Vom Streichquintett »en Suite« bis zum Frühlingsnetz

Nachdem wir in der vor. Nr. in der Betrachtung des Streichquintettes bis zum Schlußsatze desselben gekommen sind und uns über den Saltarellocharakter seines Hauptsatzes ausgesprochen haben, erübrigen noch einige Mittheilungen über dessen weiteren Verlauf.

Der das erste vom zweiten Thema theils trennende, theils das Bindeglied zwischen beiden Grundgedanken bildende Seitensatz erschließt hinwieder eine ganz andere, von der vorangegangenen wesentlich verschiedene Gestalt des Humors. Tiefer Umschwung offenbart sich vor Allem durch die dem eben erwähnten Seitensatze eigene stramme Rhythmik. In Folge dieser letzteren kommt nämlich aus jedes scharf markirte Notenviertel ein anderer Accord zu stehen. Auch macht sich an eben dieser Stelle ein bisher unerwarteter Andrang von scharfkantigen Einschnitten sowohl im melodischen Theile dieses Seitensatzes, wie in allen denselben unterstützenden Stimmorganen geltend. Dessenungeachtet ist der eigentliche Stimmungscharakter dieser ganzen, ziemlich lang, doch keineswegs ermüdend, ausgesponnenen Stelle (S. 61, System 2, Schlußtact, bis Seite 65, letztes System, Tact 3, von wo ab das zweite eigentliche Hauptthema anhebt) wesentlich sentimentaler Färbung. Diese letztere hebt sich dann vom früher festgehaltenen Saltarellohumor ungemein wirksam ab, indem durch dieses neu hinzu getretene Moment und durch den Gegensatz seines thematischen Wesens mit seinem Rhythmengepräge unter Einem Scherz und Ernst, ja sogar eine gewisse Art oder Abart sentimentalen Stimmungslebens in das bisher nur von prickelnder, ja überschäumender Laune erfüllt gewesene Tonbild verpflanzt wird.

Fast noch entschiedener spricht sich die keck-humoreske Saltarello-Prägung im zweiten Thema dieses Schlußsatzes aus. Solchen Geistes voll, strömt und wogt es noch durch einige Zeit unaufhaltsam fort. Es geht sodann in die theils transponirte, theils der ursprünglichen Tonart treubleibende Wiederholung des bereits Vernommenen über und schließt daran den eigentlichen Durchführungssatz.

Dieser letztere wird spannend genug angebahnt durch Klänge, die mit einem Male mitten in das bisher so bewegte, launenvolle Stimmentreiben ein düsteres Elegienpathos, also den unmittelbarsten Gegensatz der bis jetzt festgehaltenen humorüberfließenden Stimmung verpflanzen. Auf den ersten Blick ergibt sich der neue Gedanke als trefflich geeignet zu aller Art contrapunctischer Verarbeitung. Nun ist aber leider der Contrapunct, wie die umfassende Beherrschung seines Wesens und seiner Formen, eine der grellsten Schattenseiten, glücklicherweise darf ich es sagen: die einzige zu Zeiten bedenklich scharf zugespitzte Achillesferse der sonst in aller Beziehung so bedeutsam hervorragenden Gestaltungsgabe des Autodidakten Goldmark. Dies bewährt sich – wie schon zum Oefteren in dieses gedankenreichen und formgewandten Tondichters Wanderungsversuchen auf dem Pfade strengpolyphonen Denkens und Arbeitens – zum so- und so vielten Male auch an eben bemerkter Stelle.

Ich will es Goldmark nicht so streng verübeln, daß er es wenigstens vorläufig und längere Zeit hindurch – bei diesem dreistimmigen Fugato-Anlaufe bewenden läßt, und – dem a tre durch eine sehr lange Reihe von Tacten treu bleibend – die erste Geige mit der vollständig, gesanglich aber bedeutend erweiterten Dacapo-Exposition des Hauptthemas eintreten läßt, unter diese nun zum vornehmsten Organe erhobene Stimme aber – in zweiter Geige und Bratsche – einen ganz freien, mit Vorausgegangenem in gar keine Beziehung mehr gestellten Contrapunct zu setzen für gut erachtet hat. Ich möchte solchem Unterlassungsacte um so minder ein Verwerfungsurtheil sprechen, als gerade diese über das strenge Fugengesetz hinausgegangene Partie des in Rede stehenden Durchführungssatzes im Ganzen zu den fließenderen gehört, die Goldmark, in gleicher Sphäre sich bewegend, bisher nach dieser bestimmten Richtung hingestellt hat. Scheint doch überhaupt Goldmark’s musikschöpferischer Geist, gleich hervorragend als Lyriker, Epiker, und, wie später gezeigt werden soll, auch als Dramatiker, am Meisten geneigt, einem fesselloseren Schalten und Walten seiner ohne Frage reichbegabten Erfinder- und Gestaltungskraft sich zu überliefern.

