberschrift »Tanz« das Bestreben, sich der – gleichviel ob antiken oder modernisirten – »Suite« und ihren Formen anzuschließen. Im Thema selbst bergen sich auch jene dem Schluß- oder auch Eingangssatze irgend welcher Zeitströmung immer angehörenden »Suite« unumgänglichen Elemente sprühender – ich möchte sagen champagnerstinmungsvoller – Lebensfrische der Gedanken und scharf betonter Rhythmik. Der Componist hat übrigens dieses sein nun soweit thunlich in Worten zu schilderndes Tonstück, wenigstens nach thematischer Seite hin, wohl selbst am Gründlichsten erkannt und an selbem eine erschöpfende Charakteristik und Kritik geübt, wenn er der soeben angeführten Ueberschrift noch den Beisatz »frisch und scharf markirt« folgen läßt. In der That spricht auch ein Geist der eben mit Goldmark’s eigenen Worten geschilderten Art aus einem Thema, dessen oberste gesangführende Stimme ich hier zum besseren Verständnisse der Leser meines Artikels ausziehen will.
Nach einem vom gesammten großen, mit allen möglichen Verstärkungsbehelfen ausgerüsteten, theils all’ unisono, theils all’ ottava durchgerührten fanfarenartigen Exordium folgenden Inhalts:
läßt sich in zweiter Geigenregion das eigentliche, also lautende Hauptthema vernehmen:
Träte dieser Gedanke als ein schlechthin melodisches oder etwa blos als ein accordlicher oder ganz frei figurirter Entwicklungsart anheimgegebenes Wesen auf, dann wäre weder gegen dieses Thema als solches, noch weniger jedoch wider die Art seines Verwerthens, namentlich zu einer Tanzweise, auch nur der leiseste Einwand zu erheben. Klingt es ja wahrhaft anmuthig und frisch. Auch bekundet es sogleich in erster Ankündigung seine vollkommene Eignung zu einer Tanzweise, die wohl auf Jeden, der sie vernimmt, elektrisch, d. h. wieder zu heiterer Tanzlust oder zu ebenso geartetem Schaffen in diesen Regionen befeuernd zu wirken nicht verabsäumt. Allein dieses Thema tritt – wie schon aus der obigen, in einstimmiger Form gebotenen Mittheilung desselben klar hervorgeht – mit beiweitem höheren Ansprüchen seinem Hörer gegenüber. Es beabsichtigt offenkundig, ihn, kraft solcher rein homophoner Art der Ankündigung, in weiterem Verfolge entweder als Fugenstoff, oder wenigstens als eine Gestalt zu fesseln, die, sei dies nun in weiterem oder im engsten Sinne, dem Contrapunktbereiche angehört. Nun hat sich aber dieses specielle Gebiet schon etliche Male als ein der Muse Goldmark’s vollständig unwegsames erwiesen. Denn um in dieser bestimmten Sphäre erfolgreich wirken und sich als Herr seines Stoffes erwahren zu können reicht selbst der auf das Glanzvollste ausgestattete Naturalismus der Begabung keineswegs aus. Hier gilt vor Allem die unumgängliche Prämisse einer durch systematischen Unterricht eines sattelfesten Lehrers vermittelten erschöpfenden, daher auf theoretischem wie praktischem Wege mit gleich sieghaftem Erfolge bewerkstelligten Aufklärung der musikalischen schaffenslustigen Jüngerschaft überall dasjenige, was auf diesen bestimmten Stoff irgend einen Bezug hat und nimmt. Es gilt – concreter ausgedrückt – die durch einen in allem Musikfachlichen gepanzerten Lehrer vollbrachte Einführung der zu solcher Art des Schaffens und Gestaltens durch ursprünglichen Drang berufenen Jugend in Alles, was da, kraft der sowol in der Natur, wie im Denker- und überhaupt im Geistes – und Seelenleben tiefbegründeten Satzungen für das Schaffen und Formen in Tönen Rechtens oder verboten ist. Es gilt – kurz gesagt – das Feststehen einer in alles Musikschaffen gründlich einführenden Schule. Wenn nun wie Goldmark und so manchen anderen, theils gleich ihm vom Ursprünge aus gottbegnadeten, theils kargbedachten Tonsöhnen der Vergangenheit und Gegenwart, – diese heilsamen Voraussetzungen eines organisch gegliederten Schulunterrichtes in allen Tonsatzesgesetzen entweder ganz oder gar nicht, oder nicht in entsprechender Folgerichtigkeit und Fülle zu statten gekommen: der ist am Ende leicht geneigt, mittelst eines einzigen Wurfes das Kind mit dem Bade