Das Streichquintett op. 9 (Fortsetzung 2)

Der zweite Satz (Andante con moto Edur 4/4) fesselt vornehmlich durch sein in wohlthuende, vielsagende Breite gezogenes Melodienleben, als dessen geistig-seelischen Typus ich etwa im Allgemeinen Askese oder speciell Gebetwesen, also: tiefen Ernst der Anlage und Ausführung nachdrücklich hervorheben möchte. Es hebt zwar das Hauptthema dieses Tonstückes etwas alltäglich an und könnte möglicherweise – seinen ersten Schritten nach – einen fahlen Abklatsch der Preghiera Alessandro Stradella’s aus des Allerweltsmusikers Flotow gleichnamiger Oper argwöhnen lassen. Indeß versteht es Goldmark, diesem für einseitige Reminiscenzenjäger klippenhaften Anlaufe gar bald eine andere Wendung zu geben, die da klare Zeugenschaft ablegt von einem ungleich tiefergegangenen Eigenselbst und von ganz anderen Bildungsvorausgängen, als es jene des Stradellavorfüßlers und Verseichtigers je gewesen und jemals sein konnten. Daß der Hauptgedanke dieses getragenen Mittelsatzes eines strengen, altherkömmlicher Gewohnheit treu entsprechenden eigentlichen Abschlusses auf der Tonica oder Dominante entbehrt, sondern in das Unbestimmbare fortströmt: möchte ich ihm eher lobend als bemängelnd deuten. Ungleich bedenklicher stimmt mich aber jenes langgesponnene Sequenzengewebe, das eben derselbe nirgends eigentlich abgeschlossene Gedanke von jener Stelle angefangen festhält, wo er nach Cismoll überzugehen sich anschickt, diese eben genannte Tonart aber nur streift und solcher eigentlich nur flüchtigen Modulation einen allzu gedehnten sogenannten Kometenschweif leerer, rosalienhafter Sequenzen anheftet. (Siehe S. 23, letztes System, vorletzter Tact, bis S. Tact 2 des letzten Systems dieser Seite). Hier beginnt wieder eine neue, gleich der ersten langathmige und höchst eigenthümlich rhythmisirte Cantilene, vom ersten Violoncell geführt und von der zweiten Geige und Bratsche allein begleitet, sich geltend zu machen und nach Oasenart den Hörer und Leser mit dem unmittelbar vorausgegangenen langen Gerede auszusöhnen. Dieses Thema bildet mit seinen scharf einschneidenden, an ungarischen oder slawischen, oder auch an hebräischen Volksweisentypus lebhaft gemahnenden Kanten einen klappenden Gegensatz zu dem entschieden getragenen Charakter des ersten Hauptgedankens.

Auch bezüglich des Seelenstimmungsgepräges stellen sich beide Themen spannend gegensätzlich zu einander. Aus ersterem tönt uns nämlich die reine Gebetweise in breiter, höchst faßlicher, streng abgegrenzter Liedform, oder wenn man will – Choralgestalt entgegen. Das zweite Thema athmet hingegen tiefe Schwermuth, Gedrücktheit oder auch mächtig erregte Sehnsucht aus. Es hüllt sich demzufolge in eine minder durchsichtige, räthselhaftere Gewandung. Es paßt daher weniger unter die Kategorie des Liedes, noch unter jene des Chorals. Am richtigsten wäre es wohl mit den zu Begriffen und Kategorien krystallisirten Worten: elegienhafter Dithyrambus oder mit dem umgekehrten Terminus: dithyrambenartige Elegie bezeichnet.

Schade, daß der Durchführungstheil dieses getragenen Quintettmittelsatzes mit seiner Ciselirarbeit, seinem absichtlichen Hinarbeiten auf ganz vereinzelt dastehende, lediglich nach außenhin wirksame sogenannte Pikanterien oder Tonspielereien. den herrlichen Eindruck des Bisherigen merkbar in den Schatten stellt und zu der Bemerkung führt: daß Dasjenige, was man Contrapunctiren nennt, vor Allem angeboren, dann aber auch gründlichst geübt sein wolle: und zwar nicht blos aus Umwegen eines mühseligen Selbstunterrichtes, sondern einzig und allein in gründlichster Schule und speciell unter die Obhut eines ebenso streng-gewissenhaften als freidenkenden Lehrers gestellt. Es sind dies Factoren, deren Vermissen in so manchen – besonders früheren – leider aber auch späteren, sonst in aller anderen Art ungleich reiferen Werken Goldmark’s und speciell auch hier an dieser Stelle – sehr schwer in das Gewicht fällt. Die letzte Partiturseite dieses Andante con moto wirkt hinwieder fesselnd durch ein gewisses, der Schlußstelle eingelebtes Hoch- und Tiefpathos. Dieses letztere spiegelt zwar, in des Wortes weitestem Sinne, Eindruck wieder, die deutlich wahrnehmbar aus so mancher kirchlich-oratorischen That Mendelssohn’s herübergenommen sind. Hiervon übrigens ganz abgesehen ist das im Verlaufe dieses ganzen Satzes zum Durchbruche gekommene und in dessen Hauptthemen fortwährend pulsirende Ton- und Stimmungsleben auch merkbar angeweht vom Geisteshauche und ebenso offenkundig beherscht [!] vom Formentypus älterer Kirchenmusik. Insbesondere treibt hier der Geist und die Form gewisser altkatholischer geistlicher Gesänge selbstständige Blüthen und Früchte und führt uns häufig Weisen solcher Art und Zeit in die Rückerinnerung. Gleichwohl vollbringt sich dieser Nachgefühls- und Nachgestaltungsact hier durchaus nicht im Sinne einer leeren, blos äußerlichen Reminiscenz. Er ist vielmehr Zug für Zug als Ergebnis sinniger, mit richtigem Anempfinden enggepaarter Eigenart anzusehen und würdigend aufzufassen.