Goldmarks Opus 10 ist ein gleichfalls bei J. P. Gotthard in Wien gedrucktes Tonstück für gemischten Chor a capella. Es liegt demselben ein gemüthlich-launiges Gedicht von Claus Groth, »Regenlied« überschrieben, zu Grunde. Der Tondichter spiegelt hier genau die soeben umrißlich gezeichnete Stimmung des Wortpoeten wieder. Chorvereine werden das bei aller Anspruchslosigkeit doch in seiner Art bedeutende, der populär-humoresken Stimmung ganz eigenthümliche musikalische Klangseiten abgewinnende Werkchen gewiß freudig zur Hand nehmen und sich selbst wie ihrem Hörerkreise gar manchen vergnügten, und selbst an feineren wie tieferen Anregungen nicht eben dürftig bedachten Augenblick gewähren. –

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Opus 11 ist jene bei C. Schott’s Söhnen in Mainz gedruckte fünfsätzige »Suite für Clavier und Geige«, die nächst dem schon erwähnten Streichquartette (Op. 8), der später zu berührenden Ouvertüre zu Kalidasa’s Drama »Sakuntala«, und neuestens der Oper »Die Königin von Saba« – Goldmark’s Componistennamen und Weltruf wol ohne Frage auf die festesten Stützen gestellt hat, welche irgend gedacht werden können. Am Gewichtvollsten fällt für dieser Goldmark’schen »Suite« Gehalt und Bedeuten wol der thatsächliche Umstand in die Waagschale: daß in diesem Werke derjenige Standpunct, den die Kunstform der »Suite« vor und zu den Zeiten Sebastian Bach’s eingenommen, ebenso treu gewahrt ist, wie jener, den das Tonbewußtsein unserer Tage dieser specifischen Kunstform gewiesen und sichergestellt hat. Dies Amalgam zweier von einander gegensätzlich abgemarkten und dessenungeachtet leicht vereinbaren Anschaungsarten vollbringt sich aber in Goldmark’s Op. 11 keineswegs im Sinne unorganischer Nebeneinanderstellung, sondern vielmehr in jenem engster wie sinnigster Durchdringung und Vermählung. Beide Anschauungsarten decken und durchdringen einander so vollkommen in diesem Werke als Ganzen, wie in jedem Einzelngliede desselben, daß die ihm gespendete Zuerkennung der Eigenschaft eines Meisterwerkes wahrlich keine Uebertreibung, kein Zuviel an gespendetem Lobe ist, mit dessen unverholenem [!] Ausspruche sich etwa die Stimme der öffentlichen Themis in irgend ein Zwielicht blinder Parteinahme zu stellen Gefahr liefe. Auch treten Goldmark’s bis jetzt wahrgenommene Schwächen hier merkbar in den tiefsten Hintergrund. Goldmark’s Naturalismus nämlich, bisher kundgethan in so mancher leeren, oder nicht gehörig vermittelten Art der modulatorischen oder contrapunctischen Stimmenführung, sowie das zu Zeiten bedenklich Holpernde, Stolpernde, Harte und Gequälte der Satzart, erscheinen beide in fraglichem Werke ungleich seltener, und wenn, doch bedeutend gemildert und geklärt durch praktische Studien und durch deren ungleich reifer denn bisher hingestellte Fruchtentfaltung, und – was am Höchsten zu stellen – durch aus jedem Zuge hervorleuchtende Studien in Bach’s Schöpfungen, wie in den Werken seiner Vorgängerschaft und seines Epigonenstammes, als dessen selbständigste Zweige wol auf einer Seite Robert Schumann’s, aus anderer aber Joachim Raff’s hierher einschlägige Thaten anzusehen sind. Dagegen treten in dieser »Suite« Goldmark’s schon bisher mit großer Prägnanz bewährte Tonschöpfervorzüge in einem ohne allen Vergleich ungetrübteren Lichte zu Tage, als in allen bisher besprochenen Werken dieser außergewöhnlich beanlagten Musikernatur. Ich meine hiermit die Goldmark eigene frische, plastisch-stramme und stimmungs-mannigfache Melodik und Rhythmik, die viel- und spannend-gestaltige Harmonik, und das sinnige Verweben des nach der Fülle seiner Eigenarten scharf genug zugespitzten ungarischen, slavischen und orientalischen Elements in den vollen Gedankenzug, wie in jeder Sonderseite der in diesem Opus geführten Tonsprache. Ich scheide denn von diesem Meisterwerke mit jener durchweg gehobenen Stimmung, die mir schon oft das Hören wie Lesen desselben eingeflößt hat. Nun möchte ich zum Schlusse noch das von allen Formenbanden der alten »Suite« gänzlich entfesselte, ja sogar aller in Werken dieser Art gang und gäbe gewesenen Ueberschriften durchaus entbehrende, und überhaupt weit mehr mit dem Begriffe unserer heutigen »Sonate«, oder – noch richtiger – mit jenem der seit Beethoven gültigen Idee einer sogenannten »Phantasie« scharf zusammentreffende Formenwesen dieses Opus nachdrücklich betonen. Hiermit ist unter Einem bekräftigt, daß der eigentliche Schwerpunct dieses Werkes weit mehr im melodisch, harmonisch, rhythmisch und verhüllt musik-poetisch Eigenartigen liege, während das im engsten Sinne contrapunctische Element, also der eigentliche Nerv des Suitenschaffens der Vorzeit, hier blos nebenhergeht, daher nicht reichhaltiger vertreten ist, als in jeder anderen wie immer benannten, dem Gebiete des sogenannten »freien Satzes« angehörenden Tondichtung. –