auszugießen. Das heißt hier soviel als: aller Strenge der Lehre auf immer den Rücken zu kehren, ihr Tod zu schwören. Eben demselben Verneinungsorgane wird auch derjenige schaffende Künstler huldigen, der, wie u. A. jetzt Goldmark, nur auf das allerdings reichbeanlagte Tonschöpferselbst und auf den in Folge dessen auch ungewöhnlich regen, durch Musikhören und Partiturstudium gestählten Beobachtungsgeist allein sich verlassen zu können und zu dürfen des Wahnes und Willens ist. Ganz ähnlichen Irrthümern wird jener Componist erliegen, der den seit Tongedenken festgestellten, allmählig immer mehr vervollkommten [!] und im weiteren Zeitenverlaufe durch Theorie und Praxis auf immer unerschütterliche Basen der Denk-, Natur- und Schalllehre gestellten Regeln des reinen Satzes nur auf dem langen, schmalen und vielfach gekrümmten Wege eines zwar sehr aufmerksamen aber nicht durch erfahrene Lehrerhand gehörig planmäßig geführten bloßen Durchlesens der bereits vorhandenen musikalischen Schöpferwerke beigekommen ist. Allein es ist bei solchem Emancipationsacte gar Manches zu berücksichtigen, das von den meisten sogenannten Naturalisten, zu denen auch Goldmark – als Contrapunctist wenigstens ganz entschieden – zählt, vollständig unbeachtet gelassen wird. Vor Allem gehört, wie Jeder einräumen wird, auch zum Contrapunctiren – fasse man nun diesen Tongestaltungszweig im engeren oder weiteren, strengen oder freien Sinne auf – ein nach Innen und Außen hin gründliches Können. Ersteres heißt Naturbegabung, das zweite Schule. Beide Elemente sind von einander untrennbar. Beide müssen also auch in einer Schöpfung solcher Art, wenn ja selbe als irgend nennenswerth in ihrer Richtung gelten soll, ebenso ungetrennt und untrennbar hervortreten. Die Naturbegabung ohne Schule führt wie u. A. bei Schubert, dem da und dort auch zum Contrapunctiren, also nicht blos zum ungefesselten Walten im Reiche der Melodie, Harmonie, des Rhythmus und der orchestralen Farbenwelt, in denen allen er der vornehmsten Herrn und Meister Einer gewesen, innerlichst gedrängten Tongenius, und wie auch bei Goldmark, dem nach melodischer, harmonischer, rhythmischer und orchestral erfinderischer und combinatorischer Seite hin Schubert sehr Verwandten, daher geistig bedeutend Angenäherten – unerläßlich zur Verschwommenheit blinden Willkür und Zerfahrenheit. Die Schule aber, wenn in einer musikalisch gestaltenden Person ohne specifische Naturbegabung für das contrapunctische und, da letzteres ohne Melodienfülle und ohne Reichthum an rhythmischer Gestaltungskraft nicht leicht oder nur höchst unvollkommen denkbar sich darstellt, auch ohne diese beiden zuletzt erwähnten Momente als daseiend angenommen oder wirklich angetroffen: führt entweder in dieselben eben näher bezeichneten Engpässe und Wüsteneien oder sie artet, wie bei so vielen musikalischen Formalisten älterer und neuerer Zeit in dürres, geistloses Tönemachen aus, das sehr scharf zu trennen ist vom Töneschaffen. Soviel steht aber fest, daß es wie in allen der reinen Contrapunctsphäre angehörenden bisherigen Experimenten Goldmark’s auch in dem soeben meinem Blicke begegneten Essai contrepointique nicht wenig holpert und stolpert. Sichtbare Beweise der eben ausgesprochenen Behauptung hierherzusetzen, dünkt mich ein überflüssiges Beginnen. Habe ich doch schon bei anderen Gelegenheiten derselben Art über diesen speciellen Achillesfersenpunct der Gestaltungskraft Goldmark’s eingehend gesprochen.
Die ausführliche Darlegung der Ergebnisse eines so leeren Wollens aber, dem kein eigentliches Können entspricht, würde, weil eben schon früher geboten, wohl kaum der Mühe neuerlichen Abkanzelns lohnen. Auch würde ein solcher Vorgang, wenn öfterer wieder aufgenommen, vielleicht so manche vorurtheilsvolle Leser dieses Aufsatzes wider die ganze Künstlererscheinung Goldmark’s einnehmen. Und daß das Wachrufen solcher Eindrücke meiner hier unternommenen Arbeit fernabliege, wird mir wohl jeder Klarsehende auf das einfache Jawort glauben. –
(Schluß folgt.)