Um indeß ganz wahr zu sein, darf ich, ehe von diesem Satze scheidend, noch ein sich mir aufdrängendes Bedenken nicht unterdrücken. Es betrifft dieses eine hier stellenweise kundgegebene schrullenhafte Schreibart des Componisten. Er läßt nämlich ohne den mindesten innerlich nöthigen Grund und Zweck, ja selbst ohne die entfernteste Spur eines etwa sich ergebenden Umgestaltens der äußeren und inneren Wirkung seines eben besprochenen Theilganzen, im Verlaufe desselben häufig die tiefste Saite des zweiten Violoncells, also die C-Saite auf H herabstimmen und nach Laune wieder in ihre normale Stimmung zurückmünden. Ueber das Warum und Wozu dieses Aufenthaltes hätte uns doch wahrlich der Componist die bei einem sonst scharfen Logiker seiner Art gewiß spruchberechtigte, weil grundhaltige Antwort nicht so ganz schuldig bleiben sollen. –

Dem dritten Sätze dieses Quintettes gegenüber (Adur, 3/4 Tact, Allegro molto) sträubt sich mein Gefühl und Gewissen wider jedes analytische Verfahren. Ich würde vielmehr letzteres, träte es mir von anderer Seite her auf dieses Tonstück angewandt, entgegen, einem leeren Zerfasernwollen des hier so regsame Pulse schwingenden Humors gleichstellen. Da ist ja ein Prickeln und Schwirren, wie es wohl nur die aus Beethoven’schen Stützen zur Geisteshöhe und Tiefe der frischen, lebensfülligen unmittelbaren Geisteshöhe und Tiefe der frischen, lebensfülligen unmittelbaren Gegenwart theils emporgeklommene, theils in das Geäder ihrer feinsten wie tiefsten Geistes- und Seelenstimmungsbeziehungen gründlich eingedrungene Art der Weltanschauung umfassend musikalisch hätte verwirklichen können. Vollkommener Guß und Fluß des Formenlebens, reizvollem Dufte geistig-seelischen Wesens enggepaart, findet sich hier in einem dem Willen unserer Zeit durchaus fügsamen Ebenbilde hingestellt. Auch vom rein formellen Standpunkte ausgehend, ist hier anerkennungsvoll zu bemerken, daß das in Rede stehende Tonstück in Einem fortspielt: also nicht – nach altherkömmlicher Menuett- oder selbst Scherzoart – in viele und verschiedene von einander abgesonderte Einzelntheile atomistisch zerlegt wird; daher auch nach diesem Einblicke als ein glücklicher Erweiterungsversuch dieser bestimmten Satzesform anzusehen ist. Schade nur, daß gegen den Schluß hin – man sehe von Partiturseite 56, 3tem System begonnen bis zum gänzlichen Satzesende auf Seite 59, System 3 – die bis bisher geführte Tonsprache in leeres Tonspiel meist gründlich homophoner Färbung entartet und solcher Gestalt den zündenden Eindruck des unmittelbar Vorausgegangenen merkbar abschwächt. –

Ueber das Charakter- und Stimmungsgepräge der Einleitung zum Schlußsatze dieses Quintettes habe ich schon oben im Allgemeinen gesprochen. Der eigentliche Hauptgedanke des Schlußsatzes oder vielmehr: die den letzteren anbahnende Hauptfigur, liegt keimend schon in einem der letzten Tacte des Vorspiels angedeutet. Das geistige Grundgepräge des Thema’s ist spannend gegensätzlich zum Charakter der Einleitung sich stellend – entschiedenste Humoreske, ich möchte sagen: prickelnde Grazie. Es wird uns hier ein »Saltarello« urwüchsigster Gestalt hingestellt. Dicht an diese Wiederholung des Thema’s in der Oberdominante schließt sich – allerdings etwas vorschnell, weil dem Berufe des um Vieles später erst spruchberechtigten zweiten Hauptsatztheiles einigermaßen vorgreifend – eine Art thematischer Durchführung zu deren Lobe indeß zu sagen ist, daß sie sich lebensvoll und spannend genug vollbringt. Die Grundstoffe oder Hauptmomente dieser letzteren ruhen vor Allem in jener das Thema einleitenden Figur der ersten Geige. Diese Figur taucht nun imitatorisch bald in diesem, bald in jenem Einzelngliede des fünfstimmigen Organismus mit schlagend humoresker Wirkung aus. Der weitere Kernstamm dieser vor altherkömmlich-gesetzlicher Zeit sich Bahn ebnenden thematischen Durchführung findet sich in einer auf gleiche Art bald in dieser bald in jener Stimmengegend, vornehmlich aber in erster und zweiter Geige, zu selbstständigem Durchbruche kommenden diatonisch aufsteigenden Triolenfigur, zu der die Bratsche und beide Violoncelle ein gleich anziehendes, in All und Jedem den oberwähnten Saltarellocharakter festhaltendes contrapunctisches Tonspiel vollführen und nur durch einzelne länger getragene Töne ein wieder vom Geiste wahren Humors angehauchtes Gegenbild vernehmen lassen, dem offenbar die Aufgabe gestellt ist, das sogenannte Scheinpathos durch getreues Abzeichnen seines eigenen Conterfei’s zu verhöhnen. Solchergestalt deute ich mir wenigstens die auf Seite 6, System 2, Tact 2, bis Seite 62, System 2, Tact 2 nachzulesende Stelle. –

(Fortsetzung folgt).