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Das mit der Ziffer 12 belegte Werk Goldmark’s, bei J. N. Dunkl in Wien gedruckt, bringt »drei vierhändige Clavierstücke«. Soweit aus neben einander gelegten und gegen einander combinirten Einzelstimmen zu ersehen – denn leider haben bis jetzt die Concertvereine Wiens von diesem Opus beharrlich Umgang genommen und ein anderer Anlaß, dieses Werk hörend in mich aufnehmen zu können, ist mir bis zur Stunde verwehrt geblieben – weht ein frischer, unangekränkelt heiterer Geist aus diesen viel des Anziehenden in allem reinmusikalischen Anbetrachte bietenden Tonstücken. Ich wenigstens las in und aus diesem Opus vorwiegend graziösen Humor; und möchte es dann nach diesem .Hinblicke besonders clavierspielenden Damen, deren Intelligenz zu gründlichem Auffassen und Durchfühlen dieser soeben näher bezeichneten Stimmungsphase vorgedrungen, mit aller Wärme empfohlen wissen. –

Der mir vorliegenden Reihe Goldmark’scher Druckwerke weiter folgend, treffe ich aus einen bei J. P. Gotthard in Wien erschienenen »Männerchor« welchem Robert Burns’ bekannte Dichtung »Ein armer Mann, ein braver Mann« – mit dem drastisch-vieldeutigen Refrain: »trotz alledem und alledem« – zu Grunde liegt. Das Werk, ohne Opuszahl veröffentlicht, bürgt, dem Wortpoëme genau entsprechend, in seinem engen Rahmen einen mächtig zündenden, kerndeutschen Humor. Es reiht sich – der thematischen Anlage nach – entschieden dem Besten, weil Gedrungensten und Kernigsten an, was seit Längerem für Männergesang geschrieben worden. Auch bezüglich stimm- und chorgemäßer Schreibart verdient das Werk unumschränktes Lob und nachdrückliche Empfehlung an alle mit solcher Art von Musik in erster Linie verkehrenden Genossenschaften. Nur Schade, daß der Componist hier zur strophisch gleichlautenden Behandlungsart des Textes gegriffen hat, während doch jede Strophe dieses letzteren, obgleich schliesslich mit der ersten in einem und demselben Charakterverbunde zusammentreffend, nichtsdestoweniger in wesentlich von einander verschiedenen, daher denn auch musikalisch scharf von einander zu trennenden Stimmungskreisen sich bewegt. Es ist dies ein Charaktermerkmal, das wohl keiner aufmerksamen Lektüre des äußerst populär gewordenen Burns’schen Gedichtes je so leicht entgehen kann. Warum ist nun Goldmark’s sonst so reger Fein-, ja Tiefsinn der Gestaltungsgabe jenem so offen daliegenden Anlasse zu mannichfachem Entfalten dieser letzteren so beharrlich ans dem Wege gegangen? –

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Opus 13 umfaßt die durch meine Feder in d. Bl. seinerzeit eingehend besprochene Ouverture zu Kalidasa’s Drama: »Sakuntala«. Ich wüßte dem damals gefällten und motivirten Urtheile nur die hocherfreuende, aus eigenem Erfahren geschöpfte Bemerkung beizufügen: daß sich dieses fein und tief sowohl in die Absichten des Wortdichters, als in jede Seite musikalisch blütenfrischer und ergiebiger Farbengebung eingelebte Werk, je öfter aufgeführt, zusehends fester in der Gunst und liebenden Hingabe aller intelligenten Hörerschaft stellt, daher ohne Scheu unter die Meisterwerke unserer Gegenwart gereiht und dasselbe Prognostikon ihr zuversichtlich für eine lange Zukunft gestellt werden kann. –

Zwischen dem eben angezeigten Werke und den als Opus 18 bei J. P. Gotthard in Wien verlegten »Zwölf Gesängen für eine Singstimme mit begleitendem Claviere« liegt wieder ein leerer Raum. Ich bin daher zu diesem beträchtlich weiten Sprunge durch Außenverhältnisse genöthigt, die schon oft im Componisten- und Verlegerleben vorgekommen. –

Jenes zuvor erwähnte Liederwerk Op. 18 umfaßt in seinem ersten Hefte drei Gesänge für eine tiefe Frauenstimme, im zweiten vier Lieder für eine hohe Männerkehle, endlich im dritten und letzten fünf Weisen für ein mittleres Frauenorgan. Die Lieder sind nämlich dem Stimmtimbre der mit ihrer Widmung bedachten Künstlerpersönlichkeiten angepaßt. So gehört denn das erste Heft Frau Caroline Gomperz-Bettelheim, der einstigen Wiener Hofopernsängerin. Das zweite ist Hrn. Gustav Walter, dem zur Stunde noch wirkenden Hofopern-, Hofcapellen- und Kammersänger Wiens gewidmet. Das Titelblatt des dritten und letzten Heftes endlich ist mit der Widmung an das einst als Liedersängerin von gewissen Seiten her nicht wenig gefeierte Frl. Helene Magnus überschrieben.

Das erste Heft bemusikt ausschließend Klaus Groth’sche Dichtungen. Im zweiten wird Chamisso, Byron und Geibel tönend commentirt. Das Schlußheft vertritt theils Klaus Groth in drei Gesängen, während der vierte Gesang einem dichterischen Anonymus huldigt, und das den ganzen Cyklus beschließende Lied in eine altdeutsche Weise sich tönend eingelebt hat. Man sieht, für Stoffesmannigfalt ist hier reichlich gesorgt. –

Zur Würdigung des diesem Opus zunächststehenden übergehen wollend, werde ich unter dem mir vorliegenden Convolute Goldmark’scher Tonwerke noch zwei dünne Hefte gewahr. Beide stammen aus Fr. Kistner’s Verlage, und bringen vierstimmige Männerchöre. Beide sind dem leider viel zu früh verstorbenen Regenerator des Wiener Musiklebens, Johann .Herbeck, gewidmet.

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Der erste dieser Chöre, mit Op. 15 beziffert, ist von einem Claviere und Hörnerquartett begleitet, und hat zur Grundlage Eichendorf’s »Frühlingsnetz« überschriebene Dichtung. – Der zweite Chor, als Opus 16 gezeichnet, beleuchtet musikalisch das allbekannte Goethe’sche Poëm: »Meeresstille und glückliche Fahrt«. Derselbe beschäftigt gleichfalls einen vierstimmigen Männerchor, beschränkt sich aber, anlangend den begleitenden Theil, lediglich auf vier Hörner. – Ich füge diesen Angaben berichtigend bei: daß die an der ziffermäßig fortschreitenden Reihenfolge Goldmark’scher Werke zuvor bemerkten Lücken sich in dem jetzt in das Auge zu fassenden Nexus derselben nur auf die bis zur Stunde noch immer fehlenden Opuszahlen 14 und 17 beschränken. –

(Fortsetzung folgt).